Der deutsch-jüdische Architekt Gustav Kasel

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Der aus Trier stammende sozialdemokratische jüdische Architekt Gustav Kasel entwarf die Rekonstruktion des Karl-Marx-Hauses und hatte auch die Bauleitung inne. Während der Nazizeit emigrierte er nach Palästina. 1950 kehrte Kasel kurz in seine Heimatstadt zurück…

Von Franz-Josef Schmit
Zuerst erschienen in: Trierischer Volksfreund, 14./15.10.2017

Als Gustav Kasel im Sommer 1950 für einige Wochen zusammen mit seiner Frau Alice in Trier weilte, ging für ihn ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung. Nach der Besichtigung des Karl-Marx-Hauses schrieb er ins Gästebuch: „Als trierischer Architekt und Rekonstrukteur des Geburtshauses infolge der Rassentheorie des wahnsinnigen Hitler nach Palästina ausgewandert, kam ich nach 17-jähriger Abwesenheit in das zerstörte Trier auf Besuch zurück. Ich fand zur Genugtuung das zerstörte Haus wiederhergestellt vor und hoffe, dass es in Bälde zum Andenken an Triers größten Sohn als Museum Jahrhunderte überdauern wird.“ Eigentlich wollte Kasel schon früher nach Trier kommen, um die Eröffnung des Karl-Marx-Museums am 5. Mai 1947 – dem 129. Geburtstag von Marx – mitzuerleben. Daran hatte ihn vor allem ein von der französischen Militärregierung nicht erteiltes Visum gehindert.

Familie Kasel, Foto: privat

Kasel verließ im November 1933 mit seiner Frau und den drei in Trier geborenen Töchtern Lieselotte, Hannelore Betty und Ruth Trier und betrat im Dezember in Haifa erstmals Boden im „Gelobten Land“ – ursprünglich wollte man in die Schweiz oder USA emigrieren. Mit einer kleinen Zeitungsanzeige hatte sich Kasel von seinen Freunden verabschiedet. Direkt auf diesen Abschiedsgruß bezugnehmend, war im Trierer Nationalblatt zu lesen: „…und kein Hahn hätte mehr nach dem Mephisto-Jidden gekräht, wenn nicht der „Volksfreund“ Veranlassung gehabt hätte, diesem fiesen Moskowiter zum Abschied noch ein Denkmal in Form einer bezahlten Kleinanzeige zu setzen. Mit den Fakten nahmen es die Nationalsozialisten nicht so genau und unterstellten auch, Kasel habe nach Moskau ausreisen wollen: „Das nötige Kleingeld wird der 400 000-Mark-Umbau in der Brückenstraße schon eingebracht haben.“ Korrekt müsste von „Reichsmark“ (1924-1948) gesprochen werden, und die Umbaukosten des Hauses, das die SPD 1928 erworben hatte, lagen bei etwas über 200 000 RM. Diffamierend ist auch die Nennung Moskaus als Exilort.

Architekt Kasel hatte 1932 am Moskauer Marx-Engels-Institut Vorträge zur Rekonstruktion des Geburtshauses gehalten und erste Ergebnisse seiner aufschlussreichen Marx-Familienforschungen vorgetragen. Im Gegenzug dieser privat finanzierten Reise – die Moskauer konnten ihm nicht einmal eine Unterkunft anbieten – erhoffte sich Kasel Dokumente, Bücher und Plakate für das geplante Museum in Trier, das wegen der Besetzung und Beschlagnahmung des Hauses durch die NSDAP im Frühjahr 1933 nicht mehr – wie ursprünglich zum 50. Todestag von Marx am 14. März 1933 geplant – eröffnet werden konnte. Schon vor 1933 hatten die Trierer Nationalsozialisten dem stadtbekannten SPD-Mann und engagierten Karnevalisten heftig zugesetzt. Kasel, den die Nazis wegen dessen gescheiterter, aber mit Elan betriebenen Stadtratskandidatur 1929 und seinem gewerkschaftlichen Engagement als „Vollblut-Idioten“ bezeichneten, hatte sich ab 1928 intensiv mit der anspruchsvollen Rekonstruktionsaufgabe des 1727 erbauten Trierer Bürgerhauses befasst.

Die Umbauarbeiten begannen 1930 und waren im Juli 1931 abgeschlossen. Kasel sah sich immer stärkeren Einschüchterungsversuchen durch die NSDAP auch bei privaten Bauvorhaben ausgesetzt. Drei völkisch gestimmte Architekten klagten gegen den „Juden-Architekten“. Kasel gewann den Prozess in Berlin und resümierte: „Meine Ehre wurde gerettet, aber das Verfahren kostete mich 10 000 RM.“ Die Bürofenster des Architekten wurden wiederholt mit Plakaten verklebt, mit Farbe beschmiert, SA-Leute bezogen Posten, um Kunden abzuhalten. Ende März 1933 wurde Kasel zusammen mit weiteren Trierer Juden für einige Tage in „Schutzhaft“ genommen. Während dieser Zeit erhielt Kasels Frau einen Anruf eines Unbekannten, ihr Mann habe sich in der Zelle erhängt.

Ein besonderes Ärgernis in den Augen der Trierer Nazis war das soziale Wohnbau-Projekt Zeughausstraße 27/28-Kloschinskystraße 99/100, das die Baugenossenschaft Trier-Nord zur Behebung der akuten Wohnungsnot initiiert und an Gustav Kasel vergeben hatte – von ihm stammte der kostengünstigste Plan. Kasel hatte bei dem Frankfurter Architekten Ernst May den Bauhaus-Stil studiert. Der moderne, klare Stil der im Juli 1932 fertiggestellten Häuser mit Flachdächern, weißem glatten Putz und zur Straße abgerundeten Ecken missfiel den Nazis – für sie war das reiner „Kulturbolschewismus“, und schon zwei Jahre nach der Schlüsselübergabe musste die Baugenossenschaft auf Regierungsanweisung die „marxistischen Flachdächer in deutsche Dächer“ umwandeln.

Das von Kasel entworfene Haus in der Zeughausstraßen, Foto: privat

Biografisches über Gustav Kasel

Gustav Kasel, 1883 in Trier geboren, verließ nach der Mittleren Reife die Schule und wurde Maurermeister. Erste Einblicke in den Architektenberuf erhielt er im Trierer Büro von Peter Marx. 1904 ist Kasel Gasthörer an der Technischen Hochschule Darmstadt. Lehr- und Wanderjahre führen ihn nach Leipzig, Breslau und Bremen. Zwischenzeitlich hatte er 1906 seinen Militärdienst in Darmstadt abgeleistet, wo zeitweise auch sein Bruder Josef und seine Zwillingsschwester Emma studierten.

Seit 1912 arbeitete Kasel in Trier als selbstständiger Architekt. Nach dem Weltkrieg schloss er sich mit J. Prior zusammen, mit Büro in der Paulinstraße 26. Die Praxisgemeinschaft befasste sich mit zahlreichen Projekten in Trier und der Eifel, wobei auf Kasel vor allem die Entwürfe zurückgehen. In Wittlich baute Kasel den Weinkeller und das große Ökonomiegebäude des Weingutes Albertz. Mit der Bauausführung wurden grundsätzlich heimische Betriebe beauftragt. Dokumentiert sind Kasels Arbeiten, zu denen auch Entwürfe für den Neubau der Reichsbahndirektion, dem späteren Sitz der Gestapo Trier, und Umgestaltung des Porta-Nigra-Platzes zählen, in einem Band, der heute in der Stadtbibliothek Trier aufbewahrt wird. Im Stadtarchiv befinden sich zahlreiche großformatige Zeichnungen und Pläne, die Kasel für das Karl Marx-Haus-Projekt angefertigt und im Sommer 1950 dem Archiv überlassen hatte – eine öffentliche Präsentation dieser beeindruckenden Vorarbeiten im Gedenkjahr 2018 zum 200. Geburtstag von Marx wäre sicher eine Bereicherung der geplanten Ausstellungen.

Im Jahr 1920 heiratet Kasel die älteste Tochter des Wittlicher Textilhändlers Josef Bender, in dessen Geschäft am Marktplatz überwiegend Kunden vom Land einkaufen. Für seine Schwiegereltern entwarf Kasel zahlreiche Möbelstücke. Als Josef Bender und sein Sohn Paul 1938 Wittlich zunächst Richtung Köln verlassen müssen, wird das Mobiliar überwiegend verschleudert und zur Finanzierung der späteren Überfahrt nach Palästina genutzt. Kasels Schwiegervater stirbt schon 1941, sein Schwager Paul kann sich nur mühsam als Taxifahrer durchschlagen. In Jerusalem findet Kasel bei der britischen Mandatsregierung Arbeit in seinem Beruf. Nach Trier berichtet er vom Neuanfang unter schwierigen Bedingungen: „Das Geld ist knapp, der Lebensunterhalt aber teuer. Das ist eine Folge des jüdisch-arabischen Krieges, den wir gottlob alle gesund überstanden haben. Aber es war eine verdammt schwere Zeit!… Ich habe in vier Wochen 22 kg abgenommen und einen Herzschaden davongetragen. Also, ein alter ‚Heuschreck‘, der nicht mehr hüpfen kann! Unser Haus ist zusammengeschossen worden, doch wir haben wieder eine Vierzimmerwohnung.“

In seiner freien Zeit durchstreift Kasel die alten pittoresken Viertel Jerusalems, für deren Sanierung er – inzwischen Stadtbaumeister – zuständig ist, und fertigt Bleistiftzeichnungen an, die sogar in einer Ausstellung mit dem Titel „Wie die andere Hälfte lebt“ gezeigt werden. Kasel wird in einem Beitrag zur Ausstellung als „Prophet der Slums“ bezeichnet. „Vom Standpunkt der Zeichenkunst dokumentieren die Skizzen eine nahezu unheimliche Virtuosität. Ihr größtes Verdienst allerdings ist dokumentarischer Natur. Noch nie zuvor ist einer dieser Slums im Jerusalemer Jemeniten-Viertel so wirklichkeitsgetreu abgebildet worden.“ Leider müssen diese Arbeiten Kasels als verschollen gelten – kein relevantes Museum in Israel konnte bislang zum Verbleib der Kasel-Zeichnungen etwas sagen.

Gustav Kasel stirbt am 5. Januar 1955 an einer Herzembolie, wie seine Frau der früheren Prokuristin Irmina Dehen in Konz brieflich mitteilte.

Bild oben: © Emil-Frank-Institut