Bittersüße Bilanz

1
40

An der Oberfläche erfolgreich, sind wir deutsch-russischen Juden in Wirklichkeit als Gemeinschaft gescheitert…

Von Michael Hasin
[Горько-сладкий баланс]

Schwierige Zeiten, Zeiten des Umbruchs, sind genau die richtigen Zeiten, um innezuhalten, zurückzublicken und Bilanz zu ziehen. Konkret geht es mir dabei um die letzten zweieinhalb Jahrzehnte in der Geschichte der Juden in Deutschland, oder – richtiger – nicht aller Juden, sondern einer Gruppe, die aber in der Bundesrepublik die überwältigende Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft stellt (ca. 90 %), und die mir viel bedeutet: die Gruppe der postsowjetischen, der – im weiteren Sinne – russischen Juden. Ich möchte schreiben über diese Menschen, die ich gut kenne und die mir oft unbegreiflich sind, auf die ich mal stolz bin und für die ich mich mal schäme, die ich liebe und hasse und an denen ich verzweifle. Und zu denen auch ich gehöre. Meine Menschen.

Das Fazit vorweg: an der Oberfläche scheinbar erfolgreich sozial aufgestiegen, sind wir russischen Juden tatsächlich als Gemeinschaft total gescheitert. Eine bittersüße Bilanz. Leider.

Was ist also aus uns geworden in den letzten fünfundzwanzig Jahren? Einerseits: Verallgemeinern ist immer schwierig. Zwei Millionen russischsprachige Juden gibt es weltweit, allein in Deutschland sind es mehr als zweihunderttausend Menschen, die nach 1990 aus der (ehemaligen) Sowjetunion über die „jüdische Linie“ kamen. Zweihunderttausend Individuen, keine und keiner ganz genau wie der andere: wir sind Schriftstellerinnen und Näherinnen, ukrainische Patrioten und Putinfreunde, Kleinkriminelle und Wurstfabrikanten, Antikommunisten und KGB-Kader, Neoorthodoxe und „messianische Juden“, Arbeitslose und Autohändler, Psychiater und Paranoiker, Eiskunstläuferinnen und Übergewichtige.

Jeder ist anders, natürlich. Andererseits: bei aller Verschiedenheit gibt es viel Gemeinsames. Relativ sowohl zu anderen Juden als auch in der Diaspora zu den ethnischen Mehrheiten sind wir – statistisch bestätigt – im Durchschnitt deutlich ärmer, gebildeter, irreligiöser und individualistischer (d.h. kleinere Familien, weniger Geburten). Die große Mehrheit der jungen Einwanderer in Deutschland stammt aus einem Milieu der Deklassierten: die Eltern, regelmäßig beim örtlichen Parteichef zu Gast, kennen jetzt nur noch den Sachbearbeiter vom Sozialamt, und dem Großvater, dem früher als Professor alle zuhörten, hört nicht mal mehr der Kollege zu beim Schichtwechsel an der Toilettentür im McDonalds. Fast jeder von uns hat eine Mutter, die irgendwann als Putzfrau geschuftet hat, einen Onkel, der am Wochenende schwarz arbeitet und Wände weiß streicht, einen Bruder, der Langzeitarbeitsloser ist. Wer als junger Mensch in einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie aufgewachsen ist, der kommt von unten.

Und trotzdem, die meisten jungen Leute aus der sog. 1½ und 2. Generation sind aus Transferleistungsempfängern zu braven Steuerzahlern mit Studium (gerne Techniker oder Mediziner) geworden. Zu Rädchen im System, die nicht ausfallen und die nicht auffallen. Auch wenn nur wenige Millennials es zum Millionär gebracht haben, als Individuen waren die meisten von uns „erfolgreich“. Vorausgesetzt natürlich die Definition von Erfolg ist Bausparvertrag plus sauberes Führungszeugnis.

Blickt man aber hinter diese Fassade des sozialen Aufstiegs, sieht man etwas völlig anderes: eine kaputte Community. Eine Gemeinschaft ohne Seele.

Es fehlt uns schon an Solidarität untereinander. Wir stellen wie bereits erwähnt ca. neunzig Prozent aller jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland und 20 Prozent aller Bürger (!) in Israel und es ist uns bis heute nicht gelungen, eine gute Lösung für diejenigen zu finden, bei denen nur der Vater jüdisch ist und denen daher die Mitgliedschaft in den Gemeinden oder ein Begräbnis auf einem jüdischen Friedhof meist verwehrt ist. Für Menschen, deren Schicksal sich in nichts von dem derer unterscheidet, die die traditionellen matrilinearen Kriterien erfüllen, für unsere Brüder. Ein Armutszeugnis. In der Theorie müssten wir eine einflussreiche soziale Gruppe sein. In der Praxis sind wir ein Witz. Nicht überspitzt gesagt: wir sind Jeder-für-sich-Juden.

Wir haben dazu auch kein Selbstbewusstsein. Wo sind wir Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in den jüdischen Institutionen? Unsere Stimme in Medien, Kultur oder Wissenschaft ist so leise, dass nicht einmal diejenigen sie hören können, die das Gras wachsen hören können. Und wenn russische Juden doch etwas sagen, dann ist es schön brav, konform und korrekt. Ob im Privatleben oder in der Öffentlichkeit, überall gilt die Devise: Hauptsache nicht anecken, nicht provozieren. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass wir in unserer Identität extrem unsicher sind: keine richtigen Deutschen, keine richtigen Russen und – wenn wir ehrlich sind – eigentlich auch keine richtigen Juden oder hat es eher etwas damit zu tun, dass Konformismus in der Sowjetunion im buchstäblichen Sinn, jedenfalls zeitweise, überlebensnotwendig war. Wie auch immer, heute ist der typische russische Jude ein Mensch mit hängenden Schultern und gebeugter Haltung. Ein Duckmäuser-Jude.

Auch sind wir ohne lebendige, gehaltvolle jüdische Kultur. Es gibt kein soziales Leben, das uns mit dem Rest des jüdischen Volkes verbinden würde, keine Riten und Traditionen, keine Feste, keine beruflichen Netzwerke, keine Sportvereine oder politischen Gruppen, keine Medien, keine Debatten, ja nicht einmal Orte der Begegnung wie Cafés oder Festivals. Das heißt: alle diese Dinge gibt es natürlich, aber welchen winzigen Bruchteil von uns erreichen sie? In Deutschland, geben die Gemeinden gerne Vorstellungen ohne Publikum; und wo es doch ein Publikum gibt, sind es meist nicht wir jungen russischen Juden. 60 Prozent der Gemeindemitglieder sind über 50. 60 Prozent! Während die Älteren Einwanderer in den Gemeinden zu Hochkultur-Events und sowjetischen Festen zusammenfinden, begegnen wir Millennials einander nur noch im Internet. Wenn überhaupt.

Keine Solidarität, kein Selbstbewusstsein, keine lebendige gemeinsame jüdische Kultur. Das ist die Bilanz. Am meisten schmerzt mich aber noch etwas anderes: unsere kollektive Außenseiterrolle. Wir sind die Pariah-Juden. Die Juden unter den Juden. In der alten Heimat Fremde gewesen, sind wir in der jüdischen Welt Fremde geblieben. Nicht einfach nur fremd, sondern in symbolischer Hinsicht auch inexistent, unsichtbar: die kurvenreiche Geschichte der sowjetischen Juden hat keinen Platz in der jüdischen Erinnerungskultur gefunden. Ich meine Dinge wie den kommunistischen Traum, die Repressionen (überproportional viele Täter und Opfer waren Juden), den Holocaust in der Sowjetunion und den Krieg, die Refusenik-Bewegung, die Dissidenten- und Undergroundszene (nicht exklusiv jüdisch, aber stark von Juden geprägt). Eine sehr ambivalente Geschichte, die nicht in die üblichen Erinnerungsraster der jüdischen Community passt: sicher gab es Antisemitismus in der UdSSR, aber es war die rote Armee die die Juden vor der sicheren Vernichtung durch die Nazis gerettet hat; trotz antijüdischer Diskriminierung im Bildungssektor und Arbeitsleben sind sehr viele ihren Weg gegangen, haben Karriere gemacht; ja, die kommunistische Politik hat die jüdische Kultur und Tradition zerstört, aber gerade russische Juden haben mit Enthusiasmus an dieses Projekt geglaubt. Und nicht nur unsere Geschichte ist unsichtbar. Auch was die Gegenwart angeht: wie viele Juden und Nichtjuden sehen uns so, wie wir sind, als Teil der jüdischen Story? So wie wir sind! Weil wir nicht so sind, wie sie uns gerne hätten (die meisten von uns sind weder konservativ-religiös noch linksliberal-spirituell, Antisemitismus-Opfer oder Multikulti-Vorkämpfer und vor allem eben nicht jüdisch-pur)?

So viel zu Vergangenheit und Gegenwart. Was ist nun mit unserer Zukunft? Bisher lautet  die eigentliche, die traurige Antwort auf die Frage, wer wir russischen Juden sind: es gibt kein „wir“, sondern nur zwei Millionen geknickte Ichs. Jeder-für-sich-Juden, Duckmäuser-Juden, Pariah-Juden. Wird es in 25 Jahren eine bessere Antwort geben?

Was muss geschehen? Oder muss nichts geschehen, weil ich Unrecht habe, halluziniere, weil alles prima ist? Ich glaube jedenfalls, dass wir ein ungeheures Potential und eine unvergleichliche Perspektive in die jüdische Gemeinschaft und in die Gesellschaften der Diaspora einbringen könnten. Fragt sich nur wie!? Mich würde freuen, wenn dieser Text zu einer Debatte darüber anregen kann.

Michael Hasin, 1989 geboren in der ehemaligen SU (Estland), kam mit drei Jahren nach Deutschland. Er ist Jurist und freier Journalist und lebt seit Januar 2017 in Israel.

1 Kommentar

  1. Zum Beitrag von M. Hasin „Bittersüße Bilanz“:

    Herr Hasin kommt in seinem brillant geschriebenem Beitrag, in dem höchst interessante philosophische und psychologische Fragen aufgeworfen werden, zu folgenden Schlüssen:
    1. Die Juden (insbesondere die ältere Generation) bilden keine Gemeinschaft,
    sind areligiös, gebildet, ohne klare Weltauffassung und politisch zerspalten.
    2. Sie werden nicht (oder nicht immer) als eine kommunikative, soziale Einheit aufgefasst.
    3. Vielen fehlt es an Identitätsgefühl.
    4. Sie werden in sehr geringem Maße als soziale und professionell wichtige Kraft aufgefasst.
    In diesen Punkten kann man dem Verfasser zweifelsohne Recht geben.

    Ich möchte hier nun ein wichtiges Problem betrachten: Wie kann man diese Lage ändern? Dazu einige Vorschläge:

    Den Juden objektiv und ausführlich ihre Kulturgeschichte (auf diese oder andere Weise) näherbringen. Ein schwieriges, aber doch lösbares Problem.
    2)Ihnen die Möglichkeit geben, ernsthaft zu überlegen, welchen Weg sie wählen können: Assimilation, Integration, Leben in Israel oder der Diaspora, gläubig sein oder areligiös bleiben.
    3) Zeigen, wo sie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten effektiv einbringen können, in fachlicher Arbeit, in der Wissenschaftsgemeinschaft, in den Medien u. dgl..
    3) Da für viele die Muttersprache Russisch ist, wäre es sehr wertvoll, wenn sie ihre Fachkenntnisse dazu nutzen würden, zusammenzufassen, was Wichtiges und Unbekanntes in der russischen wissenschaftlichen Literatur geschrieben worden ist und in andere Zielsprachen zu übersetzen.
    4. In Zeiten von Krisen besonders eng mit Verwandten, Bekannten und anderen, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten gebrauchen können, zusammenarbeiten.

    Prof.Dr.phil.habil.
    G.Yeyger

Kommentarfunktion ist geschlossen.