Die Selektion von Entebbe?

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Wer hat‘s erfunden? Zur Ausstellung in der Bildungsstätte Anne Frank (Frankfurt am Main)…

Von Susanne Bressan
(aktualisiert am 18.01.2017)

In einem Ausstellungs-Projekt hinterfragen Studierende der Geschichtswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt die journalistischen und wissenschaftlichen Darstellungen der Entführung eines Passagierflugzeugs im Juni 1976. Gemeinsam mit Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse von den linksterroristischen deutschen „Roten Zellen“ (RZ) hatten zwei Terroristen der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP) eine Maschine der Air France auf dem Weg von Tel-Aviv nach Paris entführt und auf dem ugandischen Flughafen Entebbe zur Landung gebracht. Am vierten und fünften Tag der Entführung wurden in zwei Schüben insgesamt 145 Geiseln[1] freigelassenen. Die weiterhin festgehaltenen, mehrheitlich israelischen Geiseln wurden zwei Tage später, in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli, vom israelischen Militär befreit. Die israelischen Befreier töteten alle Geiselnehmer*innen, 20 ugandische Soldaten und versehentlich drei der 105 noch festgehaltenen Geiseln. Auch ein Angehöriger der israelischen Armee wurde getötet.

Im Zentrum der in der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank gezeigten Ausstellung steht die Frage, ob die palästinensischen und deutschen Entführer*innen antisemitisch handelten, indem sie die Geiseln in zwei Gruppen trennten, um eine von beiden freizulassen und die andere im Terminal festzuhalten. Über den Hintergrund zu dieser Frage informiert ein Ausstellungstext, der davon ausgeht, die Stimmigkeit der Darstellung der Ereignisse sei anhand einer präzisen Ermittlung von Identitäten der Passagiere zu bewerten.[2] Jene Darstellungen, die die Aufteilung der Geiseln als Trennung jüdischer von nicht-jüdischen Passagieren schildern, werden als wissenschaftlich „kaum zu halten“ bewertet und davon ausgehend der antisemitische Charakter der Gruppen-Teilung in Frage gestellt.

Eröffnung mit einer deutlichen Positionierung

Das Bemühen, das antisemitische Motiv der deutschen und palästinensischen Entführer*innen zurückzuweisen, ist bereits im Konzept der Ausstellung angelegt. Wie bewusst dies den  Kurator*innen war, ist fraglich, denn die Ausstellung präsentiert weitere Texte und Dokumente, die dieser konzeptuellen Argumentation widersprechen. Einen Impuls für das Konzept dürfte ein Aufsatz gegeben haben, den die Mainzer Historikerin Freia Anders gemeinsam mit dem im walisischen Bangor lehrenden Historiker Alexander Sedlmaier verfasste.[3] Auch in diesem Aufsatz werden jene journalistischen und zeitgeschichtlichen Darstellungen zurückgewiesen, die den Umgang der Entführer*innen mit den Geiseln als antisemitisch charakterisieren[4]. Dass die Ausstellungsmacher*innen dieser Interpretation ein besonderes Gewicht einräumen wollten, lässt das Begleit-Programm zur Ausstellung vermuten. Die Co-Autorin des Aufsatzes, Freia Anders, war als Vortragende ausgerechnet zur Eröffnung eingeladen.

Wie fragwürdig Freia Anders auf der Vernissage argumentierte, um die im Zentrum stehende Handlung der Entführer*innen, die Aufteilung der Geiseln in zwei Gruppen als nicht antisemitisch darzustellen[5], wurde bereits mehrfach kritisiert.[6] Wie auch der Ausstellungstext, stützt sie sich auf das Argument, es sei den Entführer*innen nicht darum gegangen, jüdische von nicht-jüdischen, sondern israelische von nicht-israelischen Geiseln zu trennen. Die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine berichtete über die Diskussion mit dem Publikum:

„Was an einer Selektion zwischen Israelis und Nicht-Israelis weniger problematisch sein sollte, konnte die sich selbst als ‚radikale Linke‘ bezeichnende Historikerin [Freia Anders] nicht erklären. Vielmehr sprach sie sogar davon, dass neben den Israelis ‚die anderen Bürger, die nichts damit zu tun hatten, freigelassen wurden‘[…]“.[7]

Die in der Jüdischen Allgemeinen zitierte Argumentation impliziert, die von den Entführer*innen festgehaltenen Geiseln hätten mit etwas „zu tun gehabt“, das sie von den andern Geiseln unterscheide. Insgesamt legt die Fixierung auf die Unterscheidung zwischen einer antisemitischen und einer antiisraelischen Motivation für die Geiselnahme nahe, daran sei nicht nur eine wissenschaftliche Differenzierung, sondern auch eine Bewertung der Legitimation geknüpft. Aus dem Fokus gerät dabei, worüber die Entführer*innen verhandelten. Die Entführer*innen forderten, in Israel, Deutschland und Frankreich inhaftierte Terrorist*innen gegen die Geiseln auszutauschen. Zu den auf ihrer Liste präsentierten Inhaftierten zählte Kōzō Okamoto, der im Mai 1972 gemeinsam mit zwei weiteren Attentätern der Terrorgruppe „Japanische Rote Armee“ einen Anschlag auf den Flughafen Lod (Tel Aviv) verübt und 26 Menschen getötet, weitere 80 Menschen verletzt hatte. Wäre es weniger zu verurteilen, die Geiselnehmer*innen hätten aus rein antiisraelischen und nicht auch antisemitischen Motiven das Leben von Zivilist*innen, auch Kindern, eingesetzt, um Terrorist*innen freizupressen, die den Tod unschuldiger Menschen ganz bewusst guthießen oder bereits selbst herbeigeführt hatten?

Argumentations-Akrobatik mit Identitäten

Im folgenden wird zunächst auf den für die Fragestellung zentralen Ausstellungstext[8] eingegangen, um anschließend die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit der Argumentation von Freia Anders und Alexander Sedlmaier aufzuzeigen.

Die Autorin des Ausstellungstexts verweist darauf, dass die einzigen Quellen zum Umgang mit den Geiseln die Berichte der Geiseln selbst seien. Vor dem Hintergrund der widersprüchlichen Schilderungen skizziert sie jene als sicher geltenden Details des Ablaufs der Entführung. Sie geht davon aus, dass die Kriterien, nach denen die Entführer*innen die Passagiere aufteilten, den Geiseln nicht bekannt gewesen seien. Um diese Kriterien zu rekonstruieren, ordnet sie die Geiseln zunächst vier sich teilweise überschneidenden Kategorien zu: ihrer (Nicht-)Zugehörigkeit zum Judentum und ihrer (nicht-)israelischen Staats­angehörigkeit[9]. Nicht-jüdische israelische Staatsangehörige kommen als mögliche Kategorie nicht vor. Dass auch viele jüdische Geiseln freigelassen worden seien, wertet die Autorin dieses Texts als Hinweis dafür, dass die Entführer*innen vermutlich nicht aus einem antisemitischen Motiv gehandelt hätten. Sie geht offenbar davon aus, Antisemitismus bezöge sich nur auf faktische Jüdinnen und Juden, die als solche eindeutig von außen zu identifizieren seien. Dass antisemitische Ressentiments auf Projektionen von Jüdischem basieren, übersieht sie. Zudem impliziert ihre Prämisse, primär antizionistische Motive würden antisemitische Motive ausschließen.

Dass das Vorgehen der Geiselnehmer*innen mit Selektionen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern assoziiert wurde, bezeichnet die Autorin zunächst als „Eindruck einer antisemitischen Selektion“. Dieser „Eindruck“ habe sich dadurch „verstärkt“, dass „auch sechs nicht-israelische orthodoxe Jüd*innen dem Raum der Israelis zugeteilt“ worden seien. Welche Bedeutung die Autorin dem Attribut „orthodox“ in diesem Zusammenhang beimisst, erklärt sie nicht.[10] Vermutlich geht sie davon aus, dass diese sechs Geiseln sich auf irgendeine Art und Weise als Jüdinnen und Juden zu erkennen gaben. Unabhängig davon reicht ihr die Auswahl der sechs nicht-israelischen Jüd*innen nicht aus, um ein antisemitisches Motiv zu erkennen, denn die Entführer*innen hätten „umgekehrt […] eine ganze Reihe von jüdischen Geiseln freigelassen, die sich nicht mit ihrer israelischen Staatsbürgerschaft, sondern einer weiteren Staatsbürgerschaft, zumeist der französischen oder der amerikanischen, am Check-In des Flughafens ausgewiesen“ hätten.

Dass die Entführer*innen diese Details über die Staatsangehörigkeiten der meisten Geiseln wissen konnten, kann als gesichert gelten. Kurz nachdem sie das Flugzeug gekapert hatten, zwangen sie die Passagiere, alle persönlichen Dokumente auszuhändigen und durchsuchten ihr Handgepäck. Sie wussten damit, wer neben der israelischen eine weitere Staatsangehörigkeit besaß. Sie behaupteten, eine Liste der Passagiere und deren Nationalitäten zu besitzen, anhand derer sie überprüfen konnten, mit welchem Ausweis die binationalen Geiseln sich eingecheckt hatten.[11] Indem die Autorin dieses Detail anführt, eröffnet sie für ihre Argumentation eine Unterkategorie der israelischen, implizit jüdischen Geiseln: jene mit doppelter Staatsangehörigkeit. Diese wiederum teilt sie in zwei weitere Unterkategorien auf: Jene, die sich für die Reise mit ihrer israelischen Identität, und jene, die sich mit einer nicht-israelischen Identität ausgewiesen hatten. Doch woraus schließt die Autorin, dass diese Unter-Unterkategorien für die Entführer*innen relevant waren? Diese Vermutung ließe sich höchstens durch weitere Zahlen-Akrobatik stützen – keinesfalls mit der Angabe „eine ganze Reihe von jüdischen Geiseln.“ Genaue Zahlen fehlen indes schon deshalb, weil außer den Entführer*innen niemand die Anzahl binationaler Passagiere ermittelte, die Anzahl jüdischer Passagiere nie erhoben wurde und ohnehin nur durch Selbstauskunft zu erfragen wäre.[12]  Doch selbst wenn die Entführer*innen all jene binationalen israelischen Geiseln freigelassen hätten, die sich mit ihrer nicht-israelischen Identität ausgewiesen haben, wäre es noch immer bloß eine Vermutung, dass sie in dieser Absicht handelten.

Warum sollten überhaupt Jüdinnen und Juden in der Gruppe der Freigelassenen die Relevanz der nicht-israelischen Jüdinnen und Juden in der Gruppe der Festgehaltenen in Frage stellen? Selbst wenn die Entführer*innen die Mehrheit der freigelassenen Geiseln für Jüdinnen und Juden hielten, die entweder nicht-israelisch waren oder eine anderen Staatsangehörig­keit ihrer israelischen vorzogen, wie kann dies als Hinweis verstanden werden, dass dem Festhalten einer anderen Gruppe, zu der mit Ausnahme der Besatzung ausschließlich Jüdinnen und Juden, auch Kinder, zählten, keine antisemitischen Motive zugrunde liegen? Warum zählen für die Autorin sechs nicht-israelische Jüdinnen und Juden in der Gruppe der festgehaltenen Geiseln nicht? Warum hält sie es für so unwahrscheinlich, dass die Entführer*innen die bis zuletzt festgehaltenen Geiseln nicht nur aufgrund ihrer israelischen Staatsangehörigkeit, sondern auch wegen ihres Judentums auswählten?

Die Rechnung der Autorin geht auch deshalb nicht auf, da sie nicht berücksichtigt, dass vermutlich überhaupt ein sehr großer Anteil der Passagiere jüdisch waren. Sowohl die nach vier und fünf Tagen insgesamt (vermutlich zum großen Teil jüdischen) 145 Freigelassenen als auch die weiterhin 105 (mit Ausnahme der Besatzung ausschließlich jüdischen) festgehaltenen Geiseln dienten den Entführer*innen als Verhandlungs-Objekte. Konfrontiert mit den Forderungen der Entführer*innen, in Israel, Deutschland, Frankreich, Kenia und der Schweiz inhaftierte Terrorist*innen gegen die Geiseln auszutauschen, zeigten sich die betroffenen Regierungen zu Verhandlungen erst nach der ersten Freilassung von 47 Geiseln bereit. Eine Mehrheit der Geiseln noch vor einem Austausch freizulassen, war Teil dieser Verhandlungen, die von Idi Amin, dem diktatorischen Präsidenten Ugandas, koordiniert wurden. Idi Amins zu dieser Zeit längst gefestigter Hass auf Israel und seine Bewunderung für Hitler sind unstrittig. Ugandische Soldaten halfen den Geiselnehmer*innen, die Geiseln zu bewachen. Als Zwischenergebnis der von Idi Amin koordinierten Verhandlungen wurden von den insgesamt zum großen Teil jüdischen Geiseln ausschließlich Jüdinnen und Juden als Verhandlungs-Objekte zurückbehalten, mehrheitlich nicht-israelische, zum großen Teil jüdische Geiseln als Verhandlungs-Objekte freigelassen. Sprechen diese Details gegen antisemitische Motive?

Die Entführer*innen setzten sich für die Freilassung von Terrorist*innen ein, die bereits bewiesen hatten, dass das Töten von Zivilist*innen ihrem Kampf gegen Israel zugrunde lag.[13]  Spricht das Ziel der PFLP, unterstützt von japanischen und deutschen Terrorist*innen, den jüdischen Staat bis zu dessen Auflösung mit Mordanschlägen auf Zivilist*innen zu terrorisieren, gegen antisemitische Motive? Kann das Ziel der Vernichtung des jüdischen Staats „nur“ antizionistisch, muss dieses Ziel nicht zwangsläufig auch antisemitisch gedeutet werden?

Die Analogie zu nationalsozialistischen Konzentrationslagern

Ein Aspekt, den die bisherige Kritik an der Ausstellung unberücksichtigt ließ, ist der Umgang mit dem Begriff „Selektion“. Das Ausstellungs-Konzept vermittelt nicht nur, die Frage der antisemitischen Motivation der Entführer*innen sei verknüpft mit der Frage der jüdischen oder nicht-jüdischen Identitäten der Passagiere, sondern es bezweifelt anhand dieser Fragen, dass der Begriff der „Selektion“ den Umgang der Entführer*innen mit den Geiseln angemessen beschreibe. Der Titel, der die „Selektion von Entebbe“ mit einem Fragezeichen versieht, verdeutlicht das. Auch diese Argumentation findet sich in dem 2013 veröffentlichen Artikel der Eröffnungs-Rednerin Freia Anders. Da dieser Punkt zurückführt auf weitere Kurzschlüsse in dem der Ausstellung zugrunde liegenden Konzept, lohnt ein genauer Blick auf den Artikel.

Freia Anders und Alexander Sedlmaier kritisieren die Verwendung des Begriffs „Selektion“ für die Ereignisse in Entebbe, da die Assoziation mit dem Holocaust irreführend sei. Sie gehen von einer doppelten Instrumentalisierung aus: Die Perspektive der Geiseln von Entebbe sei „sowohl im deutschen wie auch im israelischen Erinnerungsdiskurs in legitimatorischer Absicht instrumentalisiert“ worden[14]. Darstellungen, die jene mit nationalsozialistischen Konzentrations­lagern assoziierten Erinnerungen der Geiseln von Entebbe aufgreifen, verdächtigen sie damit zugleich einer Instrumentalisierung der Holocaust-Opfer. Aus einer neuen Kontextualisierung der „Leidenserfahrungen der unmittelbar Betroffenen“ beanspruchen sie, eine geschichts­wissenschaftliche Korrektur des Selektions-Narrativs vorzunehmen.

Indem Anders und Sedlmaier argumentieren, es könne sich nicht um eine „antisemitische Selektion“ gehandelt haben, da auch die freigelassenen Geiseln zu einem großen Teil jüdisch gewesen seien, unterscheiden sie zunächst nicht zwischen dem Wissen, aufgrund dessen die Entführer*innen die Geiseln als „jüdisch“ erkennen konnten – absichtlich oder unabsichtlich –, und den nachträglich oder unter Diplomaten zirkulierenden Informationen über die Geiseln.[15] Dass die Entführer*innen ohnehin kaum über Wissen über das Judentum verfügten, verdeutlicht die Erinnerung der Geisel Akiva Laxer. Der Entführer, der sein Handgepäck durchsuchte und darin Gebetsriemen fand, fragte, um was für einen Gegenstand es sich handelte.[16]

Mehr noch: mit dem Argument, „mehrere“ Geiseln der von den Entführer*innen als erstes freigelassenen Gruppe hätten „eindeutig jüdische Namen“ getragen, verwenden Anders und Sedlmaier ein Klischee. Was verstehen die Autor*innen unter „eindeutig“ jüdischen Namen“? Sind alle Träger*innen „eindeutig“ jüdischer Namen „eindeutig“ jüdisch?[17]  In der angegebenen Quelle, der Jewish Telegraphic Agency heißt es „Jewish sounding names“, jüdisch klingende Namen.[18]

Selbst wenn die Entführerin und die Entführer viele der von ihnen zur Freilassung bestimmten Geiseln aufgrund ihrer Namen und anderer Attribute als jüdisch wahrgenommen hätten und davon ausgegangen wären, dass sie auch Jüdinnen und Juden freiließen; auch wenn die Entführerin und die Entführer kein anderes Kriterium als die israelische Staatsangehörigkeit herangezogen hätten (was sie offensichtlich nicht taten): Wäre damit die Assoziation mit dem Holocaust, die Analogie zu Selektionen in den nationalsozialistischen Konzentrationsl­agern widerlegt?

Bei diesen Selektionen trennten Nationalsozialist*innen nicht die jüdischen von den nicht-jüdischen Inhaftierten, wie es Anders und Sedlmaier in ihrer Zurückweisung der Analogie implizieren. Es wurden jene Inhaftierten ausgewählt, die als nächstes ermordet werden sollten. Darin liegt eine Analogie. Die meisten Inhaftierten der Konzentrationslager wiederum, so die Prämisse für die Analogie, waren jüdisch sowie von den Nationalsozialist*innen als jüdisch kategorisiert. Die Kategorisierung als „jüdisch“ war der Entrechtung und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland bereits vorausgegangen. Die Selektionen in den Lagern waren nicht aus jenem Grund antisemitisch, weil sie Juden von Nicht-Juden getrennt hätten, sondern sie waren Teil der Organisation des Vernichtungsantisemitismus, zu dessen Zweck – der Ermordung der Jüdinnen und Juden –, die Nationalsozialist*innen die Vernichtungslager errichtet hatten. Die Analogie kann sich nur auf die genannten Aspekte der Selektionen beziehen. Viele andere Aspekte lassen sich schon deshalb nicht übertragen, weil jene nicht zur sofortigen Ermordung ausgewählten KZ-Inhaftierte nicht in die Freiheit entlassen, sondern zumeist als Arbeitssklav*innen eingesetzt und später ebenfalls ermordet wurden.

Davon ausgehend, dass die heute bekannten Angaben zu den entführten Flugzeug-Passagieren annähernd stimmen, ergibt sich folgendes Szenario: Jüdinnen und Juden, darunter Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungslager, Jüdinnen und Juden, deren Angehörige in diesen Lagern ermordet worden waren, sowie Jüdinnen und Juden, die den jüdischen Staat mit aufbauten, wurden von deutschen und palästinensischen Entführer*innen tagelang gewaltsam festgehalten und mit dem Tod bedroht, zuerst im Flugzeug, dann im Terminal des Flughafens von Entebbe. Im Terminal teilten die Entführer*innen die Geiseln nach bestimmten Kriterien zwei Gruppen zu – die eine teilweise, die andere ausschließlich jüdisch. Jene der ausschließlich jüdischen Gruppe zugeteilten Geiseln wurden in einen separaten Raum gebracht und weiterhin unmittelbar vom Tod bedroht. Wie kann das angemessen bezeichnet werden? Als „Eindruck einer antisemitischen Selektion“, der wissenschaftlich „kaum zu halten“ ist, wie in der Frankfurter Ausstellung? Oder als „Annahme einer Selektion nach antisemitischen Kriterien“, die nach einer quellenkritischen Beleuchtung vermutlich „nicht aufrechterhalten werden“ könne, wie Freia Anders und Alexander Sedlmaier in ihrem Artikel schreiben?[19]

Der von Anders und Sedlmaier darüber hinaus geäußerte Vorbehalt gegenüber Analogien zum Holocaust ist grundsätzlich zu berücksichtigen. Analogien lassen sich instrumentalisieren. Doch bei dem für die meisten Geiseln in Entebbe zentralen Erlebnis handelte es sich nun einmal um eine Auswahl  (lat selectio) von Menschen. Andere Begriffe, wie die des Lagers, der Deportation, der „Überlebenden“, der „zweiten Generation“ und der weitergegebenen Traumata werden ebenfalls in weiteren Kontexten verwendet – und werden bei jenen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, ob als Wissenschaftler*innen, als Überlebende, Angehörige, Jüdinnen und Juden in Israel und der Diaspora wahrscheinlich immer Assoziationen zum Holocaust hervorrufen. Damit eignen sich diese Begriffe zur Instrumentalisierung, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Zugleich relativiert das nicht den Appell, mit Vergleichen zum Holocaust sensibel umzugehen, insbesondere mit visuellen Darstellungen. Anders und Sedlmaier zufolge verwendet etwa der deutsche Dokumentar-Film „Von Auschwitz nach Entebbe: Israels Kampf gegen den Terror aus dem Jahr 2009 Überblendungen archivalischer Filmaufnahmen von den Geiseln in Entebbe mit Fotografien von Leichenbergen aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern.[20] Gewiss existieren angemessenere Stilmittel, um Analogien postnationalsozialistischer Ereignisse zu einzelnen Aspekten des Holocaust filmisch darzustellen. Eine Kritik jener Analogien, die Israel mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen – ein nach dem Sechs-Tage-Krieg häufig zu findendes antizionistisches Argumentationsmuster –, liefern Anders/Seldmaier hingegen nicht. 

Anders und Sedlmaier geht es indes darum, die Analogie zu nationalsozialistischen Selektionen per se zurückzuweisen. Zur Frage, ob die Entführer*innen von Entebbe (auch) antisemitisch handelten, trägt dies, wie oben gezeigt, zunächst nichts bei. Dass die im „Selektions-Narrativ“ enthaltenen Analogien bereits in einigen der ersten Berichte missverständlich wiedergegeben wurden[21], haben Anders und Sedlmaier nicht herausgestellt, sondern sie haben das Missverständnis in ihrer Argumentation implizit übernommen. Diese Argumentation sehen sie durch neue Quellen gestützt.

„The Nazi terrorist“: Brigitte Kuhlmann

Anders und Sedlmaier heben besonders die Bedeutung diplomatischer Akten zu Entebbe hervor, die bislang unberücksichtigt geblieben seien. Es handelt sich um die Korrespondenz zwischen der deutschen Botschaft in Uganda und dem Auswärtigen Amt der BRD sowie um dem Krisenstab der Bundesregierung übermittelte Informationen. Daraus leiten die Autor*innen Vermutungen ab, wer die Kriterien für die Auswahl der Geiseln bestimmte, gestehen jedoch ein, dass sie dies auch anhand der neuen Quellen nicht eindeutig rekonstruieren können. Auch andere Fragen müssen aufgrund widersprüchlicher oder fehlender Quellen weitgehend offen bleiben: Wie die einzelnen Entführer*innen schließlich vorgingen, um die Geiseln in Gruppen aufzuteilen, wie sie die Geiseln behandelten, welche Rolle einerseits die beiden Deutschen dabei einnahmen, andererseits die Anführer der PFLP, zudem der ugandische Präsident Idi Amin und die Konferenz der arabischen Staaten, die in Kampala zusammenkam. Dennoch messen Anders und Sedlmaier den von ihnen ausgewerteten Akten eine große Relevanz zu – im Hinblick einerseits auf die Hierarchie zwischen der PFLP und den deutschen Entführer*innen, andererseits auf die tatsächliche Staatsangehörigkeit der Geiseln.[22] Die Einschätzung eines deutschen Diplomaten, die deutschen Entführer*innen hätten nur im Flugzeug das Kommando geführt, nach der Landung in Entebbe jedoch hätten die Palästinenser das Kommando übernommen, werten die Autor*innen als Hinweis, die deutschen Terrorist*innen seien in die späteren Entscheidungen über die Geiseln, auch über deren Aufteilung in Gruppen, nicht involviert gewesen. Die Angaben zu den Kriterien der Aufteilung wiederum sehen sie von „Aussagen der Geiseln“ gestützt, insbesondere durch Ilan Hartuv. Der damals 50-jährige Ilan Hartuv hatte seine Mutter, Dora Bloch, in Uganda zurücklassen müssen, da sie während der Befreiung in einem Krankenhaus behandelt wurde. Sie wurde später ermordet aufgefunden.[23]

In einem Interview der israelischen Tageszeitung Haaretz zum 35. Jahrestag der Befreiung der Geiseln weist Ilan Hartuv eine Analogie zu Auschwitz explizit zurück und verweist darauf, die Geiseln seien nach Kriterien der Staatsbürgerschaft aufgeteilt worden.[24] Anders und Sedlmaier zitieren: „There was no selection of Jews versus non-Jews.“[25]

Jene Erinnerungen Ilan Hartuvs, die darauf verweisen, dass die Kriterien, welche Geiseln festgehalten werden sollten, unter den Entführer*innen durchaus strittig waren, übergehen Anders und Sedlmaier hingegen. Ebenso ergeht es der Erinnerung Hartuvs an die Rolle der deutschen Terroristin Brigitte Kuhlmann. Hartuv erinnert sich, dass dem Raum der Israelis vier Erwachsene und zwei Jugendliche zugeordnet worden seien, weil sie am ersten Morgen in Entebbe ein Morgengebet gesprochen, die Männer Gebetsriemen angelegt hätten. (Es handelt sich vermutlich um jene sechs Jüd*innen, die im Ausstellungstext als „orthodox“ bezeichnet wurden.) Die Erwachsenen seien belgischer und US-amerikanischer Nationalität gewesen, die Jugendlichen aus Brasilien hätten ein Jahr an einer Jeschiwa in Jerusalem studiert. Aus der Gruppe der Israelis sei einer der palästinensischen Terroristen gebeten worden, diese sechs Jüd*innen zur anderen Gruppe zu schicken, da sie keine Israelis seien. Der Terrorist habe zugestimmt, später indes nur die Jugendlichen zurückgebracht. Er habe um Entschuldigung gebeten, nicht auch die anderen in die Gruppe der zur Freiheit bestimmten Geiseln entlassen zu können – „because the German woman wouldn’t allow it.“

Wie gegenwärtig auch für Hartuv die Assoziation der deutschen Entführer*innen mit Nationalsozialist*innen war, schildert er in einer weiteren Passage, in der er Brigitte Kuhlmann als „Nazi terrorist“ bezeichnet, mit der es keine Sinn gehabt hätte, zu sprechen. Zugänglicher nahm er Wilfried Böse wahr. Hartuv habe eine Geisel, den Auschwitz-Überlebenden Yitzhak David, ermuntert, mit Böse zu sprechen:

„When we reached Entebbe, I encouraged David […] to speak with Bose. David showed him the number tattooed on his arm and said to him in German: ‚I was mistaken when I told my children that there is a different Germany. When I see what you and your friends are doing to women, children and the elderly, I see that nothing has changed in Germany.’“[26]

Wilfried Böse habe sehr nervös reagiert und jede Ähnlichkeit mit Nazis von sich gewiesen. Im Gegenteil, er hätte in der BRD terroristische Anschläge verübt, weil das herrschende System Nazis und Reaktionäre wieder eingestellt hätte. Zum Nahostkonflikt sei er nicht voreingenommen, er wisse dass die Jordanier im September 1970 mehr Palästinenser töteten als die Israelis, „as did the Syrians in Tel al-Zaatar“[27]  Er würde den Palästinensern helfen, weil sie die Benachteiligten, die Leidenden seien.[28] Darauf, so Hartuv, habe Yitzhak David entgegnet:

„Well, then, when the Palestinians fulfill their promise and throw us in the sea, we’ll come to you to help us hijack Arab planes.“[29]

Diese Erinnerungen Hartuvs an Yitzhak Davids Dialog mit Wilfried Böse geben Anders und Sedlmaier nicht an dieser Stelle, sondern in zwei anderen Kontexten verkürzt und verstellt wieder.

In einem der Schilderung von Hartuvs Erinnerungen vorausgehenden Abschnitt über die „erinnerunsgpsychologische Verarbeitung der Opfererfahrung durch die Geiseln“ referieren Anders und Sedlmaier auf den Dialaog Yitzhak Davids, der aus einer anderen Quelle etwas verschieden wiedergegeben wird[30], aber sich klar mit Hartuvs Erzählung deckt. Diese Erzählung verwenden sie, um David und anderen Holocaust-Überlebenden an Bord zu attestieren, sie hätten die Entführung als „Wiederkehr eines kollektiven Traumas“ erlebt und deshalb „die ideologischen und praktischen Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und militantem Linksradikalismus […] ausgeblendet.“[31] Ihren erinnerungs­psychologischen Exkurs über die Geiseln beenden sie mit dem Verweis darauf, wie die ersten israelischen Zeitungsberichte die offensichtlich von einigen Geiseln geschilderten Analogien zum Holocaust interpretierten. Ihr Fazit dazu lautet:

„Wichtig ist aber, dass die meisten anderen israelischen Zeitungen vor der Befreiung am 4. Juli 1976, obwohl sie ebenfalls über die Trennung der Geiseln berichteten, den Vergleich mit Selektion und Holocaust nicht bemühten.“[32]

Am Ende des Artikels referieren Anders und Sedlmaier erneut auf den Dialog Yitzak Davids, allerdings ohne ihn wörtlich zu zitieren.[33] An dieser Stelle dient Yithzak David den Autor*innen dazu, Wilfried Böse eine antisemitische Intention sowie jede Ähnlichkeit mit einem „Nazi“ abzusprechen.

„Folgt man dem [….] Erinnerungsbericht […], so hat Böse das Problem [des „Selektionsvorwurfs“]  sogar mit den Geiseln diskutiert, als diese ihn mit der in Auschwitz eintätowierten Nummer auf dem Arm eines seiner Gefangenen konfrontierten. Er erklärte, seine Motivation sei nicht antisemitisch, sondern gegen den Staat Israel und seine Palästinenser-Politik gerichtet.“[34]

Aus dem von Hartuv erinnerten Dialog lässt sich jedoch nicht schließen, er habe explizit antisemitische Ressentiments zurückgewiesen. Lediglich lässt sich folgern, dass er den historischen Nationalsozialismus ablehnte und ein an KZ-Kommandeure erinnerndes Verhalten offenbar nicht bewusst inszenierte.

Aus dem Kontext des in der Haaretz wiedergegebenen Interviews lässt sich schließen, dass Ilan Hartuv daran lag, unzutreffende Darstellungen der historischen Ereignisse in Entebbe, insbesondere den Vergleich mit Auschwitz bei der Auswahl der Geiseln, zurückzuweisen. Zugleich verweisen die erinnerten Passagen darauf, dass für Ilan Hartuv und den von ihm zitierten Yitzhak David bereits im Flugzeug die nationalsozialistische Vergangenheit, auch durch die Beteiligung der deutschen Terrorist*innen und insbesondere durch das Auftreten Brigitte Kuhlmanns, durchaus gegenwärtig wurde.[35] An anderer Stelle sprach Ilan Hartuv explizit von antisemitischen Äußerungen der deutschen Terroristin.[36] Das zeigt: Auch wer die pauschale Auschwitz-Analogie zurückweist, kann zugleich antisemit­ische Motivationen einzelner Entführer*innen erkennen oder diese mit Nationalsozialist*innen assoziieren.

Darüber hinaus verweist die von Hartuv erinnerte Entgegnung Davids darauf, dass der von Anders und Sedlmaier so genannte unmittelbare „Kontext“ der Geiselnahme, die „nationalen Bestrebungen der Palästinenser im Kontext des Libanesischen Bürgerkriegs“[37], im Verständnis der PFLP eine existenzielle Bedrohung für jüdische Israelis darstellte und auch von vielen Geiseln des deutsch-palästinensischen Entführungs-Kommandos so wahrgenommen wurde. Der jüdische Staat sollte in diesem „Kontext“ mit Gewalt aufgelöst werden. Wenn der „Kontext“ nicht alle Jüdinnen und Juden meinte, sondern nur die israelischen, zugleich nicht alle Israelis, sondern nur die jüdischen, agierten die PFLP und ihre Unterstützer*innen deshalb nicht (auch) antisemitisch? [38]

Den für die deutschen Terrorist*innen naheliegenden Kontext lassen die Autor*innen ohnehin unberücksichtigt: der sich innerhalb der linksradikalen Szene in der BRD artikulierende Antisemitismus und die dadurch zumindest mit-motivierte Hinwendung zu palästinensischen Terror-Organisationen. Die Virulenz antisemitischer Ressentiments innerhalb der westdeutschen Linken in Form des auf Israel bezogenen Schuldabwehr-Antisemitismus, kombiniert mit tradierten antisemitischen Stereotypen, ist bereits für die Zeit seit dem Sechs-Tage-Krieg dokumentiert, dessen weitere Festigung – auch noch nach dem linksradikalen Attentat auf die jüdische Gemeinde West-Berlins im November 1969 – vielfach nachgezeichnet.[39] Nicht zuletzt Die Rote Armee Fraktion, mit der die Revolutionären Zellen kooperierten, hatte ihren Hass auf Israel seit 1972 eindeutig antisemitisch begründet.[40]

Der Befund des in der westdeutschen Palästina-Solidarität und im Linksterrorismus virulenten Antisemitismus hängt nicht von der Bewertung des Handelns der Entführer*innen in Entebbe im Sommer 1976 ab. Indes verweist dieses Handeln auf den Kontext des sich im linksradikalen Milieu äußernden Antisemitismus. Dass es sich dabei in den meisten Fällen um einen unbewussten Antisemitismus handelt, schmälert den Befund nicht. Antisemitische Argumentationsmuster lassen sich auch dann erkennen, wenn sie nicht bewusst geäußert werden.[41] Der Befund zeigt sich zudem in jenen, mit europäischen Antisemitismen vermengten antijüdischen Ressentiments, die sich im arabischen Antizionismus allzu oft artikulieren. Hier finden sich immer wieder offene, ganz bewusst geäußerte judenfeindliche Äußerungen.[42] Diese beziehen sich im Übrigen nur zum Teil auf den Koran. Die PFLP war ohnehin keine dem Islam nahestehende, sondern eine von christlichen Palästinensern gegründete, am Marxismus-Leninismus orientierte nationalistische Organisation.

Wer hat‘s erfunden? – Erinnerungen der Geiseln

Dass die Erinnerungen der Passagiere des entführten Flugzeugs nicht konsistent sind, überrascht nicht. Verschiedene Personen nehmen dasselbe Ereignis unterschiedlich wahr. Erinnerungen funktionieren hochkomplex, auch die Erinnerungen derselben Person sind oft widersprüchlich. Deshalb können Erinnerungen immer nur Hinweise geben. Insbesondere ist die Annahme irrig, die Geiseln selbst seien genau im Bilde gewesen, welche der etwa 250 Passagiere jüdisch, israelisch, oder beides waren und welche nicht.

Anhand des Interviews mit Ilan Hartuv zeigt sich, wie selektiv Anders und Sedlmaier mit den Erinnerungen der Geiseln umgehen, um ihr Argument zu stützen: Ausführlich zitierem sie jene vermeintlich gegen antisemitische Motive der Entführer und gegen die Assoziation mit nationalsozialistischen Selektionen in KZ sprechenden Interviewpassagen. Jene Passagen, in denen der Befreite die NS-Assoziationen schildert, relativieren sie oder übergehen sie ganz.

Als einen der einflussreichsten Generator des „antisemitischen Selektions-Narrativs“ stellen Anders und Sedlmaier den noch im Jahr der Entführung, in den USA produzierten und ausgestrahlten Film „Victory at Entebbe“ des Regisseurs Marvin J. Chomsky dar.[43] In diesem Film, so Anders und Sedlmaier, würde

„besondere Emphase […] darauf gelegt, dass die beiden deutschen Entführer ein älteres jüdisches Ehepaar, das sich auf seine belgischen Pässe beruft, dazu zwingen, bei den jüdischen Geiseln zu verbleiben. Der Mann wird brutal zu Boden geschlagen und aufgrund seines jüdisch klingenden Namens verhöhnt und gedemütigt.“[44]

Von dieser Szene ausgehend, lassen Anders und Sedlmaier die Gelegenheit nicht aus, die Kritik eines prominenten Holocaust-Überlebenden an einer anderen Produktion des Regisseurs, der Fernseh-Serie „Holocaust“[45] aufzugreifen – eine Kritik, die der  Philosoph, Judaist, Schriftsteller und spätere Träger des Friedensnobel­preises Elie Wiesel äußerte, bevor abzusehen war, welche Impulse der Film für verschiedene Erinnerungskulturen auslöste. In der (west)deutschen Öffentlichkeit stieß er einen anderen Umgang mit der NS-Vergangenheit an: das Sprechen über die Opfer des Holocaust. In den USA erleichterte der Film Überlebenden des Holocaust, ihr Schweigen über ihre traumatischen Erlebnisse zu brechen und mit ihren Familienangehörigen zu sprechen.

Die Kritik Elie Wiesels, diese Produktion Chomskys aus dem Jahr 1979 käme einer  pseudo-realistischen Trivialisierung der historischen Erfahrung des Holocaust gleich, ließe sich auf den Entebbe-Film übertragen, schreiben Anders und Sedlmaier. Dazu zitieren sie Wiesel mit dem einen Satz: „Too much evil is perpetrated by one particular German“.[46] Wiesels Zitat bezieht sich darauf, dass Chomsky in seinem Holocaust-Drama die Komplexität der nationalsozialistischen Verbrechen an der Menschlichkeit historisch verfälsche, indem er sie anhand zu weniger Figuren darstellte, sowohl auf der Seiten der Täter*innen als auch auf Seiten der Opfer.[47] Auf den Kontext der geschilderten Szene aus dem Film über die Flugzeug-Entführung nach Entebbe übertragen, liest sich das Zitat hingegen, als sei – in Übereinstimmung mit Wiesel – die Darstellung der deutschen Geiselnehmer*innen als brutale und antisemitische Protagonist*innen zu kritisieren.

Doch stellten nicht zuerst die filmischen Darstellungen zur Flugzeugentführung und den Ereignissen in Entebbe starke Analogien zum Holocaust her. An dieser Stelle kann nicht nachgeholt werden, was Anders und Sedlmaier versäumten: die Interviews mit den entlassenen und befreiten Geiseln, kurz nachdem sie in Freiheit waren, sowie die wenig später veröffentlichten Erinnerungen in Buchform als Quellen in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen. Eine Stichprobe zeigt indes, dass Anders und Sedlmaier mit den Erinnerungen weiterer Geiseln ebenso selektiv umgehen wie mit den oben dargestellten Erinnerungen Ilan Hartuvs. Es werden nur jene Erinnerungen zustimmend referiert, die keine expliziten Holocaust-Bezüge assoziieren, sowie jene, die bei der Auswahl der Geiseln die Trennung israelischer von nicht-israelischen Geiseln anführen und nicht explizit jüdische Geiseln erwähnen. Dass andere, zeitgenössisch ebenso wie später festgehaltene Erinnerungen existieren, erwähnen Anders und Sedlmaier, um deren Realitätsbezug als selektive Wahrnehmung von Traumatisierten zu entkräften. Um dieser Interpretation etwas entgegenzusetzen,  seien an dieser Stelle zwei Erinnerungsberichte etwas genauer angeführt.[48]

Eine Passagierin aus der Gruppe der Freigelassenen kam in einer Meldung der Jewish Telegraphic Agency vom 2. Juli 1976 zu Wort.[49] Die damals 62-jährige Julie Aquizerat, eine französische Jüdin, schilderte die Auswahl jener Geiseln, die bis zum Ultimatum von den Entführer*innen festgehalten werden sollten, so:

„One of the hijackers started reading off a list of names. As he rolled off the first four or five names, we realized from the Hebrew consonants of the first names that these were Israelis. […] The fact that the hijacker was one of the two Germans aboard the plane and that he read off the names with a heavy German accent further increased the early feeling. We all felt as if we were reliving a nightmare which was taking us back to the concentration camps of the second World War as people, at the call of their names, picked up their luggage and walked out. We were all pale-faced. Some women and children wept.“[50]

Eine Woche nach der Befreiung durch das israelische Militär führte die spanische Agentur Europa Press ein Interview mit einer befreiten Geisel: Monique Epstein Khalepski, ebenfalls Französin, hatte seit 1972 in Israel gelebt.[51] Sie geht an verschiedenen Stellen des Interviews auf die Auswahl der Geiseln ein. Zuerst spricht sie von einer Trennung der „jüdischen von den übrigen Passagieren“. Bei den zur Freilassung ausgewählten Geiseln habe es sich um einige Frauen, Kinder, Alte und Kranke gehandelt. Danach gefragt, wer zur Gruppe der Freizulassenden gehen konnte, antwortete Epstein Khalepski: „Alle, die nicht jüdisch oder israelitisch[52] waren.“ Wie Ilan Hartuv erinnert auch sie sich an ein belgisches und südamerikanisches Paar, das in ihrer Gruppe gewesen sei.

Erst die nächste Gruppen-Teilung, die Monique Epstein Khalepski schildert, assoziiert sie mit Selektionen in Konzentrationslagern. Dieses Mal sei angekündigt worden, dass einige von ihnen in einen anderen Raum gehen sollten. Die „schreckliche Ankündigung“ sei von Idi Amin entschieden worden. Der französische Flug-Kapitän habe die Ankündigung übersetzt und anschließend sei eine Namensliste vorgelesen worden. Aus den Namen hätten sie geschlossen, dass nur die Israelis genannt worden seien. Mindestens zwei Überlebende aus Konzentrationslagern seien unter den Geiseln gewesen. Eine der Überlebenden habe eine schwere psychische Krise erlitten, ihre Schreie hätten die Stille durchschnitten. Die Assoziationen zum Holocaust deutet die Erzählerin zunächst nur an: „Zu diesem Zeitpunkt hätte man einen Film drehen können, der an eine gewisse historische Epoche erinnert hätte“.[53]

Die beiden Interviews verdeutlichen, dass sich zwei Personen auch kurz nach einem gemeinsam erlebten Ereignis an einzelne Aspekte unterschiedlich, zum Teil widersprüchlich erinnern. Zum „Selektions-Narrativ“ haben dennoch wohl beide beigetragen: Beide assoziieren die Aufteilung der Geiseln in Entebbe mit Selektionen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Beide erlebten die Aufteilung in verschiedene Räume als Selektion, an die sich beide als eine Auswahl der israelischen Geiseln erinnern. Aus der Beschreibung von Monique Epstein Khalepski ist schwer nachvollziehen, auf welche Aufteilung resp. Freilassung sie sich im Einzelnen bezieht. Die Auswahl der Geiseln für die erste Freilassung beschreibt sie als Trennung der Jüd*innen von den Nicht-Jüd*innen.

Erinnerungen an die von Nationalsozialist*innen ausgeführten Selektionen waren offensichtlich für beide Frauen nicht explizit an die Wahrnehmung gekoppelt, es seien nichtjüdische von jüdischen Geiseln, sondern an die Wahrnehmung, es seien vor allem Israelis von Nicht-Israelis getrennt worden. Nur eine der beiden Frauen berichtet explizit eine vorausgehende Trennung jüdischer von nicht-jüdischen Geiseln. Dennoch fühlten sich beide Frauen als Jüdinnen und Juden bedroht und an den Holocaust erinnert. Den Ausschlag für diese Assoziation gab der Umgang der Entführer*innen mit den Geiseln, die überhaupt zu einem großen Teil jüdisch waren,.

In der Gesamtsicht der hier zitierten Aussagen der Geiseln, insbesondere aus jenen kurz nach der Freilassung und Befreiung gegebenen Interviews, ergibt sich ein Bild, das die  verschiedenen Perspektiven auf die als Selektion erfassten Ereignisse der Entführung differenziert: Die Geiseln wurden nicht einmal, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten in Gruppen aufgeteilt. Informationen über die Staatsangehörigkeit der Passagiere und Hinweise auf ihre Zugehörigkeit zum Judentum sammelten die Entführer*innen noch an Bord, in dem sie den Passagieren ihre Ausweise abnahmen und ihr Handgepäck durchsuchten.

Monique Epstein Khalepski vermutete, dass bereits diese unter Gewalt vorgenommene Registrierung gegen Israelis gerichtet war – und auch, dass einige Geiseln die Drohung der Terrorist*innen, es hätte es keinen Zweck persönliche Dokumente zu vernichten, dazu veranlasste, alles, was sie mit dem Judentum oder Israel in Verbindung bringen konnte, loszuwerden, wie beispielsweise Kettenanhänger in Form von Davidsternen.

Nach der Zwischenlandung im libyschen Bengasi, wo sie eine Tankfüllung spendiert bekamen und eine Geisel freiließen, die einen medizinischen Notfall vortäuschte, dirigierten die Entführer*innen die Maschine nach Entebbe. Dort erhielten sie eine Landegenehmigung. Die Geiseln brachten sie in die zentrale Halle des Terminals. Dort halfen ugandische Soldaten bei der Bewachung der Geiseln. Bereits hier, in der Terminalhalle, noch vor der Ankündigung der ersten Freilassung wurden die Passagiere vermutlich gruppiert nach israelischer und doppelter Staatsbürgerschaft, vermeintlichen Jüd*innen und den Entführer*innen „Unverdächtigen“. Dazu, wann und in in welcher Form diese erste Gruppierung in der Terminalhalle vorgenommen wurde, existieren widersprüchliche Angaben. So wird von manchen Geiseln eine räumliche Trennung bereits am zweiten Tag in Entebbe erwähnt, den Durchgang hätten die Geiseln zunächst indes noch passieren können. Einige Geiseln erinnern sich, bei dieser ersten Aufteilung habe Wilfried Böse die Namensliste mit einem starken deutschen Akzent vorgelesen.

Zu ihren Forderungen verhandelten die Entführer*innen zunächst mit Frankreich. Die Verhandlungen leitete der ugandische Diktator Idi Amin in Abstimmung mit der PFLP, u.a. mit dem PFLP-Führer Wadi Haddad. Zudem fand sich die Konferenz der arabischen Botschafter in Kampala ein, die ebenfalls mit den Entführer*innen Kontakt aufnahm.[54] Die Beteiligten beschlossen eine kleine Gruppe von Geiseln freizulassen, als Zeichen, dass die Entführer*innen ihren Anteil des Tauschhandels erfüllen werden würden. Die erste Auswahl der freizulassenden Geiseln wurde von den Geiseln unterschiedlich wahrgenommen seien. Die vorhandenen Berichte stimmen darüber überein, dass vor allem Alte, Frauen, Kinder und Kranke freigelassen worden. Einige Geiseln gingen davon aus, dass diese jedoch ausschließlich aus der Gruppe der Nicht-Jüd*innen respektive Nicht-Israelis stammten. Monika Epstein Khalepski erinnert sich bereits zu dieser Freilassung an dramatische Szenen, als Ehe-Partner*innen und Familienangehörige voneinander getrennt worden seien. Die zwölf Besatzungsmitglieder gesellten sich aus eigenen Willen zu den Festgehaltenen.

Dass sich auch viele Jüd*innen unter diesen ersten 47 Freigelassenen befanden, wurde kurz nach deren Ankunft in Paris bekannt.[55] Nach dieser ersten Freilassung befragten die Entführer*innen einige, in der Wahrnehmung einiger Passagiere nun nur noch jüdischen Geiseln, ausführlich, u.a. zu ihrer Verbindung zu Israel.[56] Bei der Vorbereitung der Freilassung der zweiten Gruppe engten die Entführer*innen nun die Kriterien für jene Geiseln, die sie weiterhin in ihrer Gewalt behalten würden, näher ein. Als Kriterien galten offenbar vorwiegend die israelische Staatsangehörigkeit oder ein von den Entführer*innen antizipiertes, religiös oder politisch begründetes besonderes Verhältnis zu Israel. Etwa 100 israelische und sechs nicht-israelische Jüd*innen wurden aus der Gruppe der Verbliebenen ausgewählt, um als Verhandlungsobjekte weiter festgehalten zu werden. Der Durchgang zwischen den Räumen wurde abgeriegelt, sodass die weiterhin Festgehaltenen die Vorgänge im anderen Raum nicht verfolgen konnten. Die anderen, ebenfalls etwa 100 Geiseln wurden – wiederum nicht aus humanitären Gründen, sondern als Zugeständnis im Rahmen der Verhandlungen  – am fünften Tag der Entführung freigelassen. Bis zur Befreiung der restlichen Geiseln durch das israelische Militär vergingen weitere zwei Tage. 

Von dieser Synopse ausgehend, gibt die in Deutschland dominante Erzählung, in Entebbe hätten Deutsche, einer nationalsozialistischen Selektion vergleichbar, Jüd*innen selektiert, die Ereignisse nicht falsch, sondern in verdichteter Form wieder. Für viele Menschen in Israel, Europa und Amerika hat „Entebbe“ eine besondere Bedeutung – weil sie selbst oder Angehörige die Aufteilungen als Geiseln erlebt haben. In Deutschland wurde die Entführung zudem von jenen  besonders aufmerksam rezipiert, die mit den Zielen der Palästinenser sympathisierten, die Terroristen der Revolutionären Zellen in ihrem nicht-terroristischen  Lebensumfeld kennen gelernt hatten oder die, aus unterschiedlichen Gründen, für die Leiden der Opfer des Holocaust sensibilisiert waren. Dass einige dieser Rezipient*innen die Aufteilungen der Geiseln als eine einzige Selektion erinnern, in der Jüd*innen von Nicht-Jüdinnen getrennt worden seien, verdient der Differenzierung. Diese Differenzierung entzieht jedoch einzelnen Aspekten der Ereignisse in Entebbe nicht ihre Analogie zu nationalsozialistischen Selektionen in Konzentrationslagern. Es verliert auch nicht an Glaubwürdigkeit, wer sich auf die verdichtete Erzählung der  „Selektion von Entebbe“ bezieht, um die eigene Nähe zum deutschen Linksterrorismus zu reflektieren und einzusehen, dass er/sie sich erst dann von diesen Milieus abwandte, als es ihm/ihr nicht mehr gelang, deren antisemitische Ressentiments länger auszublenden.

Das Vorgehen der Geiselnehmer*innen und die Wahrnehmung dieses Vorgehens durch die Geiseln verdeutlicht darüber hinaus die spezifische und mehrdeutige Verbindung Israels mit den Jüd*innen im eigenen Land und in der Diaspora. Jüdische Namen können auf eine Zugehörigkeit zum Judentum hinweisen, zugleich auf einen Bezug zu Israel – oder einfach nur „jüdisch klingen“. Der Davidstern ist religiöses Symbol des Judentums und zugleich nationales Symbol Israels. Von außen ist nicht zu beurteilen, welche Bedeutung die Trägerin/ der Träger dem Davidstern beimisst. Aus der Verantwortung, die Israel für Jüd*innen in aller Welt übernimmt, ist umgekehrt nicht abzuleiten, dass Jüd*innen in der Diaspora  verantwortlich für die Politik Israels seien.

Resümee

Die von Anders und Sedlmaier neu gesichteten Dokumente zur Flugzeugentführung nach Entebbe verdienen eine erneute geschichtswissenschaftliche Auswertung, aus der sich höchstwahrscheinlich weitere aussagekräftige Quellen erschließen lassen. Insbesondere wäre der bislang nicht gesicherten Angabe zu einer Quelle des israelischen Nachrichtendienstes nachzugehen. Dem Experten für Terrorismusbekämpfung Edward F. Mickolus zufolge hätte der israelische Nachrichtendienst die Kommunikation zwischen den Geiselnehmer*innen und dem PFLP-Führer Wadi Haddad abgehört. Haddad hätte angeordnet, die zuletzt verbliebenen Geiseln auch dann zu töten, wenn die israelische Regierung auf die Forderungen der Entführer*innen eingegangen wäre.[57]

Dieser Hinweis ist erst nach dem Artikel von Freia Anders und Alexander Sedlmaier veröffentlicht worden. Indes lässt ihr selektiver Umgang mit den von ihnen rezipierten und neu gesichteten Quellen daran zweifeln, ob sie tatsächlich beabsichtigten, in ihrem Beitrag die Ereignisse in Entebbe differenziert zu rekonstruieren. Relevante Fragen, die sich aus den Schilderungen der Geiseln ergeben, thematisieren sie gar nicht erst. Insbesondere das Verhalten Brigitte Kuhlmanns, aber auch die Rolle Idi Amins hätte demnach mehr Beachtung verdient. Warum messen Anders und Sedlmaier genau diesen Erinnerungen der Geiseln keinen relevanten Bezug zur Realität bei und relativieren sie? Warum zitieren sie von den Erinnerungen Hartuvs nur jene, die ihre Hypothese stützen, wörtlich? Ihre Beleuchtung der in geschichtswissenschaftlichen Darstellungen unterlassenen Quellenkritik und den dort enthaltenen nachweislich falschen Angaben ist wichtig. Die von Anders und Sedlmaier angeführten Darstellungen etablierter Wissenschaftler*innen können als Sekundärquellen offensichtlich nur unter großem Vorbehalt herangezogen werden. Doch eine ernsthafte Quellenkritik liefern auch Anders und Sedlmaier nicht. 

Die Ausstellung in der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank schildert die Ereignisse und die Aussagen der Zeugen differenzierter und ausgewogener. Auch die prominenten journalistischen Darstellungen erfahren hier eine differenziertere und besser kontextualisierte Kritik. Die grundlegende, doch wenig überzeugende Argumentation des Ausstellungskonzepts deckt sich indes mit jener dominanten Argumentation von Anders und Sedlmaier, die sich damit zugleich eindeutig positionieren. Das widerspricht dem formulierten Anliegen der studentischen Kurator*innen der Ausstellung, die Besucher*innen sollten sich selbst ein Urteil bilden. Indem sie  Freia Anders ausgerechnet zur Vernissage einluden, gaben sie der Idee, die Unterscheidung zwischen jüdischer und israelischer Identität der Geiseln sei zentral für die Bewertung der Entführung zudem ein besonderes Gewicht.

Den in der Ausstellung präsentierten unterschiedlichen Narrativen um die Flugzeugentführung nach Entebbe nachzugehen, kann eine weiterführende Auseinandersetzung anstoßen. Aus den widersprüchlichen Darstellungen stellen sich Fragen zum gegen Israel gerichteten internationalen Terrorismus, der Kollaboration mit autoritären Regimen, der Unterstützung durch deutsche Terrorist*innen und andere Israelhasser*innen. Zudem verdient die unterschiedliche Gewichtung der Ereignisse in Entebbe in verschiedenen Erinnerungskulturen Beachtung. In Israel kommt der Erzählung von der erfolgreichen Befreiung die größte Bedeutung zu. Auf der Ausstellungs-Eröffnung, so die Wochenzeitung Jungle World, habe der Direktor der Bildungsstätte, Meron Mendel, darauf hingewiesen, dass in Israel die gelungene Befreiung der Geiseln nicht nur zu einem Mythos wurde. Sie wurde zu einem Sinnbild dafür, dass mit Israel ein jüdischer Staat existiere, „dessen Verantwortung es ist, Juden überall auf der Welt zu retten – auch Tausende Kilometer von Israel entfernt“.[58] In Deutschland wurde das Selektions-Narrativ vor allem innerhalb linker Intellektueller rezipiert und diente der Erkenntnis, dass auch linker Antizionismus häufig mit antisemitischen Mustern verbunden war und ist. Diesen auf Israel bezogene Antisemitismus wiederum leugnet ein Teil der Linken weiterhin vehement.

Doch die Fixierung auf die Frage, „ob [in Entebbe] eine Selektion jüdischer und nicht-jüdischer Geiseln stattgefunden hat“[59], mit der Idee, hieraus auf die Motivation der Entführer*innen zu schließen, verdeutlicht eine folgenreiche Schwäche des Ausstellungs-Konzepts. Diese Frage impliziert zum einen, Antisemitismus bezöge sich nur auf faktische Jüdinnen und Juden. Dass antisemitische Ressentiments auf Projektionen von Jüdischem basieren, scheint nicht als Prämisse gegolten zu haben. Zum anderen impliziert diese Fragestellung, primär antizionistische Motive würden antisemitische Motive ausschließen.

Dieses zweigleisige Denken findet sich bereits in dem Artikel von Freia Anders und Alexander Sedlmaier. Während in der Ausstellung indes auch Texte und Materialien gezeigt werden, die andere Sichtweisen präsentieren, durchzieht die gesamte Argumentation von Anders und Sedlmaier das Bemühen, eine für sie brauchbare Historik zu entwerfen. Mehrdeutigkeiten geben sie keinen Raum. Aus den Quellen wählen sie jene Details aus, die sich in ihre Argumentation einfügen, die unpassenden Details bleiben unberücksichtigt. Eine auf Erinnerungsforschung basierende Quellenkritik der Erzählungen der Geiseln unterlassen sie. Auf den politischen Hintergrund der Revolutionären Zellen und deren Allianzen einerseits mit anderen terroristischen Gruppen, andererseits mit dem offenen linksradikalen Milieu der BRD, gehen sie nicht ein. Die Ermordung Dora Blochs, einer der Geiseln, die in Entebbe in ein Krankenhaus gebracht worden war, erwähnen sie nicht. Auf die Rolle Idi Amins gehen sie nur dann ein, wenn sie gegen antisemitische Motive der deutschen Entführer*innen argumentieren. Wie im Einzelnen bewusste und unbewusste antisemitische Ressentiments auf der Einstellungsebene mit antisemitischem Handeln in Beziehung stehen, wird als Frage nicht formuliert.

Die Frankfurter Ausstellungsmacher*innen hingegen betonen, sie wollten eine opferzentrierte Präsentation der Ereignisse. Das ist eine gute Absicht. Den „Fragen zum problematischen Verhältnis der deutschen Linken zum Staat Israel und zu Antisemitismus in der Szene“ nachzugehen, wie im Ankündigungstext formuliert, ist ohnehin ein Thema, zu dem es leider immer wieder aktuelle Anlässe gibt. Um dieses Thema zu erörtern, können die Erfahrungen der Geiseln Impulse geben und neue Perspektiven eröffnen. Das Begleitprogramm verspricht zudem Positionen, die zu jenen der Eröffnungsr­ednerin konträr sein dürften. Vielleicht war die Argumentation von Freia Anders ja inzwischen Gegenstand bei der Veranstaltung „Legitime Israelkritik oder Antisemitismus? Fortbildung zum Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus“. Wer die verpasst hat, kann Fortbildungen zum Thema Antisemitismus und Nahostkonflikt übrigens in der Bildungsstätte Anne Frank auch unabhängig von der Ausstellung buchen.

Die Ausstellung „Selektion von Entebbe?“ wird noch bis zum 21.12.2016 in der Bildungsstätte Anne Frank, Frankfurt/Main gezeigt.

Im Begleitprogramm spricht der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar am 30.11.2016 um 19 Uhr über den Tabubruch von Entebbe und die Verknüpfungen mit der linken Szene in Frankfurt.

Am Montag, 30. Januar 2017 um 19 Uhr spricht Dr. Gregor Gysi, MdB über „Israel und die Partei Die Linke“.

[1]     Die Zahlen werden je nach Quelle unterschiedlich angegeben. Diese Zahl wurde aus den ersten Zeitungsmeldungen ermittelt.

[2]     Zweite Text-Tafel, überschrieben mit „Selektion“.

[3]     Anders, Freia/ Sedlmaier, Alexander: „Unternehmen Entebbe“ 1976. Quellenkritische Perspektiven auf eine Flugzeugentführung.“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 22 (2013), S. 267–290; erneut abgedruckt in in einen Sammelband des Politikwissenschaftlers und Journalisten Markus Mohr aufgenommen: Markus Mohr (Hg.) 2016. Legenden um Entebbe: Ein Akt der Luftpiraterie und seine Dimensionen in der politischen Diskussion, Münster: Unrast. Markus Mohr schreibt u.a. für das „Neue Deutschland“ und für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

[4]     Anders und Seldlmaier betonen einleitend, es gehe ihnen allein um eine quellenkritische Rekonstruktion der Ereignisse, nicht darum, die Frage nach antisemitischen Ressentiments der Entführer*innen generell zu beantworten. Dennoch kreist ihre Argumentation darum, der Gruppenteilung einen antisemitischen Charakter abzusprechen (Anders/Sedlmaier 2013, S. 267)

[5]     Johann Petersen schreibt in der Wochenzeitung Jungle Wolrd, Freia Anders habe auf der Vernissage wörtlich die Überzeugung geäußert, „dass man von einer antisemitischen Selektion nicht sprechen kann“ (Johann Petersen,  Ehrenrettung des linken Antisemitismus? Eine neue Ausstellung und Diskussion über die Flugzeugentführung von Entebbe, Jungle World 39/16 (29.09.2016), http://jungle-world.com/artikel/2016/39/54922.html)

[6]     Frederik Schindler, 40 Jahre Entebbe: Eine Ausstellung erinnert an die israelische Geiselbefreiung 1976, Jüdische Allgemeine, 29.09.2016, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/26630; Johann Petersen, Ehrenrettung des linken Antisemitismus? Eine neue Ausstellung und Diskussion über die Flugzeugentführung von Entebbe, Jungle World 39/16 (29.09.2016), http://jungle-world.com/artikel/2016/39/54922.html. Die Ausstellung wurde zudem rezensiert von Hans Riebsamen: „Schau zur Operation Entebbe: In schlechter deutscher Tradition“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2016, http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/ausstellung-selektion-von-entebbe-in-bildungsstaette-anne-frank-14458158.html

[7]     Frederik Schindler, 40 Jahre Entebbe: Eine Ausstellung erinnert an die israelische Geiselbefreiung 1976, Jüdische Allgemeine, 29.09.2016, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/26630

[8]     Zweite Text-Tafel, überschrieben mit „Selektion“.

[9]     Nicht-jüdische israelische Staatsangehörige kommen nicht als mögliche Kategorie vor.

[10]   Schließt sie von der Eigenschaft „orthodox“ auf Erkennbarkeit? Das wäre ein Klischee, das der Heterogenität des orthodoxen Judentums nicht gerecht wird. Ohne ein weiteres Attribut, wie erkennbare Kleidung oder das öffentliche Praktizieren von Religiosität, sagt die Eigenschaft „orthodox“ für den geschilderten Sachverhalt nichts aus.

[11]   Anders und Sedlmaier fanden in Akten des Auswärtigen Amts die Kopie eines mit „PFLP“ überschriebenen Formulars, das für jeden Passagier Angaben vorsah u.a. zu Geburtsort und -datum, Beruf, Ausstellungs-Ort und -Datum des Passes, Start- und Zielflughafen, Begleitpersonen, vgl Anders/Sedlmeier 2013, s. 287, Fußnote 75 sowie Anders/Sedlmaier 2016, S. 31 (Abbildung), http://www.blickinsbuch.de/item/916cd07bbd73371b21b8801df21fdd9c. Ob den Entführer*innen das Formular erst in Entebbe von den hier dazustoßenden PFLP-Mitgliedern mitgebracht  wurde, lässt sich aus Anders/Sedlmaier nicht mit Sicherheit schließen, auch nicht, ob resp. von welchen Geiseln die Formulare überhaupt ausgefüllt wurden. Die Geisel Monika Epstein Khalepski erinnert sich allerdings, nach der Landung in Entebbe im Terminal „Papiere“  der PFLP ausgefüllt zu haben (Entrevista: La aventura del secuestro de Entebbe, contada por una protagonista, El Pais, 11.07.1976, http://elpais.com/diario/1976/07/11/sociedad/205884021_850215.html) Hierbei handelte es sich vermutlich um die von Anders und Sedlmaier gesichteten Formulare.;Offen bleiben muss indes, ob die Entführer*innen tatsächlich über eine Passagierliste verfügten, anhand derer sie überprüfen konnten, welche der Geiseln mit doppelter Staatsbürgerschaft sich mit welchem Pass ausgewiesen hatten.

[12]   Eine gesicherte Quelle zu diesen Zahlen, insbesondere zur gesamten Zahl jüdischer Passagiere, existiert meines Wissens nicht.

[13]   Dazu gehörte der oben erwähnte Kōzō Okamoto, der im Mai 1972 einen Anschlag auf den Flughafen Lod (Tel Aviv) verübt und 26 Menschen getötet hatte. Eine der Geiseln in Entebbe, Akiva Laxer, hatte dieses Attentat überlebt und war zudem wenige Monate später Zeuge des Anschlags des „Schwarzen Septembers“ bei den Olympischen Sommerspielen in München, bei dem 11 israelische Sportler getötet wurden. (Judy Maltz, 40 years after Entebbe, Israeli hostages reflect back on a saga of survival, Haaretz, 04.06.2016, http://www.haaretz.com/israel-news/1.723000 )

[14]   Anders/Sedlmaier 2013, S. 268

[15]   Diese ihrer Argumentation widersprechende Differenzierung erfolgt erst am Ende des Artikels, Anders/Sedlmaier 2013, S. 287

[16]   Akiva Laxer zit. in  Judy Maltz, 40 years after Entebbe, Israeli hostages reflect back on a saga of survival, Haaretz, 04.06.2016, http://www.haaretz.com/israel-news/1.723000

[17]   Anders/Sedlmaier 2013, S. 287

[18]   JTA, Most of the Freed Hostages Have Jewish-sounding Names; One is Definitely Known to Be an Israeli, 01.07.1976, http://www.jta.org/1976/07/01/archive/most-of-the-freed-hostages-have-jewish-sounding-names-one-is-definitely-known-to-be-an-israeli

[19]   Anders/Sedlmaier 2013, S. 286

[20]   Thomas Ammann: Von Auschwitz nach Entebbe: Israels Kampf gegen den Terror (2009), TV-Doku (50 Min.), ZDF/Arte (Anders/ Sedlmaier 2013, S. 272)

[21]   Möglicherweise wurde dieses Missverständnis begünstigt durch die mehrdeutigen Konnotationen des polnischen Worts „selekzia“, wie es in einzelne israelischen Presseberichten verwendet wurde (vgl. Ausstellung „Die Selektion von Entebbe“, Text-Tafel „Der Selektionsbegriff“, überschrieben mit „Rezeption“).

[22]   Anders/ Sedlmaier 2013, S. 287

[23]   Dass Ilan Hatuv der Sohn Dora Blochs war, erwähnen Anders und Sedlmaier ebenso wenig wie deren Ermordung.

[24]   Yossi Melman, Setting the Record Straight: Entebbe Was Not Auschwitz, Haaretz, 08.07.2011, http://www.haaretz.com/israel-news/setting-the-record-straight-entebbe-was-not-auschwitz-1.372131

[25]   Anders/ Sedlmaier 2013, S.285-286

[26]   Yossi Melman, Setting the Record Straight: Entebbe Was Not Auschwitz, Haaretz, 08.07.2011, http://www.haaretz.com/israel-news/setting-the-record-straight-entebbe-was-not-auschwitz-1.372131

[27]   Während des Libansischen Bügerkriegs verübten die Konfliktparteien mit Beginn des Jahres 1976 mehrere Massaker mit jeweils Hunderten bis Tausenden Toten. Im Juni 1976 wurde Tel al-Zataar, ein palästinensisches Flüchtlingslaer in Beirut, von christlichen Milizen belagert. Im August 1976 nahmen die Belagerer Tel al-Zaatar schließlich ein. Die Opferzahlen der Bewohner*innen werden mit 1000-3000 Toten angegeben. Da dieses Massaker erst nach der Flugzeug-Entführung stattfand, kann sich Böse indes nur auf die ersten Wochen der Belagerung bezogen haben. Mit der Referenz auf den Libanesischen Bürgerkrieg hätte er indes grundsätzlich auf sein Wissen darüber verwiesen, dass die größte Gewalt gegen Palästinenser zeitgenössisch nicht von Israelis, sondern von arabischen Konfliktparteien anderer Länder ausging.

[28]   ‚You’re wrong. I carried out terrorist acts in West Germany because the ruling establishment took Nazis and reactionaries into its service. I also know that in September 1970 the Jordanians killed more Palestinians than the Israelis did, as did the Syrians in Tel al-Zaatar [a battle that took place in 1976, during the Lebanese Civil War, in which Christians and Syrians massacred Palestinians].  My friends and I are here to help the Palestinians, because they are the underdog. They are the ones suffering.‘ zit. in Yossi Melman, Setting the Record Straight: Entebbe Was Not Auschwitz, Haaretz, 08.07.2011.

[29]   Yossi Melman, Setting the Record Straight: Entebbe Was Not Auschwitz, Haaretz, 08.07.2011, http://www.haaretz.com/israel-news/setting-the-record-straight-entebbe-was-not-auschwitz-1.372131

[30]   Ben-Porat, Yeshayahu/ Haber, Eitan/  Schiff, Zeev, Entebbe rescue, New York : Dell (1976), ein kurz nach der Befreiungd er Geiseln veröffentlichte journalistische Buch;zit.n. Anders/ Sedlmaier 2013, S. 274.

[31]   Anders/ Sedlmaier 2013, S. 274.

[32]   Anders/ Sedlmaier 2013, S. 276

[33]   Hier geben Anders und Sedlmaier als Quelle Ilan Hartuv an, nennen ihn indes nicht explizit. Sie verweisen lediglich in der Fußnote auf den bereits zitierten Artikel aus der Haaretz , in dessen Titel der Name Hartuvs nicht vorkommt (Yossi Melman, Setting the Record Straight: Entebbe Was Not Auschwitz, Haaretz, 08.07.2011).

[34]   Anders/ Sedlmaier 2013, S. 285

[35]   Dass Yitzhak David bei der Geiselnahme seine Erfahrung im Vernichtungslager Auschwitz assoziierte, geht auch aus dem Titel seiner im Jahr 1978 veröffentlichten Autobiographie hervor: „I Also Returned from Entebbe“ (Zohar Publishing House, 1978)

[36]   „The German woman hijacker was saying all kinds of anti-Semitic things,“  former hostage Ilan Hartuv told the BBC News website. „She was very nervous,“ he recalled. „She took the pin out of a hand grenade so if someone tried to grab her the plane would be blown up.“ zit. In  Raffi Berg, Recollections of Entebbe, 30 years on, BBC News  Website, 03.07.2006, http://news.bbc.co.uk/2/hi/middle_east/5101412.stm

[37]   Die Formulierung, die zweimal „Kontext“ enthält ist von Anders und Sedlmaier übernommen. Sie schreiben, durch die Erzählung der vermeintlichen „antisemitischen Selektion“ insbesondere in den filmischen Darstellungen zu Entebbe sei der zeitgenössische Kontext der Entführung vernachlässigt worden. Diesen „Kontext“ bezeichnen sie als „die nationalen Bestrebungen palästinensischer Organisationen im Kontext des Libanesischen Bürgerkriegs“.

[38]   Zu antijüdischen Implikation der antiisraelischen Agenda palästinensischer Terroristen vgl: Pfahl-Traughber, Antizionistischer Antisemitismus: Über die Besonderheiten im Spannungsfeld von antisemitischer und nicht-antisemitischer Israel-Kritik, Dossier: Antisemitismus, https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37954/antizionistischer-­antisemitismus (28.11.2006);  Samuel Sazborn, Antisemitism, http://ieg-ego.eu/en/threads/transnational-movements-and-organisations/international-social-movements/samuel-salzborn-­antisemitism#AntiZionistAntiIsraeli­Antisemitism ; speziell zur PFLP: Walter Laqueur/ Barry Rubin (Hg.), The Israel-Arab Reader, New York: Penguin Books, 2001

[39]   Zeitgenössich bereits Jean Améry: Der ehrbare Antisemitismus: Die Barrikade vereint mit dem Spießer-Stammtiscn gegen den Staat der Juden, Die Zeit, Améry, Jean: „Der ehrbare Antisemitismus.“, in: Die Zeit 30/1969 (25.07.1969), http://www.zeit.de/1969/30/der-ehrbare-antisemitismus), Simacha Flapan, 5.Juni 67. Der israelisch-arabische Krieg (eine Antwort auf Isaac Deutscher), Frankfurt/M. u.a.: borochov-press 1969, Michael Landmann: Dasœ Israelpseudos der Pseudolinken, Berlin, Colloquium Verlag1971; die erste wegweisende politikwissenschaftliche Dokumentation verfasste Martin Kloke (Israel und die deutsche Linke, Frankfurt /Main: Haag + Herchen 1994).

[40]   Susanne Bressan, „Dem Volk dienen!“ – Wie die RAF ihren Kampf gegen Faschismus, die USA und Israel erklärte https://www.hagalil.com/archiv/2008/04/raf-1.htm

[41]   vgl. Rensmann, Lars: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004

[42]   Zu den arabischen Adaptionen des europäischen Antisemitismus im Kontext arabisch-deutscher Kollaborationen während des Zweiten Weltkriegs vgl. Herf, Jeffrey: „Nazi Germany’s Propaganda Aimed at Arabs and Muslims During World War II and the Holocaust: Old Themes, New Archival Findings.“, in: Central European History 42 (2009), Nr. 4, S. 709-736.  Wie im einzelnen aus der islamischen Religion begründete Ausformungen des Antisemitismus mit dem europäischen Antisemitismus seit der Gründung des israelischen Staates konvergieren, ist ein Thema, das mit dem Erstarken der islamistischen Fundamentalismen und des sich auf den Islam berufenden Terrorismus immer relevanter wird. Wie indes öffentliche Zurückweisungen von Antisemitismus-Beschuldigungen zugleich antisemitisch argumentieren können, zeigt der Fall Ahmad al-Shukeiri, des ersten Vorsitzenden der PLO (1964-1967) ,vgl. Shemesh, Moshe: „Did Shuqayri Call for „Throwing the Jews into the Sea“?, Israel Studies 8.2 (2003) 70-81, http://muse.jhu.edu/article/48091 [10.1353/is.2003.0025] „, in: Israel Studies, 2003.

[43]  Autor des Drehbuchs ist Ernst Kinoy (1925-2004), ein Veteran des Zweiten Weltkriegs, der im deutschen Kriegsgefangenen-Lager Stalag IX-B interniert war, doch als Jude in das Zwangsarbeitslager bei Berga, ein Außenlager des KZ Buchenwald, verlegt worden war.

[44]   Anders/Sedlmaier 2013, S. 270

[45]   Autor des Drehbuchs ist Gerald Green (1922 – 2006), der jüdische Autor kämpfte für die US-Armee im Zweiten Weltkrieg n Europa.

[46]   Anders/Sedlmaier 2013.S. 270-271

[47]   Wiesel, Elie, The Trivializing of the Holocaust, in: The New York Times, 16.04.1978, http://www.nytimes.com/­1978/04/16/archives/tv-view-trivializing-the-holocaust-semifact-and-semifiction-tv-view.html?_r=0

[48]   Einge  Erinnerungen mit größerem Zeitabstand sind wiedrgegeben in: Judy Maltz, 40 years after Entebbe, Israeli hostages reflect back on a saga of survival, Haaretz, 04.06.2016, http://www.haaretz.com/israel-news/1.723000

[49]   JTA, Freed Hostages Tell Their Story, 02.07.1976, http://www.jta.org/1976/07/02/archive/freed-hostages-tell-their-story

[50]   JTA, Freed Hostages Tell Their Story, 02.07.1976, http://www.jta.org/1976/07/02/archive/freed-hostages-tell-their-story

[51]   Veröffentlicht in der spanische Tageszeitung „El País“:  Entrevista: La aventura del secuestro de Entebbe, contada por una protagonista, El Pais, 11.07.1976, http://elpais.com/diario/1976/07/11/sociedad/205884021_850215.html

[52]   Im Artikel steht „Todos los que no fuesen judíos o israelitas“ – nicht „isarelíes“, was  israelisch hieße, während israelitas die Religion oder das biblische Volk der Israeliten meint.

[53]   „Se hubiese podido hacer una película en aquellos momentos, con reminiscencias de una cierta época histórica…“

[54]   Anders/ Sedlmaier 2013: 288; Fußnote 77

[55]   JTA; Freed Hostages Tell Their Story, 02.07.1976, http://www.jta.org/1976/07/02/archive/freed-hostages-tell-their-story

[56]   Monika Epstein Khalepski erinnert sich, nach der Landung in Entebbe im Terminal „Papiere“  der PFLP ausgefüllt zu haben, Entrevista: La aventura del secuestro de Entebbe, contada por una protagonista, El Pais, 11.07.1976, http://elpais.com/diario/1976/07/11/sociedad/205884021_850215.html Hierbei handelte es sich vermutlich um die von Anders und Sedlmaier gesichteten Formulare (vgl. Fn 11)

[57]   Edward F. Mickolus/ Susan L. Simmons, The 50 Worst Terrorist Attacks,  Santa Barbara, Calif. u.a., Praeger  2014, S. 27. Für diesen Hinweis danke ich Martin Jander.

[58]   Zit. n. Johann Petersen: Eine neue Ausstellung und Diskussion über die Flugzeugentführung von Entebbe, Jungle World Nr. 39, 29. September 2016, http://jungle-world.com/artikel/2016/39/54922.html

[59]   Ankündigungstext, http://www.bs-anne-frank.de/ausstellungen/die-selektion-von-entebbe/

4 Kommentare

  1. Kommentar zur Stellungnahme der studentischen Kurator*innen v. 14.12.2016

    Danke an die Verfasser*innen der Stellungnahme, die mir auf diesem Weg Gelegenheit geben, meine Argumente noch einmal zu prüfen.

    Vorweg: Debatten zum Thema Antisemitismus eskalieren oft, besonders in Deutschland, dem Land der Mörder*innen der Shoah. Das ist eine Nachwirkung der Ungeheuerlichkeit der nationalsozialistischen Verbrechen. Wir können über Antisemitismus nicht sprechen, ohne das Wissen um die Shoah zu assoziieren – bewusst oder unbewusst, emotional, empathisch oder verbunden mit einer Scham- oder Verantwortungsabwehr. Wer in Deutschland nicht explizit neonazistisch ist, möchte verständlicherweise alles, was ihn mit dem Denken und Handeln der nationalsozialistischen Mörder*innen assoziieren könnte, von sich weisen. (Wobei diese Distanz auch in Deutschland bröckelt, wie aktuell der AfD-Politiker Bernd Pachal zeigt, der „die kluge Politik des Reichsprotektors Reinhard Heydrich“ lobt. [1])

    Zugleich sind antisemitische Ressentiments noch immer verbreitet und werden seit einigen Jahren in Deutschland und anderen Ländern wieder zunehmend öffentlich geäußert, verbal und in Form von handgreiflicher Gewalt gegen Jüd*innen.[2] Die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Zurückweisung des Antisemitismus und dessen messbarer Präsenz lässt sich zum einen mit dem Begriff der „Kommunikationslatenz“ [3] erklären, die in der oben beschriebenen Diskreditierung des Antisemitismus begründet ist. Zum anderen sind antisemitische Äußerungen und Handlungen nicht nur individuelle Ressentiments. Antisemitismus, wie auch Rassismus, hat sich innerhalb europäischer, religiöser wie säkularer Denktraditionen entwickelt und ist in Form von Epistemen und Denkmustern in Diskursen der Wissenschaft, Politik, Religion, Populärkultur präsent. Antisemitismus wie auch Rassismus diente immer wieder als Legitimation von Verachtung und Diskriminierung von Menschen, aber auch als Motivation für Massengewalt und Massenmorde.

    Was in Debatten um Antisemitismus häufig untergeht, ist, worum genau eigentlich gestritten wird und worauf sich Antisemitismus/ Antisemitismus-Kritik im einzelnen Fall bezieht. Ich möchte nicht, dass unsere Auseinandersetzung auf eine solche Weise eskaliert und gehe davon aus, dass Sie das auch nicht möchten. Ich möchte Sie daher dazu anregen, meinen Text noch einmal mit dem Gedanken zu lesen, dass ich Sie nicht persönlich angreife, dass ich Ihr Projekt nicht verunglimpfe, sondern es sachlich kritisiere und Sie als Ausstellungsmacher*innen und werdende Wissenschaftler*innen ernst nehme. Wenn ich in Ihren Texten Parallelen zur Argumentation von Anders/Sedlmaier sehe, dann sehe ich diese Parallelen in den Texten und nicht in den Personen.

    Zu Ihrer Stellungnahme möchte ich zunächst auf ein Missverständnis hinweisen: Mein Beitrag ist keine Rezension der gezeigten Ausstellung, sondern er analysiert anhand der von den Kurator*innen verfassten, erklärenden Ausstellungstexte, welche Widersprüche dem Ausstellungskonzept zugrunde liegen. Diesen Widersprüchen gehe ich in meinem Text, hauptsächlich anhand der zweiten Ausstellungstafel, nach und zeige, dass sich einige dieser Widersprüche bereits in einem im Jahr 2013 publizierten wissenschaftlichen Artikel finden. Dass mit der Co-Autorin dieses Artikels die Ausstellung eröffnet wurde, werte ich als Würdigung der Argumentation der Autorin. Wenn man den Begriff Rezension verwenden möchte, dann handelt es sich um eine Rezension des Ausstellungskonzepts anhand der erklärenden Ausstellungstexte.

    In meiner Kritik habe ich jeweils deutlich kenntlich gemacht, auf welche Texte ich mich beziehe. Wenn ich Vermutungen anstellte, habe ich auch diese als solche formuliert. Da meine gesamte Kritik lang und nicht schnell zu lesen ist, werde ich im Folgenden die einzelnen Punkte Ihrer Stellungnahme zunächst mit Zitaten aus meinem Text beantworten.

    Die Argumente in den einzelnen Punkten Ihrer Stellungnahme überschneiden sich zum Teil resp. verweisen aufeinander, weshalb ich nicht auf jeden Punkt gesondert eingehe und manche Punkte zusammenfasse:

    # Zu Punkt 6, dem Selektionsbegriff und seiner Konnotationen, bitte ich Sie, noch einmal die entsprechenden Passagen in meinem Text gründlich zu lesen. Ich schrieb:

    „Bei diesen Selektionen trennten Nationalsozialist*innen nicht die jüdischen von den nicht-jüdischen Inhaftierten […] Die Kategorisierung als ‚jüdisch‘ war der Entrechtung und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland bereits vorausgegangen. Die Selektionen in den Lagern waren nicht aus jenem Grund antisemitisch, weil sie Juden von Nicht-Juden getrennt hätten, sondern sie waren Teil der Organisation des Vernichtungsantisemitismus, zu dessen Zweck – der Ermordung der Jüdinnen und Juden –, die Nationalsozialist*innen die Vernichtungslager errichtet hatten. Die Analogie kann sich nur auf die genannten Aspekte der Selektionen beziehen. Viele andere Aspekte lassen sich schon deshalb nicht übertragen, weil jene nicht zur sofortigen Ermordung ausgewählten KZ-Inhaftierte nicht in die Freiheit entlassen, sondern zumeist als Arbeitssklav*innen eingesetzt und später ebenfalls ermordet wurden.“

    Ich verstehe nicht, warum Sie in Ihrer Stellungnahme Wolfgang Kraushaar gegen mich zitieren, wenn ich doch in meinem Text genau darauf hingewiesen habe, dass in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern (nicht nur in Auschwitz), das Kriterium für die „Selektionen“ eben nicht die Zuschreibung zum Judentum war, sondern die Kategorisierung, Entrechtung und Verfolgung bereits vorher stattfand.

    Mein darüber hinausgehender Punkt ist: Da es sich bei der großen Mehrheit der in Konzentrations- und Vernichtungslager Inhaftierten um als Jüd*innen Verfolgte handelte, selektierten die Nationalsozialist*innen in den Lagern – nach bestimmten Kriterien – mehrheitlich Jüd*innen von Jüd*innen. Auch ein großer Teil der Geiseln in Entebbe waren Jüd*innen. Daraus ergibt sich eine Analogie, die paradoxerweise zunächst einem Element des „Selektions-Narrativs“ zu Entebbe scheinbar widerspricht: Die von einigen Geiseln als Selektion erlebte Aussonderung nach den Kriterien der Angehörigkeit zum israelischen Staat und zum Judentum. Narrative sind indes Verdichtungen. Im Selektions-Narrativ sind die Analogien zu den einzelnen Stufen der antisemitischen Politik des NS bis hin zur Shoah verdichtet: Mit der Entführung eines Flugzeugs, das in Tel Aviv startete, konnten die Entführer*innen davon ausgehen, dass ein großer Teil der Passagiere jüdisch waren. Die Kategorisierung und Aussonderung der als jüdisch wahrgenommenen und israelischen Geiseln von den nicht-israelischen Geiseln überlagerte sich im Terminal in Entebbe mit der Aufteilung in Gruppen, die zur Freilassung respektive zur weiteren unmittelbaren Bedrohung mit dem Tod vorgesehen waren. An der Bewachung und Aufteilung der Geiseln waren zwei Deutsche maßgeblich beteiligt.

    Kriterien der Kategorisierung waren zunächst die israelische Staatsbürgerschaft und die Zuschreibung zum Judentum. Der ersten räumlichen Aufteilung lagen beide Kriterien zugrunde. Die nicht-israelischen Jüd*innen in der Gruppe der bis zur Befreiung durch das israelische Militär festgehaltenen Geiseln lassen sich nicht dadurch wegrechnen, dass auch jüdische Geiseln der Gruppe der Freizulassenden zugeteilt wurden. Sie lassen sich auch dadurch nicht wegrechnen, dass die Entführer*innen für die ersten Gruppe der Freizulassenden vorwiegend Alte, Frauen, Kranke und Kinder auswählten und zu diesen auch – wissentlich oder unwissentlich – Jüd*innen gruppierten, die diese Kriterien erfüllten. Dass auch Jüd*innen freigelassen wurden, schließt nicht aus, dass Frauen und Kinder sowie alte, zum Teil sehr alte Geiseln von den Entführer*innen bis zuletzt festgehalten wurden, weil sie von diesen als jüdisch resp. als jüdisch und israelisch kategorisiert worden waren.

    Der scheinbare Widerspruch birgt indes eine weitere Analogie zu den nationalsozialistischen Selektionen. Für die Freilassungen trennten die Entführer*innen die – zuvor nach israelischer Staatsangehörigkeit und zugeschriebenem Judentum kategorisierten – Geiseln zusätzlich nach dem Kriterium der Verwertbarkeit als Verhandlungsobjekte. Auch dies ist in meinem Text zu lesen.

    Die beschriebene Verdichtung von Analogien, Assoziationen und Erinnerungen an die Shoah und dem ihr vorausgehenden nationalsozialistischen Antisemitismus findet sich in den dokumentierten Erinnerungen der Geiseln in unterschiedlicher Form, Akzentuierung und Ausprägung. Das zeigt auch Ihre Ausstellung.

    Mit dieser Analyse „bestehe“ ich nicht auf dem Begriff der Selektion und stelle auch keine Kontinuität zwischen den nationalsozialistischen Selektionen und der deutsch-palästinensischen Flugzeugentführung her oder wie Sie es formulieren, „einen singulären Weg von der Rampe in Auschwitz direkt nach Entebbe“.

    Zu den unterschiedlichen Narrativen, in denen Bezüge zu nationalsozialistischen Selektionen vorkommen, differenzierte ich:

    „Für viele Menschen in Israel, Europa und Amerika hat „Entebbe“ eine besondere Bedeutung – weil sie selbst oder Angehörige die Aufteilungen als Geiseln erlebt haben. In Deutschland wurde die Entführung zudem von jenen besonders aufmerksam rezipiert, die mit den Zielen der Palästinenser sympathisierten, die Terroristen der Revolutionären Zellen in ihrem nicht-terroristischen  Lebensumfeld kennen gelernt hatten oder die, aus unterschiedlichen Gründen, für die Leiden der Opfer des Holocaust sensibilisiert waren. Dass einige dieser Rezipient*innen die Aufteilungen der Geiseln als eine einzige Selektion erinnern, in der Jüd*innen von Nicht-Jüdinnen getrennt worden seien, verdient der Differenzierung. Diese Differenzierung entzieht jedoch einzelnen Aspekten der Ereignisse in Entebbe nicht ihre Analogie zu nationalsozialistischen Selektionen in Konzentrationslagern. Es verliert auch nicht an Glaubwürdigkeit, wer sich auf die verdichtete Erzählung der „Selektion von Entebbe“ bezieht, um die eigene Nähe zum deutschen Linksterrorismus zu reflektieren und einzusehen, dass er/sie sich erst dann von diesen Milieus abwandte, als es ihm/ihr nicht mehr gelang, deren antisemitische Ressentiments länger auszublenden.“

    # Zu Punkt 1 und 5, „Das Zentrum der Ausstellung“ und der Ausstellungstitel „Die Selektion von Entebbe?“

    Zu Punkt 1 möchte ich Sie zunächst darauf hinweisen, dass ich nicht geschrieben habe, im Zentrum der Ausstellung stehe die Frage „ob die Aufteilung der Geiseln antisemitisch oder politisch motiviert war“, wie Sie es formulieren.

    Ich schrieb:
    „Im Zentrum der […] Ausstellung steht die Frage, ob die palästinensischen und deutschen Entführer*innen antisemitisch handelten, indem sie die Geiseln in zwei Gruppen trennten, um eine von beiden freizulassen und die andere im Terminal festzuhalten.“
    Ich stellte nicht „politisch“ und „antisemitisch“ als zwei Möglichkeiten gegenüber. Vielmehr verstehe ich „antisemitisch“ auch als politisch. Der erste inhaltliche Ausstellungstext nach der Einführung stellt die Wahrnehmung einiger Geiseln als „Eindruck einer antisemitischen Selektion“ dar und versucht diese Wahrnehmung als nicht den Tatsachen entsprechend einzuordnen [4], woraus ich, zusammen mit der im selben Text unmittelbar folgenden Argumentation, schließe, dass die zentrale Frage um diesen „Eindruck einer antisemitischen Selektion“ kreist. Insgesamt könnte meine Kritik ebenso wie die Ausstellung noch einmal eine Nachbearbeitung vertragen, in der die Differenzierung nach Motivation/Intention der Entführer*innen, der Handlung an sich und dem Erleben der Geiseln präziser zu verfolgen wäre. Grundsätzlich bleibe ich beim Kernpunkt meiner Kritik, dass diese Fragen nicht anhand der Ermittlung der jüdischen Identitäten der Passagiere zu diskutieren sind.

    # zu Punkt 5 und Punkt 1: Sie wollen den Titel der Ausstellung zum einen als Anregung zur Auseinandersetzung der „Korrektheit der Narrative“ verstanden wissen, zum anderen als Zusammenfassung Ihrer Intention, den Besucher*innen der Ausstellung selbst das Urteil zu überlassen über – ja, worüber? Ob der Begriff der Selektion angemessen ist? Ob die Aufteilung der Geiseln in Gruppen eine antisemitische Handlung darstellte? In den Ausstellungstexten dominiert die Frage nach dem antisemitischen Charakter5 [5], auch in den Texten zur Rezeption. „Antisemitische Gefangenenaufteilung?“ lautet zudem die Überschrift eines von einem Kurator der Ausstellung für die Zeitung der Universität Frankfurt verfassten Artikels über das studentische Projekt.[6]

    Tatsächlich verstehe ich die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Narrativen als eines der Ausstellung zugrundeliegende Anliegen – bei dem wiederum der Frage nach der „antisemitischen Gefangenenaufteilung“ [7] ein besonderes Gewicht zukommt. (Das sah übrigens auch der Rezensent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung so.[8]) Unabhängig davon sehe ich in der von Ihnen formulierten Intention zwei mit einander in Beziehung stehende Widersprüche: Der Anspruch eines nicht-wertenden Angebots von Perspektiven steht im Widerspruch zur Intention, die Besucher*innen sollten die Narrative, wie Sie es nun in Ihrer Stellungnahme pointiert formulieren, auf deren „Korrektheit“ befragen. Die Vorstellung, dass Narrative auf Ihre „Korrektheit“ befragt werden könnten, verweist nicht nur auf die Annahme, man könnte einzelne Narrative anhand einer genauen Rekonstruktion der Ereignisse zurückweisen (korrigieren), sondern steht darüber hinaus im Widerspruch zu dem Anspruch, die Opfer der Flugzeugentführung in den Mittelpunkt zu stellen.

    Zunächst: Wenn die Opfer der Flugzeug-Entführung im Mittelpunkt der Ausstellung stehen sollten, warum spiegelt sich diese Idee nicht im Titel wieder? Ein Titel wie „Entebbe – eine deutsch-palästinensische Flugzeugentführung aus der Sicht der Geiseln“ oder „Die Flugzeugentführung nach Entebbe – wer waren die Geiseln?“ oder kürzer: „Die Opfer von Entebbe“ oder „Das Trauma von Entebbe“ hätte nicht die Handlung der Entführer*innen und die darüber entstehenden Debatten betont, sondern das Erleben der Geiseln und die Nachwirkung der Entführung für die Geiseln. Dass die bekannten Namen der Geiseln in der Ausstellung markant präsentiert werden, dass ausgewählte Geiseln in der Ausstellung zitiert werden und einzelne Portraits auch als Flyer ausgelegt wurden, verweisen auf das tatsächliche Bemühen, den Opfern ein besonderes Gewicht zu geben. Doch weder im Titel noch in den Erklärtexten der Ausstellungstafeln kann ich eine Opfer-Zentrierung feststellen, sodass hier zumindest ein Widerspruch zwischen der formulierten Intention („wurde von uns im Einführungstext der Ausstellung als auch in den Pressemitteilungen immer wieder betont“) und der Realisierung des Ausstellungskonzepts deutlich wird.

    Sie schreiben weiter, es gehe Ihnen nicht darum, die Frage nach dem Charakter der Gruppenaufteilung zu beantworten, sondern die Narrative, die zu dieser Gruppenaufteilung entstanden sind, insbesondere die Debatten, die Sie innerhalb der deutschen Linken auslöste, nachzuzeichnen und zur Auseinandersetzung anzuregen.

    Ich verstehe unter „Opfer-Zentrierung“, das Leben und die Perspektive der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen, auch das Leben der Überlebenden nach der Freilassung respektive Befreiung. In der Darstellung der Opfer verbietet sich meinem Verständnis nach tatsächlich jede Wertung. Für mich lässt sich eine Opfer-Zentrierung nicht damit vereinbaren, jene Narrative und Debatten, die über die Opfer und die Flugzeugentführung entstanden sind, den gleichen oder einen höheren Stellenwert beizumessen als den Narrationen der Opfer. Die Erinnerungen der Opfer haben einen anderen Status als die daraus von unterschiedlichen Seiten generierten Narrative. Das wird weder in den Ausstellungs-Texten ausgeführt noch in Ihrer Stellungnahme. Stattdessen finde ich in der ersten erklärenden Ausstellungstafel nach der allgemeinen Einführung eben doch eine Wertung der „Narrative“, auch wenn diese Wertung nicht bewusst vorgenommen wurde. Nachdem zwei Geiseln zitiert und Erinnerungen eines „Teils der Geiseln“ als „Eindruck einer antisemitischen Selektion“ etikettiert wurden, wird schließlich konstatiert:

    „Die neueren historischen Forschungen stellen somit das dominante Narrativ einer Selektion von jüdischen und nicht-jüdischen Geiseln immer stärker in Frage […]“. [9]

    Ein Forschungs-Narrativ (die „neueren historischen Forschungen“), wird als korrigierendes Narrativ für bestimmte Opfer-Narrationen dargestellt. Das widerspricht nicht nur der Absicht, nicht werten zu wollen, sondern auch der Absicht, die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen.

    Vielleicht verstehen Sie unter Opfer-Zentrierung indes, die Erinnerungen der Opfer als Quelle für eine geschichtswissenschaftliche Darstellung heranzuziehen. Das würde indes eine entsprechende Vorgehensweise und Methodik erfordern. Zunächst müsste der gesamte verwendete Quellencorpus vorgestellt werden und eine quellenkritische Einordnung erfolgen. Diese Quellenkritik müsste Erkenntnisse der Gedächtnisforschung, möglichst auch der Traumaforschung berücksichtigen. Falls Sie diese Arbeit geleistet haben, dann spiegelt sich dies in der Ausstellung nicht wider. Die Formulierung „Der größte Teil der Geiseln wiederum erkennt …“ [10] ist irreleitend, denn es haben ja nicht alle und auch keine Mehrheit der Geiseln aus den drei Gruppen sich öffentlich geäußert oder Ihnen auf andere Weise ihre Erinnerungen zur Verfügung gestellt. Jene Geiseln, die sich geäußert haben, taten dies in unterschiedlicher Form, verschiedenen Medien und zu unterschiedlichen zeitlichen Abständen zur Entführung. Nicht nur diese Aspekte müssten in einem geschichtswissenschaftlichen Vorgehen berücksichtigt werden, sondern es müsste auch der aktuelle Forschungsstand nach wissenschaftlichen Maßstäben quellenkritisch geprüft und – bewertet – werden.

    #zu Punkt 4: Wie ich oben schrieb: Dass mit Freia Anders die Ausstellung eröffnet wurde, werte ich als Würdigung der Argumentation der Autorin in ihren Beiträgen zum Thema. Den Hinweis auf weitere Kooperationspartner und das weitere Begleitprogramm verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht. Auf dieses Begleitprogramm wird am Ende meiner Kritik empfehlend hingewiesen. Eine Vernissage stellt doch im Allgemeinen einen viel stärkeren Kommentar zur Intention einer Ausstellung dar als das übrige Begleitprogramm – es sei denn, die Einladung der Eröffnungsredner*innen wird nicht von den Austellungsmacher*innen mitentschieden. Im Übrigen sehe ich auch hier, weder in der Vernissage noch im weiteren Begleitprogramm, Ihre Absicht eingelöst, Sie wollten die Opfer in den Mittelpunkt rücken.

    Zu den weiteren Fragen verweise ich auf meinen Text:

    „Das Bemühen, das antisemitische Motiv der deutschen und palästinensischen Entführer*innen zurückzuweisen, ist bereits im Konzept der Ausstellung angelegt. Wie bewusst dies den  Kurator*innen war, ist fraglich, denn die Ausstellung präsentiert weitere Texte und Dokumente, die dieser konzeptuellen Argumentation widersprechen. Einen Impuls für das Konzept dürfte ein Aufsatz gegeben haben, den die Mainzer Historikerin Freia Anders gemeinsam mit dem im walisischen Bangor lehrenden Historiker Alexander Sedlmaier verfasste. Auch in diesem Aufsatz werden jene journalistischen und zeitgeschichtlichen Darstellungen zurückgewiesen, die den Umgang der Entführer*innen mit den Geiseln als antisemitisch charakterisieren. Dass die Ausstellungsmacher*innen dieser Interpretation ein besonderes Gewicht einräumen wollten, lässt das Begleit-Programm zur Ausstellung vermuten. Die Co-Autorin des Aufsatzes, Freia Anders, war als Vortragende ausgerechnet zur Eröffnung eingeladen.“

    „Im folgenden wird zunächst auf den für die Fragestellung zentralen Ausstellungstext[8] eingegangen, um anschließend die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit der Argumentation von Freia Anders und Alexander Sedlmaier aufzuzeigen.“
    „Die Ausstellung in der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank schildert die Ereignisse und die Aussagen der Zeugen differenzierter und ausgewogener. Auch die prominenten journalistischen Darstellungen erfahren hier eine differenziertere und besser kontextualisierte Kritik.“
    „Das Begleitprogramm verspricht zudem Positionen, die zu jenen der Eröffnungs­rednerin konträr sein dürften.“

    # zu Punkt 2: Die Ausstellungstafel „Selektion/ Die Selektion von Entebbe?“ argumentiert in diese Richtung; siehe „zu Punkt 1 und 5“ und „zu Punkt 4“ sowie in meinem Text insbesondere der Abschnitt „Argumentations-Akrobatik mit Identitäten“, in der ich die Argumentation der Ausstellungstafel „Selektion/ Die Selektion von Entebbe“ analysiere. Da es sich um die erste inhaltliche Ausstellungstafel handelt, wirkt diese als Filter für die Rezeption der weiteren Texte.

    # zu Punkt 3: s. „zu Punkt 1 und 5“, hier insbesondere der Abschnitt zur Opfer-Zentrierung.

    Abschließend stimme ich Ihnen in einem Punkt zu: Meine Kritik basiert auf einer intensiven Beschäftigung mit Ihrer Ausstellung. Wenn wir in vielen Punkten nicht übereinstimmen, bedeutet das nicht, dass eine*r von uns ein*e Antisemit*in wäre oder die Shoah verharmlosen würde. Ihre Ausstellung hat mich veranlasst, mich mit dem Artikel von Anders/Sedlmaier auseinanderzusetzen und weitere verfügbare Erinnerungen der Geiseln zu recherchieren. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Dennoch wollte ich Sie auf jene Punkte hinweisen, die in meiner Kritik vielleicht missverständlich formuliert waren. Bei dieser Gelegenheit habe ich nun einige Aspekte hoffentlich deutlicher und verständlicher formuliert.

    Anmerkungen:
    [1] „Der stellvertretende Vorsitzende der AfD-Fraktion, Bernd Pachal, hatte sich bei Facebook anerkennend über einen führenden Vertreter des Nazi-Regimes geäußert. Pachal lobte dort „die kluge Politik des Reichsprotektors Reinhard Heydrich“ in der damaligen Tschechoslowakei. ,Dieser stellte schon vom ersten Moment an die Weichen richtig:‘“. zit. aus Ingo Salmen, „AfD-Fraktionsvize lobt ‚kluge Politik‘ der Nazis, Der Tagesspiegel, 16.12.2016, http://www.tagesspiegel.de/berlin/bernd-pachal-aus-marzahn-hellersdorf-afd-fraktionsvize-lobt-kluge-politik-der-nazis/14989222.html [17.12.2016]
    [2] Zu Deutschland: Bundesministerium des Innern, Politisch Motivierte Kriminalität im Jahr 2014, Bundesweite Fallzahlen, S.5, ttp://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Nachrichten/Pressemitteilungen/2015/05/pmk-2014.pdf?__blob=publicationFile [17.12.2016]; Amadeu Antonio Stiftung, Chronik antisemitischer Vorfälle, Chronik antisemitischer Vorfälle, http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/die-stiftung-aktiv/themen/gegen-as/antisemitismus-heute/chronik-antisemitischer-vorfaelle-1/ [17.12.2016]
    [3] Werner Bergmann/ Rainer Erb (1991). „Mir ist das Thema Juden irgendwie unangenehm“ – Kommunikationslatenz und die Wahrnehmung des Meinungsklimas im Fall des Antisemitismus. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg. 43, 3, 502-519.
    [4] Ausstellungstafel „Selektion/ Die Selektion von Entebbe“
    [5] insbesondere durch die erste inhaltliche Ausstellungstafel, „Selektion/ Die Selektion von Entebbe?“, (vgl. Punkt 1), aber auch: Ausstellungstafel „Erinnerung/ Erinnern an Entebbe in Israel“; Ausstellungstafel „Rezeption/ Der Selektionsbegriff“, Ausstellungstafel „Rezeption/ 40 Jahre Diskussion über Entebbe“, Ausstellungstafel zu Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit.
    [6] Robert Wolff, „Antisemitische Gefangenenaufteilung?“, UniReport Nr. 6, 08.12.2016, S. 25, http://www.unireport.info/64338801 [17.12.2016]
    [7] s.o., zu Punkt 1
    [8] Hans Riebsamen: „Schau zur Operation Entebbe: In schlechter deutscher Tradition“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2016, http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/ausstellung-selektion-von-entebbe-in-bildungsstaette-anne-frank-14458158.html [17.12.2016]
    [9] Ausstellungstafel „Selektion/ Die Selektion von Entebbe“
    [10] Ausstellungstafel „Selektion/ Die Selektion von Entebbe“

  2. Sehr geehrte Frau Bressan,

    danke für Ihre Rezension der Ausstellung „Die Selektion von Entebbe?“ Sie verdeutlichen mit Ihrer Kritik, dass es uns als studentische Kuratorinnen und Kuratoren gelungenen ist, die Fragen um die Ereignisse in und um Entebbe im öffentlichen Diskurs wieder präsent zu machen. Dies war für uns eines der zentralen Vermittlungsziele.

    Zu jeder Diskussionskultur gehören Antworten auf Kritik. Daher möchten wir zu einigen Ihrer Punkte inhaltlich Stellung beziehen:

    1. Im Zentrum der Ausstellung steht nicht, wie von Ihnen ohne Belege und fälschlicherweise behauptet wird, die Frage, ob die Aufteilung der Geiseln antisemitisch oder politisch motiviert war. Vielmehr ging es uns darum, und das haben wir auch mehrfach deutlich gemacht, die nach der Flugzeugentführung entstandenen und teilweise politisch-forcierten Narrative zur „Selektion von Entebbe“ durch eine Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. An diesen, in der BRD unterrepräsentierten, Teil der Geschichte des deutschen Linksterrorismus sollte durch eine Ausstellung erinnert werden, die die Sicht der Opfer ins Zentrum rückt. Dies wurde von uns sowohl im Einführungstext der Ausstellung als auch in den Pressemitteilungen, die ebenfalls veröffentlicht wurden, immer wieder betont.

    2. Wie Sie auf die Idee kommen, die Konzeption der Ausstellung basiere auf einer Zurückweisung des Antisemitismusvorwurfs zu Gunsten der Entführer*innen, bleibt uns rätselhaft. Da wir, wie wir in Punkt 1 schon festgestellt haben, eben nicht die Aufteilung, sondern die daraus hervorgegangenen Narrative (zu denen beide Lesarten gehören) ins Zentrum der Ausstellung gerückt haben, ist ihr Vorwurf der ideologischen Nähe zu den Gegnern des Antisemitismusvorwurfs auf faktischer und intentionaler Ebene eine unbegründete Unterstellung.

    3. Die von Ihnen bemängelten Texte der Ausstellung (z.B. Text Selektion) dienen nicht dazu, unsere Meinung in die Ausstellung fließen zu lassen, sondern sind letztlich Texte, die den aktuellsten Forschungsstand zur „Selektion von Entebbe“ wiedergeben. In diesem Zusammenhang war und ist es uns wichtig, auch den neuesten Sammelband „Legenden von Entebbe“ (hrsg. von Markus Mohr) mit aufzunehmen, da dieser wichtig für die Narrativentwicklung im aktuellen Diskurs ist. Eine Ausblendung der aktuellen Forschungsdiskussion entspricht gerade nicht wissenschaftlichen Anforderungen. Dann hätten wir uns den Vorwurf, den wir aktuell von Ihnen erhalten, tatsächlich verdient gehabt, da wir damit letztendlich nur das Narrativ der antisemitischen Selektion vertreten hätten. Wichtig war es uns, beide Narrative darzustellen und uns zu fragen, woher diese kommen.

    4. Sie unterstellen uns, dass das Begleitprogramm auf die Revision des Antisemitismusvorwurfs abzielt, indem wir Freia Anders in der Eröffnungsveranstaltung zu Wort kommen lassen. Wie erklären Sie sich, dass Wolfgang Kraushaar, ein leidenschaftlicher Verfechter des antisemitischen Selektionsvorwurfs an Böse und Kuhlmann, ebenfalls eingeladen wurde? Wie bei solchen Projekten üblich, wird das Rahmenprogramm von mehreren Kooperationspartner entwickelt. Federführend für das Rahmenprogramm war die Bildungsstätte Anne Frank– einer Bildungseinrichtung, die seit Jahren aktiv gegen Antisemitismus eintritt. Wenn Sie die Veranstaltungen des Rahmenprogramms besucht hätten, wäre Ihnen sicherlich aufgefallen, wie intensiv über die verschiedenen Formen des Antisemitismus diskutiert wurde.

    5. Der Ausstellungstitel „Die Selektion von Entebbe?“ beruht keineswegs auf dem Aufsatz von Sedlmaier/Anders. Ihre Kritik an Anders/Sedlmaier teilen wir. Das Fragezeichen soll nicht den Charakter der Aufteilung der Geiseln in Frage stellen, sondern dient vielmehr als öffnende Interpunktion anhand eines Fragezeichens nach der Korrektheit der bestehenden Narrative. Die Ausstellungsbesucherin oder der Ausstellungsbesucher soll sich genau mit der Frage der Selektion auseinandersetzen und wie die Narrative entstehen. Ihre Kritik verdeutlicht, dass Sie sich mit der Frage intensiv auseinandergesetzt haben. Dies war unser Ziel. Wenn Sie nach dem Besuch der Ausstellung den Titel „Die Selektion von Entebbe!“ als passender gefunden hätten, dann spiegelt dies, wie intensiv Sie sich mit der Ausstellung auseinandergesetzt haben. Das Fragezeichen impliziert nicht, dass die Selektion an sich in Frage gestellt wird, sondern soll die Besucherin und den Besucher selbst entscheiden lassen, ob die Opfer die Ereignisse in Entebbe als Selektion wahrnahmen und welche Narrative sich aus den Ereignissen in Entebbe in den verschiedenen Kreisen entwickelten. Mit Ihrer Kritik zeigen Sie, dass wir dieses Ziel erreicht haben.

    6. Sie bestehen in Ihrer Rezension auf einer Verwendung des Begriffs der „Selektion““, der auf einem singulären Weg von der Rampe in Auschwitz direkt nach Entebbe führt. Wie im Vortrag von Wolfgang Kraushaar am 30.11.2016 im Rahmen des Begleitprogramms deutlich gemacht wurde, gab es in Auschwitz keine Selektion von Juden und nicht-Juden. Die Selektion von Gefangenen nach einer antisemitischen Logik wurde vor dem Transport getroffen. In Auschwitz wurden die Deportierten menschenverachtend nach Alter und Einsatzfähigkeit selektiert. Der gezeichnete singuläre Weg von Auschwitz nach Entebbe kann deshalb ebenso als Narrativ gesehen werden und erklärt wiederum unser Fragezeichen.

    Zusammenfassend folgt Ihre Rezension exakt einer der Linien, die wir versucht haben aufzuzeigen. Ihr Vorwurf, uns in eine revisionistische Ecke des Selektionsvorwurfs zu stellen und als Fürsprecher von Sedlmaier/Anders darzustellen, entbehrt jeglicher Grundlage. Der studentische Versuch, Narrative durch eine opferzentrierte Ausstellung aufzuzeigen, ohne zu werten, wird von Ihnen durch bisweilen haltlose und kontrafaktische Vorwürfe verunglimpft. Dennoch freut uns Ihre Kritik, denn davon lebt der wissenschaftliche Diskurs.

    Wir möchten Sie einladen, sich mit uns gemeinsam bis zum 21.12. die Ausstellung anzuschauen und über Ihre Vorwürfe zu diskutieren.

    Die studentischen Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellung „Die Selektion von Entebbe?“
    info@selektion-von-entebbe.de

  3. @ nussknacker56, es ist nichts dagegen einzuwenden, Erscheinungsformen von Ressentiments bis hin zu Gewalt in der politischen Linken und Rechten zu vergleichen. Mit dem Gleichsetzen macht man es sich hingegen zu einfach.

    An einem Beispiel lässt sich der Unterschied zwischen Vergleich und Gleichsetzen gut verdeutlichen: einer von der Historikerin Shulamit Volkov beschriebenen Analogie zwischen dem Antisemitismus in der politischen Rechten des deutschen Kaiserreichs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und dem Antizionismus in der politischen Linken seit den 1970er Jahren.

    Zum Stellenwert des Antizionismus in der politischen Kultur der Linken führt Shulamit Volkov aus:

    „Zur Debatte stehen hier gar nicht die tatsächlichen Fragen [zum Nahostkonflikt, SB]; zur Debatte steht der symbolische Wert, ihnen gegenüber einen Standpunkt zu beziehen. Leute, die sonst kritisch und differenziert denken, behandeln diese überaus komplexen Dinge schematisch und ohne Berücksichtigung der entscheidenden Einzelheiten. Sie tun das alles außerdem mit großer Leidenschaft, ja mit unverhältnismäßiger Heftigkeit.[…] Anscheinend sind nur wenige einzelne imstande, sich dieser Diktatur zu widersetzen.“

    (Shulamit Volkov: Antisemitismus und Anti-Zionismus. Unterschiede und Parallelen, in: „Antisemitismus als kultureller Code“, München, 2000, S.84.)

    Bei diesem Beispiel beschränkt sich die Analogie des gegenwärtigen Antizionismus zum Antisemitismus der politischen Kultur der Rechten im deutschen Kaiserreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts darauf, dass anhand eines imaginierten Kollektivs politische Anliegen verhandelt werden, die mit diesem Kollektiv selbst gar nichts zu tun haben. Dieses imaginierte Kollektiv sind für die politisch Rechten des Kaiserreichs „die Juden“, für die westlichen Linken seit den 1970er Jahren „Israel“ und „die Zionisten“. In welcher Weise antizionistische Argumentationsmuster explizit und implizit antisemitische Ressentiments integrieren, ist davon unabhängig zu betrachten.

    Kurz: Vergleichen lassen sich „links“ und „rechts“ – immer bezogen auf einen konkreten Gegenstand –, gleichsetzen hingegen nicht.

  4. Danke an hagalil und an die Autorin Susanne Bressan, dass sie diesen Skandal nochmals ans Licht der Öffentlichkeit zerren.

    Dieser schier unglaubliche Vorfall ist in der Öffentlichkeit kaum zum Thema gemacht worden. Auch im genannten Artikel in der „Jungle World“ wurde die Tragweite nicht ausreichend gewürdigt und z.B. die Verbindung von Freia Anders zur ,Roten Hilfe‘ nicht erwähnt.

    Dass Frau Bressan mit überzeugender Sachlichkeit und Genauigkeit die Behauptungen dieser Ausstellungsmacher auseinandernimmt und auf ihren wahren Kern entblößt, ist manchmal kaum auszuhalten ob ihrer (notwendigen) Zurückhaltung.

    Die „Historikerin“ Freia Anders aus Mainz assistiert den rotlackierten Faschisten Böse/Kuhlmann und bestreitet den antisemitischen Charakter der ersten Selektion von Juden durch Deutsche nach dem Dritten Reich. Wer dies, wie Frau Anders, in Abrede stellt und dafür pseudowissenschaftliche Argumente anführt, schafft es auch, den Selektionen an der Rampe von Auschwitz einen antisemitischen Charakter abzusprechen. Streng wissenschaftlich, versteht sich.

    Lange habe ich mich strikt geweigert, rechts und links gleichzusetzen. Zumindest im Fall Anders, Sedlmaier, Mohr und Konsorten weckt buchstäblich nichts auch nur den geringsten Zweifel in mir. Heute steht es für mich fest: Nur eine Minderheit innerhalb(?) der Linken ist davon freizusprechen.

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