Venedig – Die Juden und Europa 1516-2016

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Hochtechnologisch präsentiert sich die reichlich bestückte Ausstellung „Venedig. Die Juden und Europa“, die bis zum 13. November 2016 in den privaten Gemächern der venezianischen Dogen im Dogenpalast die Geschichte der komplexen Beziehungen zwischen Venezianern und Juden wieder aufrollt, die ab der ersten Jahrtausendwende Zuflucht in die Lagunenstadt fanden…

Von Anna Zanco-Prestel und Marco Zanco

Ein Kupferstrahl aus einer Multimedia-Installation, die einen Haufen Schlacken reproduziert, überrascht die Besucher im ersten der imposanten Räume, durch die sich die Schau entfaltet. Es steht stellvertretend für die ehemalige Gießerei, die dem Ort am Rande Venedigs den Namen gegeben hat, den das Judenviertel seit Jahrhunderten trägt: Ghetto. Ein Name, der mit der Zeit immer stärker belastet wurde und heute nur noch negativ besetzt ist. Das erste Ghetto der Geschichte war aber – wie die Schau zeigt – ein von geistiger Brillanz geprägter Ort, nach Außen offen und Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturen zwischen Okzident und Orient.

In das 1516 – vor exakt 500 Jahren – als ein trapezförmige Gebilde entstandene Ghetto – führen thematisch gegliederte D3 -Kurzfilme ein, die durch Berührung der entsprechenden Touch-Screens gestartet werden. Sie zeichnen z.B. einen Parcours von der externen Gasse bis in das Innere einer der 5 Synagogen auf. Die erzielte Wirkung ist spektakulär und liefert architektonische Details, die eine normale Fotokamera nicht erkennen würde. Eindrucksvoll die Rekonstruktion der Paläste, die nach der Emanzipation der Juden im XIX. Jht. und Erlangung der vollen Gleichberechtigung als Bürger der Stadt bei Gründung des einheitlichen italienischen Staates in jüdischen Besitz übergingen. Viele dieser Paläste – allen voran Palazzo Franchetti – besser bekannt als die „Ca‘ D’Oro“ – mit ihrer prächtigen gotischen Fassade – durften nur durch aufwendige Restaurierungsmaßnahmen zu neuem Glanz erblühen, wofür jüdische Familien mit großem finanziellen Aufwand und Liebe zur Kunst aufkamen. Neben Baron Franchetti zählen Namen wie Treves, Sullam, Pesaro, Vivante oder Grassini zu denjenigen, die Venedig insbesondere nach Ende der österreichischen Herrschaft zu neuem Leben erweckten. Zurückverfolgt werden mehrere Familienbiographien in Schaukasten mit interaktiven Bildern, die deren Leben und Wirken unter wichtigen Aspekten wiedergeben.

Die Baukunst ist Schwerpunkt der von der international bekannten Architektin Donatella Calabi kuratierten Schau, die sie in enger Zusammenarbeit mit dem IUAV – Istituto Universitario Architettura Venezia – entwickelt und gestaltet hat. Ein weiterer Touchscreen, in dem eine lodernde Flamme die Tore des Ghetto verschlingt, erinnert an dessen Aufhebung durch Napoleon im Jahre 1797 und markiert einen absoluten Wendepunkt im Leben der venezianischen Juden . Die Ausstellung besteht aus einer geglückten Kombination aus Exponaten, die das Leben innerhalb vom Ghetto darstellen und Gemälden aus venezianischen Museen mit biblischen Motiven, die die Aufmerksamkeit der Besucher wie ein Magnet auf sich lenken. Bilder von Vittore Carpaccio oder Giovani Bellini, die mit dem Judentum eigentlich nichts zu tun haben, gesellen sich zu Chagalls „Rabbi von Vitebsk“(1914-22), der aus der Galerie Moderner Kunst von Ca‘ Pesaro stammt. Aus dem selben Museum Giacomo Ballas Portrait der venezianischen „Patriotin“ Letizia Pesaro Maurogonato (1901) und – neben einzelner wertvollen Ritualgegenstände – , andere Bildnisse historischer Persönlichkeiten wie jenes der Dichterin Sara Copia Sullam oder des berühmten Rabbiners Leone da Modena, deren Ruhm die Grenzen des Ghetto weitgehend überschritt, sind Ansporn für manche Besucher, manche Bildungslücken zu schließen. Ein großes Portrait Shylocks im gestreiften schwarz-gelben Gewand ( Titina Rota 1934) hätte in einem solchen Kontext nicht fehlen dürfen und schon gar nicht im Shakespeares Jubiläumsjahr 2016! Szenen aus seinem „Merchant of Venice“ laufen auf einer Riesenleinwand in der Mitte der Schau. Sie zeigen die neue Inszenierung und allererste im Campo del Ghetto der Compagnia de’Colombari in Zusammenarbeit mit der Universität Ca‘ Foscari sowie Ausschnitte aus der legendären Verfilmung mit Lawrence Oliver in der Hauptrolle.

Ketubbah von Diana, Tochter von Gavri'el Baruch Caravaglio und Moseh, Sohn von Ya'aqov Baruch Caravaglio , Montag Nissan 14, 5483. (19. April 1723) Venedig, Museo Correr.
Ketubbah von Diana, Tochter von Gavri’el Baruch Caravaglio und Moseh, Sohn von Ya’aqov Baruch Caravaglio , Montag Nissan 14, 5483. (19. April 1723) Venedig, Museo Correr.

In Vitrinen wird auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Kultur eingegangen, die Venedig im XIX. u. XX. Jahrhundert bereichert haben. Die Deportation von 246 meistens Alten und Kranken aus Heimen und städtischen Krankenhäusern findet keine Erwähnung. Man spürt, dass etwas fehlt. Beim Verlassen der Ausstellung wird der Besucher eingeladen, die Fläche eines Touch Screens mit einer Hand zu berühren, um eine Spur von sich zu hinterlassen. Dabei wird man auf ein großformatiges Foto aufmerksam, das eine Gruppe von Frauen und Männern zeigt, die einen Mann in britischer Uniform mit einer Torah Rolle und einem Tallit um die Schulter umkreisen.

Überlebende – lässt sich vermuten – die – nach vollzogener Tragödie – wieder Einzug in das Ghetto halten, wo die Shoah auch ihre blutige Spur hinterlassen hat. Keine Erklärung dazu. Schweigen über das Unaussprechliche. Die Namen der Opfer der Razzien der Nazifaschisten zwischen 1943 und 1945 sind auf dem Denkmal des lituanischen Künstlers Arbit Blatas zu lesen, das erst in den 80er Jahren entstanden ist. Um sie zu finden, muss man das Ghetto selbst aufsuchen, wo seit einiger Zeit auch wenige Stolpersteine zu sehen sind. Neue Mauern aus Stacheldraht werden derzeit in Europa wieder errichtet. Ziel der Ausstellung ist es auch – nach Absicht ihrer engagierten Kuratorin – nachdenklich zu machen und dazu beizutragen, dass sie hoffentlich bald wieder verschwinden.

Ein Highlight unter den vielen Veranstaltungen und Fachtagungen, die ab März 2016 das Ghetto-Gedenkjahr begleitet haben, war sicherlich das Symposium „Venedig und das Hebräische Buch“ in der Biblioteca Marciana am Markusplatz, das in Zusammenarbeit mit der National Library of Israel in Jerusalem und mit Unterstützung der Rotschild-Foundation (Hanadiv) London organisiert wurde. Eine wichtige Initiative, die an die Bedeutung Venedigs als Ort, an dem im XVI. Jahrhundert erstmalig hebräische Bücher gedruckt wurden.

Aus den Vorträgen der hochkarätigen Referenten war spürbar zu entnehmen, wie „die jüdischen und christlichen Gemeinden nie untereinander undurchdringlich waren“ und dies speziell in den intellektuellen Kreisen, in jenen sehr elitären Akademien zu denen jüdische Gelehrte und sogar eine Frau wie die o.e. Sarah Copia Sullam Zugang hatten. Die Entstehung des Ghetto und dessen Bestehen über drei Jahrhunderte hinweg soll daher nicht wie ein in sich „geschlossenes Ereignis“ angesehen werden, sondern mehr und mehr wie eine „Geschichte von Verknüpfungen, Wechselbeziehungen und Vernetzungen. (Howard Tzvi Adelmann/ Queen’s University of Kingston – Ontario).

Weitere Informationen zur Ausstellung „Venedig. Die Juden und Europa“
Foto oben: Die Vertikale Sektion des Hauses im Ghetto Nuovo datiert vom 15.Februar 1777. Heute im Archivio di Stato – (Staatsarchiv) von Venedig, Ufficiali al Cattaver, b.277, dis I.

Rund um das Ghetto – Die Fotoschauen

Unter den Fotoschauen, die in diesem Jahr dem Ghetto gewidmet wurden, verdient die Ausstellung des sizilianischen Fotografen Ferdinando Scianna aus der Agentur Magnum, der in einer von der „Fondazione Venezia“ im Auftrag gegebenen Reportage seinen Augenmerk auf die Rituale in dem ihm bis dahin recht wenig bekannten jüdischen Glauben richtet.

Im Stil der Street Photography sind Portraits betender oder sich auf den Gottesdienst vorbereitender Geistlicher in der Synagoge entstanden, die sich zu Aufnahmen festlich gekleideter Besucher aus Amerika oder sonst wo aus der ganzen Welt gesellen, welche das Ghetto vor allem am Shabbat mit ihrer Präsenz wiederbeleben. Neben ihnen die vielen Gesichter, die das pulsierende Leben rund um den großen Platz dokumentieren: Der Besitzer der koscheren Bäckerei, der Antiquitätenhändler, die Galeristin , die Künstler. Zu sehen in den prächtigen Sälen des Museums Casa Tre Oci auf der Insel Giudecca mit Blick über den gleichnamigen Kanal auf San Marco.

(C) Ferdinndo Scianna / Agentur Magnum
(C) Ferdinndo Scianna / Agentur Magnum

Im Herzen vom Ghetto selbst zeigt die auf Fotografie spezialisierte Ikona – Galerie eine Reihe bisher unbekannter Portraits einer der Aushängeschilder der venezianischen Kunstszene: Peggy Guggenheim. Die aus New York stammende Schau zeigt die Protagonistin der künstlerischen Erneuerung in der Lagunenstadt der Nachkriegszeit in diversen Phasen ihres bewegten Lebens: Im Pariser Exil, in London, New York und immer wieder in Venedig, in ihrem in seiner Unvollendheit an das Bauhaus anklingende Palazzo Venier dei Leoni am Canal Grande, das zur „Biennale Permanente“ wurde. Peggy inmitten ihrer Freunden und Mitstreitern, Peggy neben den Werken der von ihr entdeckten oder geförderten Künstler wie Jackson Pollock, Alexander Calder oder Joan Miró, festgehalten von den namhaftesten Fotografen der Vor- und Nachkriegszeit: von Man Ray zu Berenice Abbott, von Gianni Berengo Gardin, Stefan Moses bis hin zu Robert E.Mates.

Peggy Guggenheim and Herbert Read 1939 in London Bild: Giséle Freund Peggy Guggenheim Collection Archives, courtesy IKONA Gallery- Venice
Peggy Guggenheim and Herbert Read 1939 in London, Bild: Giséle Freund, Peggy Guggenheim Collection Archives, courtesy IKONA Gallery- Venice

Geführt wird man in dem suggestiven Raum unter den Ghetto-Arkaden durch die Fotografie-Expertin sowie Gründerin und Leiterin der Galerie Živa Kraus, die – wie kein anderer – Peggy Guggenheim und ihr Umfeld bereits seit den 60er Jahren kennt. Ihr, der Kuratorin, ist die Idee zu verdanken, im diesem Ghetto-Jahr 2016 eine Schau der Jüdin zu widmen, die Amerika und ihre ruhmreiche Familie zweimal (1938 und 1947) in Richtung Europa verlassen hatte, um die europäische Kunst mit neuen Ideen zu befruchten. In ihrer Erzählung wird Peggy Guggenheim wieder lebendig. Ein Foto der jungen Mäzenin neben dem bekannten Kunstkritiker Herbert Read in London erinnert an die letzte Ausstellung in ihrer Ikona-Galerie – damals an der Brücke bei S.Moisé -, die Peggy Guggenheim noch besuchen konnte. Sie war der legendären Berliner Fotografin Giséle Freund gewidmet, für die Peggy Guggenheim kurz vor Kriegsbeginn eine umjubelte Ausstellung ihrer „Celebrities Collection“ in ihrer ersten Galerie an der Cork Street in London organisiert hatte. „Es gibt keinen Ausweg aus dem Ghetto“ – schreibt Živa Kraus in dem einleuchtenden Vorwort zum eleganten, informationsreichen Bilderkatalog in den Farben Blau/Weiß – „als der Mut, die Vision und das Handeln“. Peggy Guggenheim hat mit ihrem Mut ihre große Vision meisterhaft umgesetzt und bleibt deshalb für viele das Beispiel!