Muskeljudentum

Von Max Nordau
„Jüdische Turnzeitung“, Juni 1900

Vor zwei Jahren sagte ich in einer Ausschuß-Beratung des Baseler Kongresses: „Wir müssen trachten, wieder ein Muskel Judentum zu schaffen.“

Wieder ! Denn die Geschichte bezeugt, daß es einst ein solches gegeben hat.

Lange, allzu lange haben wir die Fleischabtötung geübt.

Ich drücke mich eigentlich ungenau aus. Die andern haben die Fleischabtötung an uns geübt, mit dem reichsten Erfolge, den hunderttausende von Judenleichen in den Ghettos, auf den Kirchenplätzen, an den Landstraßen des mittelalterlichen Europa bezeugen. Wir selbst hätten auf diese Tugend recht gern verzichtet. Wir hätten unsern Leib lieber gepflegt als abgetötet oder — bildlich und unbildlich — abtöten lassen. Wir wissen von unserem Leben einen vernünftigen Gebrauch zu machen und schätzen es nach seinem Werte. Wohl ist es uns weniger als den meisten anderen der Güter höchstes, aber es ist uns ein hohes Gut und wir umgeben ei gern mit Sorgfalt. Jahrhundertelang konnten wir es nicht tun. Alle Elemente der aristotelischen Physik waren uns knickerig zugemessen: Licht und Luft, Wasser und Boden. In der Enge der Judenstraße verlernten unsere armen Glieder, sich fröhlich zu regen; im Dämmer ihrer sonnenlosen Häuser gewöhnten unsere Augen sich ein scheues Blinzeln an; in der Angst der beständigen Verfolgung erlosch die Kraft unserer Stimme zu einem bangen Flüstern, das nur dann zu einem mächtigen Jauchzen anzuschwellen pflegte, wenn unsere Blutzeugen auf dem Scheiterhaufen das Sterbegebet ihren Henkern ins Gesicht schrieen. Aber jetzt ist ja der Zwang gebrochen, man gönnt uns den Raum, uns wenigstens körperlich auszuleben. Knüpfen wir wieder an unseren ältesten Ueberlieferungen an: werden wir wieder tiefbrüstige, strammgliedrige, kühnblickende Männer.

Diese Absicht des Zurückgreifens auf eine stolze Vergangenheit findet in dem Namen, den der jüdische Turnverein in Berlin gewählt hat, einen starken Ausdruck. „Bar Kochba“ war ein Held, der keine Niederlage kennen wollte. Als der Sieg ihn verließ, wußte er zu sterben. Bar Kochba ist die letzte weltgeschichtliche Verkörperung des kriegsharten, waffenfrohen Judentums. Sich unter Bar Kochbas Anrufung zu stellen, verrät Ehrgeiz. Aber Ehrgeiz steht Turnern, die nach höchster Entwicklung streben, wohl an.

Bei keinem Volksstamme hat das Turnen eine so wichtige erzieherische Aufgabe wie bei uns Juden. Es soll uns körperlich und im Charakter aufrichten. Es soll uns Selbstbewußtsein geben. Unsere Feinde behaupten, wir hätten dessen ohnehin schon viel zu viel. Wir aber wissen am besten, wie falsch diese Unterstellung ist. An ruhigem Vertrauen zu eigener Kraft fehlt es uns vollständig.

Unsere neuen Muskeljuden haben noch nicht die Heldenhaftigkeit der Vorfahren wiedererlangt, die sich massenhaft in die Arena drängten, um an den Kampfspielen teilzunehmen und sich mit den geschulten hellenischen Athleten und den kraftvollen nordischen Barbaren zu messen. Aber sittlich stehen sie schon heute höher als jene, denn die alten jüdischen Zirkuskämpfer schämten sich ihres Judentums und sichten mittels eines chirurgischen Kniffes das Zeichen des Bundes zu verheimlichen, wie wir aus den Strafreden der empörten Rabbiner wissen, während die Mitglieder des Vereins „Bar Kochbar“ sich laut und frei zu ihrem Stamme bekennen.

Möge der jüdische Turnverein blühen und gedeihen und zu einem an allen Mittelpunkten jüdischen Lebens eifrig nachgeahmten Vorbilde werden!

Aus: Max Nordau: Zionistische Schriften, Berlin 1923 (2. Auflage), S. 424-426.