Theodor Herzl – Aus den Tagebüchern

Herzls unermüdliche Arbeit für die zionistische Sache, sein Verhandlungsgeschick, seinen Sinn für Symbole und Inszenierung, seine Persönlichkeit und sein Charisma versteht man am Besten beim Lesen seiner eigenen Worte. Im folgenden geben wir Ausschnitte aus seinen Tagebüchern wider, die diese unterschiedlichen Aspekte zur Geltung bringen.

Der Judensache erstes Buch
Begonnen in Paris um Pfingsten 1895

Ich arbeite seit einiger Zeit an einem Werk, das von unendlicher Größe ist. Ich weiß heute nicht, ob ich es ausführen werde. Es sieht aus wie ein mächtiger Traum. Aber seit Tagen und Wochen füllt es mich aus bis in die Bewußtlosigkeit hinein, begleitet mich überall hin, schwebt über meinen gewöhnlichen Gesprächen, blickt mir über die Schulter in die komisch kleine Journalistenarbeit, stört mich und berauscht mich.

Was daraus wird, ist jetzt noch nicht zu ahnen. Nur sagt mir meine Erfahrung, daß es merkwürdig ist, schon als Traum, und daß ich es aufschreiben soll — wenn nicht als ein Denkmal für die Menschen, so doch für mein eigenes späteres Ergötzen oder Sinnen. Und vielleicht zwischen diesen beiden Möglichkeiten: für die Literatur. Wird aus dem Roman keine Tat, so kann doch aus der Tat ein Roman werden. 

Titel: Das Gelobte Land! (…)

Wann ich eigentlich anfing, mich mit der Judenfrage zu beschäftigen? Wahrscheinlich, seit sie aufkam. Si­cher, seit ich Dührings Buch gelesen. (…)

Zuerst hat mich die Judenfrage bitterlich gekränkt. Es gab vielleicht eine Zeit, wo ich ihr gern entwischt wäre, hinüber ins Christentum, irgendwohin. Jedenfalls waren das nur unbestimmte Wünsche einer jugendlichen Schwäche. Denn ich sage mir in der Ehrlichkeit dieser Aufschreibung — die völlig wertlos wäre, wenn ich mir etwas vorheuchelte — ich sage mir, daß ich nie ernstlich daran dachte, mich zu taufen, oder meinen Namen zu ändern. (…)

Das Hepp-hepp hörte ich mit meinen Ohren bisher nur zweimal. Das erstemal in Mainz auf der Durchreise 1888. Ich kam am Abend in ein billiges Konzertlokal, trank dort mein Bier, und als ich aufstand und durch den Lärm und Qualm zur Türe ging, rief mir ein Bursche „Hepp- hepp“ nach. Um ihn herum entstand ein rohes Gewieher.

Das zweitemal wurde mir in Baden bei Wien „Saujud“ nachgerufen, als ich im Wagen aus der Hinterbrühl von Speidel kam. Dieser Ruf traf mich stärker, weil er das merkwürdige Nachwort zu dem Gespräche war, das ich in der Hinterbrühl geführt hatte, und weil er auf „heimischem“ Boden ertönte.

In Paris also gewann ich ein freieres Verhältnis zum Antisemitismus, den ich historisch zu verstehen und zu entschuldigen anfing. Vor allem erkannte ich die Leere und Nutzlosigkeit der Bestrebungen „zur Abwehr des Antisemitismus“. Mit Deklamationen auf dem Papier oder in geschlossenen Zirkeln ist da nicht das mindeste getan. Es wirkt sogar komisch. (…)

Der Antisemitismus, der in der großen Menge etwas Starkes und Unbewußtes ist, wird aber den Juden nicht schaden. Ich halte ihn für eine dem Judencharakter nützliche Bewegung. Er ist die Erziehung einer Gruppe durch die Massen und wird vielleicht zu ihrer Aufsaugung führen. Erzogen wird man nur durch Härten.

Brief an Baron Hirsch, Paris.
Pfingstmontag, 3. Juni 1895

Eine Fahne, was ist das? Eine Stange mit einem Fetzen Tuch? — Nein, mein Herr, eine Fahne ist mehr als das. Mit einer Fahne führt man die Menschen wohin man will, selbst ins Gelobte Land.

Für eine Fahne leben und sterben sie; es ist sogar das Einzige, wofür sie in Massen zu sterben bereit sind, wenn man sie dazu erzieht.

Glauben Sie mir, die Politik eines ganzen Volkes — besonders, wenn es so in aller Welt zerstreut ist — macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben. Wissen Sie, woraus das Deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bändern – und in kurzer Zeit. Bismarck hat nur den Baum geschüttelt, den die Phantasten pflanzten.

Paris 9. Juni 1895

Gegen Palästina spricht Nähe Rußlands und Europas, Mangel an Ausbreitung, sowie Klima, dessen wir schon entwöhnt.
Dafür, die mächtige Legende.

Paris 12. Juni 1895

Selbstverständlich werden wir Andersgläubige achtungsvoll dulden, ihr Eigentum, ihre Ehre und Freiheit mit den härtesten Zwangsmitteln schützen. Auch darin werden wir der ganzen alten Welt ein wunderbares Beispiel geben.

Wien, 27. Jänner 1896

Güdemann hat die ersten Druckbogen gelesen, schreibt mir begeistert. Er glaubt, die Schrift werde wie eine Bombe einschlagen, werde Wunder wirken. Der Chief-Rabbi Adler habe ihm geschrieben, er halte die Sache für undurchführbar und zugleich für gefährlich. Der Chief-Rabbi hat eine zu gute Position, um Gefallen an meiner Sache finden zu können. Das alles irritiert mich nicht.

Erstausgabe “Der Judenstaat”, 1896, in der Sammlung des Jüdischen Museums der Schweiz, Foto: LGLou / CC BY-SA 4.0

Wien, 23. Februar 1896

Im Volkstheater viele Journalisten gesprochen. Meine Broschüre ist Stadtgespräch. Einige lächeln oder lachen über mich, aber im allgemeinen scheint die ernste Überzeugung meiner Schrift Eindruck gemacht zu haben.
Hermann Bahr sagte mir, er wolle gegen mich schreiben, weil man die Juden nicht entbehren könne. Pas mal!

Im Orientexpress, 17. Juni 1896

In Sofia erwartete mich eine ergreifende Szene. Vor dem Geleise, auf dem wir einfuhren, stand eine Menschenmenge — die meinetwegen gekommen war. Ich hatte total vergessen, daß ich das eigentlich selbst verschuldet hatte.
Es waren Männer, Frauen, Kinder da, Sephardim und Aschkenasim, Knaben und Greise mit weißen Bärten. Vorne stand Dr. Ruben Bierer. Ein Knabe überreichte mir einen Kranz aus Rosen und Nelken. Bierer hielt eine deutsche Ansprache. Dann verlas Caleb eine französische Adresse, und zum Schluß küßte er mir trotz meines Sträubens die Hand. In diesen und den folgenden Ansprachen wurde ich als Führer, als das Herz Israels usw., in überschwenglichen Worten gefeiert. Ich glaube, ich stand ganz verdutzt, und die Passagiere des Orientzuges starrten die fremdartige Szene erstaunt an.
Ich stand dann noch eine Weile auf den Waggonstufen und überblickte die Leute. Die verschiedensten Typen. Ein alter Mann mit Pelzmütze sah meinem Großvater Simon Herzl ähnlich.
Ich küßte Bierer zum Abschied. Alle drängten sich herzu, um mir die Hand zu geben. Sie riefen leschonoh haboh bijruscholajim. Der Zug fuhr ab. Hüteschwenken, Rührung. Ich selbst war ganz gerührt, insbesondere von der Erzählung eines Rumänen, der mir sein Leid klagte: er habe nach geleistetem Militärdienst auswandern müssen, weil man ihm das Bürgerrecht nicht gewährte.

London, 13. Juli 1896

Abends mein Massenmeeting im Eastend, im Working-men’s-Club.
Englisch-jiddische Plakate an den Mauern; im jiddischen Text wird fälschlich gesagt, ich hätte mit dem Sultan gesprochen.
Das Arbeiterklubhaus ist voll. Überall drängen sich Leute. Eine Theaterszene ist die Plattform, auf der ich frei spreche. Ich habe mir nur auf einem Zettel ein paar Schlagworte notiert. Eine Stunde lang spreche ich in der furchtbaren Hitze. Großer Erfolg.
Folgende Redner feiern mich. Einer, Ish Kischor, vergleicht mich mit Moses, Kolumbus usw. Der Vorsitzende, Chiefrabbi Gaster, hält eine feurige Rede.
Ich danke endlich in ein paar Worten, worin ich mich gegen die Überschwenglichkeiten verwahre.
Großer Jubel, Hutschwenken, Hurrahrufe bis auf die Gasse.
Es hängt wirklich nur noch von mir ab, der Führer der Massen zu werden; aber ich will nicht, wenn ich irgendwie die Rothschilds durch meinen Austritt aus der Bewegung erkaufen kann.

Folkestone, 15. Juli 1896

Ich hatte auf dem Podium der Arbeiterbühne am Sonntag eigentümliche Stimmungen. Ich sah und hörte zu, wie meine Legende entstand. Das Volk ist sentimental; die Massen sehen nicht klar. Ich glaube, sie haben schon jetzt keine klare Vorstellung mehr von mir. Es beginnt ein leichter Dunst um mich herum aufzuwallen, der vielleicht zur Wolke werden wird, in der ich schreite.

Baden, 23. August 1896

Mit dem Elektrotechniker Kremenezky lange gesprochen. Er ist ein guter Zionist mit modernen Ideen. Am sehr salzhaltigen Toten Meer ließen sich große chemische Industrien errichten.
Die jetzigen Süßwasserzuflüsse wären abzuleiten und als Trinkwasser zu verwenden. Ersatz der Zuflüsse aus dem mittelländischen Meer durch einen Kanal, der teilweise wegen der Gebirge als Tunnelkanal geführt werden müßte (eine Weltsehenswürdigkeit), und der Niveauunterschied der beiden Meere wäre (Wasserfall) zur Treibung von Maschinen zu verwenden. Viele tausend Pferdekräfte.
Auch sonst gibt es in Palästina genug elektrisch verwendbare Wasserkraft.
Wir müssen einen nationalen Baumverein zur Aufforstung des Landes gründen. Jeder Jude stiftet einen oder mehrere Bäume. Zehn Millionen Bäume!

Wien, 24. April 1897

Eine Perfidie von Bambus.
Ich erhalte heute von ihm die Anzeige, daß er an einige jüdische Blätter eine Berichtigung meiner Kongreßanzeige gesendet habe. Der Zweck ist klar: er will mich als einen hableur hinstellen, den Kongreß untergraben, vielleicht schon im Aufträge Scheids.
Als Vorwand gibt Bambus an, daß die Münchener Juden außer sich seien und gegen die Abhaltung des Kongresses in München protestieren.
Wie weit das wahr ist, ob nicht auch da die Intrigen des sich bedroht fühlenden Scheid dahinter sind, werden wir noch herauskriegen.
Vielleicht ist es nur platte Eifersucht der Berliner, die fürchten, daß ich die ganze Leitung in die Hand bekomme. (…)
Wenn man in München Miseren macht, gehe ich mit dem Kongreß nach Zürich.

Wien, 23. August 1897

Wir werden also sehen, was der Kongreß bringt. Hat er zur Folge, daß die politischen Mächte die Sache in Erwägung ziehen, daß mich beispielsweise der Deutsche Kaiser rufen läßt, so werde ich fortarbeiten. Wenn nicht, und wenn auch keine Bereitwilligkeit seitens der geldkräftigen Juden sich zeigt, die von mir mit so großen persönlichen und materiellen Opfern so weit gebrachte Aktion fortzuführen, so werde ich mich zur Ruhe begeben.
Wird mir das Präsidium des Kongresses angeboten, so nehme ich es jedenfalls nur für dieses eine Mal an. Auch wenn ich die Aktion weiterführe, will ich nicht mehr Kongreßpräsident sein.
Tatsache ist, was ich jedermann verschweige, daß ich nur eine Armee von Schnorrern habe.
Ich stehe nur an der Spitze von Knaben, Bettlern und Schmocken. Manche beuten mich aus. Andere sind schon neidisch oder treulos. Die dritten fallen ab, so. wie sich ihnen eine kleine Karriere eröffnet. Wenige sind uneigennützige Enthusiasten. Dennoch würde dieses Heer vollkommen genügen, wenn sich nur der Erfolg zeigte. Da würde es rasch eine stramme reguläre Armee werden.
Wir werden also sehen, was die nächste Zukunft bringt.

24. August 1897

Die Leitung dieser Verhandlung wird überhaupt ein, wie ich glaube, seltenes Kunststück sein, das keinen anderen Zuschauer haben wird, als den, der es aufführt.
Ein Eiertanz zwischen allen unsichtbaren Eiern.
1. Ei der N. Fr. Pr., die ich nicht kompromittieren darf, und der ich keinen Anlaß geben darf, mich hinauszubugsieren.
2. Ei der Orthodoxen.
3. Ei der Modernen.
4. Ei des österreichischen Patriotismus..
5. Ei der Türkei, des Sultans.
6. Ei der russischen Regierung, gegen die nichts Unliebsames gesagt werden darf, obwohl man die deplorable Lage der russischen Juden doch erwähnen muß.
7. Ei der christlichen Konfessionen wegen der heiligen Stätten. Kurz, es ist eine gedrängte Übersicht aller Schwierigkeiten, mit denen ich mich bisher herumschlug. Hierzu kommen noch ein paar andere Tanzeier.
Ei Edmund Rothschild.
Ei Chovevi Zion in Rußland.
Ei der Kolonisten, denen man Rothschilds Hilfe nicht “ verderben darf, lout en considerant leurs miseres.
Dann die Eier der persönlichen Differenzen.
Ei des Neides, der Eifersucht. Ich muß die Sache un-persönlich machen und kann doch die Zügel nicht aus der Hand lassen.
Es ist eine der Arbeiten des Herkules — ohne Über-schätzung — denn ich habe ja keine Lust mehr dazu.

30. August morgens, Basel

Die Geschichte des gestrigen Tages brauche ich nicht mehr zu schreiben; die schreiben jetzt bereits andere.
Ich war ruhig und sah auch gestern die kleinsten Details. Ich muß jetzt in die Sitzung und werde erst unterwegs auf der Rückreise die intimen Einzelheiten notieren: Nordaus Verstimmung in der Vorkonferenz, weil er nicht Präsident wurde, und wie ich ihn allmählich in mildere spirits brachte.
Viele waren gestern tief bewegt — ich war ganz ruhig, wie man beim Eintreffen der vorbereiteten Ereignisse sein soll. Nur als ich gleich nach meiner Akklamation zum Präsidenten den erhöhten Sitz bestieg und im Briefeinlauf den ersten Brief meines Hans fand, da war ich sehr gerührt. Ich schrieb vom Präsidialtisch — den ich in seiner heutigen Bedeutung nicht überschätze, der aber in der Geschichte wachsen wird — an meine Eltern und Frau und an jedes meiner Kinder, Pauline, Hans und Trude, eine Kongreß-Korrespondenzkarte.
Das ist vielleicht die erste Kinderei, die ich in der ganzen Bewegung seit zwei Jahren beging.

Der erste Zionistenkongress in Basel, National Photo Collection of Israel, D131-027

Wien, 3. September

Die letzten Tage, die wichtigsten seit der Empfängnis der Idee damals in Paris, sind nun vorübergerauscht. Ich war in Basel und auf der Rückreise zu erschöpft, um Aufzeichnungen zu machen, die doch nötiger sind als je, weil auch andere schon merken, daß unsere Bewegung in die Geschichte eingetreten ist.
Fasse ich den Baseler Kongreß in ein Wort zusammen — das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen — so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.
Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.

Wien, 17. Oktober 1897

An leeren Tagen bin ich zu matt, an vollen zu beschäftigt, um in dieses Buch etwas einzutragen. So wird es eigentlich immer ärmer, während die Bewegung immer reicher wird. Als ich den Roman meines Lebens aufzuschreiben begann, waren alle Schatten, die über meine Seele zogen, und alle Lichter auf diesen Blättern. Jetzt hat sich alles veräußerlicht. Größer fühle ich auch die Verantwortung, mich über Personen zu äußern, da diese Bücher offenbar dereinst Material für die Geschichte der Juden sein werden.
So geht vieles unverzeichnet vorüber.

Im Orientzug, 14. Oktober 1898

Der Abschied von meinen Lieben war diesmal recht schwer. Ich könnte ruhig in meinem schönen Hause bleiben, bei meinen schönen Kindern, deren rosigste Jugendzeit verstreicht, ohne daß ich sie genösse; die aufwachsen, ohne daß ich die Lieblichkeiten ihrer Entwicklung im einzelnen beobachtete. Und ich unternehme eine so weite, vielleicht nicht ungefährliche Fahrt. Ich bin sogar gewarnt worden, daß man mir in Palästina nach dem Leben trachten könnte. Die Warnung kam von Ben Jehuda, durch Dr. Werner.

Herzl und die zionistische Delegation auf dem Weg nach Palästina, Foto: The Herzl Museum via PikiWiki

Jerusalem, 29. Oktober 1898

Gestern früh fuhr ich zeitig hinaus nach Mikweh Israel. Ich war schon unwohl, hielt mich aber mit Anstrengung aufrecht. Das Bild der Zöglinge an den landwirtschaftlichen Geräten war sehr hübsch. Als Neugierige fanden sich auch die etwas hochmütigen freiherrlich Rothschildschen Administratoren ein. Dem Direktor Niego von Mikweh sagte ich, ich würde ihn dem Kaiser vorstellen, wenn mich dieser erkennen und ansprechen sollte. Niego bat mich, dies zu unterlassen, da es als eine zionistische Manifestation angesehen werden und ihm schaden könnte. Ich sei hier als Gast von Mikweh und solle ihn, den Direktor, daher nicht vorstellen. Eigentlich war das eine kleine Zurechtweisung, die ich aber dem sonst liebenswürdigen Manne nicht verargte.
Um neun kündigte eine Bewegung auf der mit einer mixed multitude von arabischen Bettlern, Weibern, Kindern und Reitern besetzten Landstraße das Herannahen des kaiserlichen Zuges an. Grimmige türkische Reiter sprengten mit verhängten Zügeln, drohenden Gewehren, noch drohenderen Rundblicken einher. Dann die Vorreiter des Kaisers. Und dort in einer grauen Gruppe mit einigen Damen er selbst.
Ich gab dem Schülerchor von Mikweh das Zeichen zum Absingen des „Heil Dir im Siegerkranz“ mit der Hand. Ich stellte mich an einen der Pflüge hin und zog den Korkhelm. Der Kaiser erkannte mich schon von fern. Es gab ihm einen kleinen Ruck, er lenkte sein Pferd zu mir herüber — und hielt vor mir an. Ich trat zwei Schritte vor; und als er sich auf den Hals des Pferdes niederbeugte und mir die Hand herunterstreckte, trat ich ganz dicht an sein Pferd heran, streckte meine Hand hinauf und stand entblößten Hauptes vor ihm.
Er lachte und blitzte mich mit seinen Herrenaugen an: „Wie geht’s?“
„Danke, Majestät! Ich sehe mir das Land an. Wie ist die Reise Majestät bisher bekommen?“
Er blinzelte mächtig mit den Augen:
„Sehr heiß! Aber das Land hat eine Zukunft.“
„Vorläufig ist es noch krank“, sagte ich.
„Wasser braucht es, viel Wasser!“ sprach er herab.
„Ja, Majestät! Kanalisierungen in großem Maßstab!“
Er wiederholte: „Es ist ein Land der Zukunft!“
Vielleicht sprach er noch einiges, was mir entfallen ist, denn mein Aufenthalt dauerte einige Minuten. Dann reichte er mir wieder die Hand herunter und trabte davon.

Jerusalem, 31. Oktober 1898

Wenn ich künftig deiner gedenke, Jerusalem, wird es nicht mit Vergnügen sein.
Die dumpfen Niederschläge zweier Jahrtausende voll Unmenschlichkeit, Unduldsamkeit und Unreinlichkeit sitzen in den übelriechenden Gassen. Der eine Mensch, der liebenswürdige Schwärmer von Nazareth, der in all der Zeit hier war, hat nur dazu beigetragen, den Haß zu vermehren.
Bekommen wir jemals Jerusalem, und kann ich zu der Zeit noch etwas bewirken, so würde ich es zunächst reinigen.
Alles, was nicht Heiligtum ist, ließe ich räumen, würde Arbeiterwohnungen außerhalb der Stadt errichten, die Schmutznester leeren, niederreißen, die nicht heiligen Trümmer verbrennen und die Bazare anderswohin verlegen. Dann unter möglichster Beibehaltung des alten Baustils eine komfortable, ventilierte, kanalisierte neue Stadt um die Heiligtümer herum errichten.

5. November 1898, morgens

Auf hoher See zwischen Jaffa und Alexandrien, an Bord des englischen Orangendampfers „Dundee“.
Jetzt erst halte ich unsere Expedition für beendet, und zwar mit einem ziemlich guten Erfolge.
In Palästina brannte mir der Boden unter den Fußen. Wenn die türkische Regierung nur einen Schimmer von politischer Voraussicht besäße, hätte sie mir diesmal das Handwerk legen müssen. Sie hatte dazu seit meinem Eintreffen in Konstantinopel eine vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit. Sie brauchte mich nur Landes zu verweisen. Oder sie konnte noch kürzeren Prozeß machen, indem sie mich von als Räuber verkleideten Gendarmen kurzerhand überfallen und beseitigen ließ.
Aber die Einsichtslosigkeit der Leute für meine Idee schadet mir nicht nur oft, sie nützt mir auch. Mein Plan wird nicht verstanden, darum wird er so wenig gefördert — und gestört.

Paris, 19. Juni 1899, im Hotel Castille

Ich steige aus Pietät immer noch in dem alten Haus ab, wo ich jetzt vor vier Jahren den „Judenstaat“ schrieb. Welcher Weg seither! Auch welche Müdigkeit. Mein Herz ist sehr strapaziert. Ich leide an Beklemmungen, Arhythmie.

Wien, 24. Januar 1902

Ich glaube, meine Wirkung als Führer ist darauf zu-rückzuführen, daß ich, der ich als Mensch und Schriftsteller so viele Fehler habe und hatte und so viele Fehler und Dummheiten beging, in der zionistischen Sache reinen Herzens und ganz selbstlos war.

Paris, 4. Juni 1902

Wieder in Paris.
Jetzt bin ich ein alternder und berühmter Mann.
Die junge Zeit war mir trotz ihrer Melancholien lieber.
* * *
(…) Manchmal kommt es vor, daß ein Mann von Wert auf verschiedenen Gebieten tätig ist. Dann wird er sicherlich nur dort anerkannt, wo das Schwergewicht seiner Persönlichkeit nicht liegt.
So bin ich zum Beispiel auf dem Felde, auf dem ich geistig fast gar nichts geleistet habe, sondern nur eine mittlere jedem Roßkamm erreichbare politische Geschicklichkeit entfaltete, in einer nur Dummköpfen nicht ganz klar verständlichen Sache — in der Judenfrage wurde ich als Agitator weltberühmt.
Als Schriftsteller, namentlich als Dramatiker, gelte ich nichts, weniger als nichts. Man nennt mich nur einen guten Journalisten.
Obwohl ich fühle, weiß, daß ich ein Schriftsteller von großer Rasse bin oder war, der nur sein volles Maß nicht gegeben hat, weil er angeekelt und entmutigt wurde.

Wien, 7. November 1902

Ich bin broken down, habe ausgespannt.
Bei der Jahreskonferenz, und was drum und dran, ermüdete ich mich so, daß ich seit Sonntag alle möglichen Herzzustände habe.
Die ganze Woche schleppe ich mich hin, unfähig, ein paar Zeilen zu schreiben.
Heute endlich habe ich mich bei der N. Fr. Pr. krank gemeldet.
Greenberg hatte ich nach Ägypten geschickt. Soeben erhalte ich von diesem ausgezeichneten Menschen eine Depesche aus Kairo, wo er vorgestern eintraf, daß er morgen früh zurückfährt, „everything all right“ und Mittwoch hier sein wird.
Sollten wir knapp vor dem Abschluß eines — englischen — Charters und vor der Begründung des Judenstaates stehen?
Die Erschöpfung meiner Kräfte läßt es glaublich erscheinen.
* * *
In seiner Besprechung von Altneuland sagte Dr. Ganz sehr hübsch:
„Kein Moses kommt in das Gelobte Land.“

Herzl mit Journalisten am Sechsten Zionistenkongress, Foto: lable from National Photo Collection of Israel, D131-013

Konstanz am Bodensee, 31. August 1903

Der schwere, große sechste Kongreß ist vorüber.
Als ich erschöpft mit den Freunden Zangwill, Nordau und Cowen vom Kongreßhause nach der Schlußsitzung zurückkehrte und wir uns in Cowens Zimmer um eine Flasche Mineralwasser herumsetzten, sagte ich ihnen:
„Ich will euch jetzt meine Rede vom siebenten Kongreß — wenn ich ihn erlebe — sagen.
Ich werde bis dahin entweder Palästina haben oder die vollkommene Aussichtslosigkeit jeder weiteren Bemühung eingesehen haben.
Im letzteren Falle wird meine Rede lauten:
Es war nicht möglich. Das Endziel ist nicht erreicht werden und wird in absehbarer Zeit nicht erreicht werden. Aber ein Zwischenresultat liegt vor: dieses Land, in welchem wir unsere leidenden Massen auf nationaler Grundlage mit Selbstverwaltung ansiedeln können. Ich glaube nicht, daß wir um eines schönen Traumes oder um einer legitimistischen Fahne willen den Unglücklichen diese Erleichterung vorenthalten dürfen.
Aber ich verstehe, daß in unserer Bewegung hiermit eine entscheidende Spaltung eingetreten ist, und dieser Riß geht mitten durch meine Person hindurch. Obwohl ursprünglich nur Judenstaatler — n’importe où — habe ich später doch die Zionsfahne ergriffen, und ich selbst bin ein Lover of Zion geworden. Palästina ist das einzige Land, wo unser Volk zur Ruhe kommen kann. Aber sofortige Hilfe tut Hunderttausenden not.
Um diesen Zwiespalt zu lösen, gibt es nur eins: ich muß von der Leitung zurücktreten. Ich werde, wenn ihr wollt, euch noch die Verhandlungen dieses Kongresses leiten, und zum Schluß wählt ihr zwei Aktions-Komitees, eines für Ostafrika und eines für Palästina. Ich lasse mich in keines mehr wählen. Aber ich werde denjenigen, die sich der Arbeit widmen, meinen Rat nie vorenthalten, wenn sie ihn verlangen. Und ich werde diejenigen, die sich dem schönen Traum hingeben, mit meinen Wünschen begleiten.
Durch das, was ich getan, habe ich den Zionismus nicht ärmer, aber das Judentum reicher gemacht.
Adieu!

Rom, 23. Januar 1904

Heute hatte ich meine Audienz beim König.
Bis 1/2 11 Uhr verschleuderte ich die Zeit im Hotel. Dann gab ich meinem Kutscher (coupé de remise) den Auftrag, langsam nach einem giro um 11 Uhr 5 Min. im Quirinal zu landen. 
Unterwegs, im altneuen Born, kam mir der Gedanke, eine Straße in Jerusalem zu bauen, welche Straße der Diaspora heißen soll und die Baustile aller Zeiten und Völker haben soll, durch die wir gezogen sind. Es soll eine Bauvorschrift für die einzelnen Abschnitte dieser Straße gegeben werden, und nur der den Grund (gratis?) erhalten, der sich verpflichtet, im Stil seines Abschnittes zu bauen.