Götz Aly, Historiker und Politikwissenschaftler, legt mit seinem neuen Buch eine bilanzierende Darstellung aus eigener Forschungssicht vor. Dabei stellt er berechtigt auf nicht genügend in der öffentlichen Aufmerksamkeit berücksichtige Faktoren ab, wenngleich auch damit die Frage in der Gesamtschau immer noch unbeantwortet bleibt.
Von Armin Pfahl-Traughber
„Wie konnte das geschehen?“, das ist wohl tatsächlich die deutsche Frage. Denn das Ausmaß an Gewalt und Schrecken, das von der nationalsozialistischen Diktatur für unterschiedliche soziale Gruppen ausging, weist tatsächlich Merkmale von historischer Singularität auf. Dieser Eindruck wird noch durch die Erkenntnis bestätigt, dass zuvor in der deutschen Gesellschaft andere politische und soziale Prinzipien gültig waren. Antworten auf die gestellte Frage haben unterschiedliche Publizisten und Wissenschaftler ausformuliert. Einer von ihnen ist Götz Aly, studierter Historiker und Politikwissenschaftler, der zahlreiche Bücher mit innovativen Erkenntnissen dazu vorgelegt hat. Gleichwohl bewarb er sich immer wieder erfolglos um eine Professur an einer Universität, was auch für die Engstirnigkeit und Ignoranz dortiger Verantwortlicher steht. Dies hielt Aly aber nicht davon ab, eher privat weitere Forschungen anzustellen. Als eine gewisse Bilanz davon legte er nun das Buch „Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 – 1945“ mit 762 Seiten vor.
Es handelt sich aber weder um eine Gesamtdarstellung zur Problemstellung, noch um eine Erörterung im systematischen Sinne. Man könnte eher von fragmentarischen Ergänzungen zur bisherigen eigenen und sonstigen Forschung sprechen. Dabei referiert Aly jeweils eigene einzelne Erkenntnisse, die aber als solche für eine allgemeinere Erklärung stehen sollen. Der Autor behauptet dabei nicht, die eigentlich richtige Deutung zu präsentieren. Er legt dies aber durch die Anordnung seiner Ausführungen nahe, manchmal auch durch spätere allgemeine Einordnungen in den Formulierungen. Genau darin besteht aber ein Problem bei der Vermittlung. Gleich im ersten Abschnitt geht es etwa um „Antisemitismus und soziale Mobilität“. Berechtigt wird darauf hingewiesen, dass die „Völkermorde der Jungtürken … ein Vorbild“ (S. 31) waren. Doch erklärt dies nicht allein viel. Auch wird anschaulich auf „Soziales Emporstreben – Quelle des Neids“ (S. 49) verwiesen. Doch einen ausgeprägten Antisemitismus gab es schon vor der eigentlichen „Judenemanzipation“.
Alys Auffassungen sind angesichts solcher Einwände nicht falsch, nur muss deren Gültigkeit jeweils in einem größeren Kontext gesehen werden. Dazu hätte es aber in der Darstellung eines breiter angelegten Erklärungsansatzes bedurft, der einzelne Gesichtspunkte in ihrem Wechselverhältnis thematisiert. Alle derartigen Einwände können aber viele Erkenntnisse nicht relativieren, insbesondere wenn es um den damaligen Opportunismus und Untertanengeist geht. Aly macht anschaulich anhand der Gewerkschaften deutlich, dass diese keineswegs nur durch Repression und Terror zerschlagen wurden. Einzelne Beispiele von Funktionären veranschaulichen, wie „elegant“ (S. 141) sie sich eingliedern ließen. Ein „stilles Mitmachen“ (S. 150) dominierte häufig. Der Autor malt sich angesichts von Bischof Galens öffentlicher Rede, die zur Einschränkung der Euthanasiemorde führte, demgegenüber aus, was gewesen wäre, wenn sich an solchen Protesten nur wenige andere prominente und weniger prominente Zeitgenossen beteiligt hätten.
Besondere Aufmerksamkeit muss darüber hinaus noch eine andere Deutung finden: Aly benennt häufig die von den Nationalsozialismus durchgeführte Sozialpolitik, die zu Loyalität und Ruhigstellung geführt habe. Demnach hätten sich viele Deutsche hinsichtlich ihrer Einstellung indirekt „kaufen“ lassen, sie seien nicht bloße Opfer von Repression gewesen. Gleichzeitig wurden Schulden um Schulden vom nationalsozialistischen Staat angehäuft. Dazu heißt es: „Hitler verursachte mit dem allein von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg die mörderischste Konkursverschleppung der Menschheitsgeschichte“ (S. 290). Der Holocaust erklärt sich auch dadurch mit, aber als alleinige oder primäre Ursache reicht dies doch nicht. Abschließend verweist Aly noch auf die breite öffentliche Kenntnis von den Massenmorden, womit die Bevölkerung über eine wissende „Mitschuld“ (S. 610) an das NS-Regime gebunden worden sei. Das ist zwar keine neue, aber eine wichtige Deutung, die unbedingt stärker ins Gedächtnis gerückt werden sollte. Aly sei Dank dafür.
Götz Aly, Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 – 1945, Frankfurt/M. 2025 (S, Fischer-Verlag), 762 S., Euro 34,00, Bestellen?



