Die Haftanstalt München-Stadelheim war im Nationalsozialismus eine „zentrale Hinrichtungsstätte“ und zählt damit zu den Hauptorten des NS-Unrechts in München. Über 1.000 Menschen wurden dort bis 1945 hingerichtet. Bewegende Dokumente sind nicht zugestellte Abschiedsbriefe von Verurteilten an ihre Angehörigen, die von der damaligen Gefängnisverwaltung oder den damaligen Strafvollzugsstellen zurückbehalten wurden. Mehr als 50 solcher Briefe finden sich in 844 sogenannten Hinrichtungsakten, die seit 1975 im Staatsarchiv München für wissenschaftliche und private Recherchen frei zugänglich aufbewahrt werden.
Diese Abschiedsbriefe sind nicht nur als Geschichtsquelle zum NS-Unrecht relevant, sondern auch als persönliche Zeugnisse für die Nachkommen der Hingerichteten. Um dieser Bedeutung Rechnung zu tragen, hat das Staatsarchiv München die Akten systematisch durchgesehen, digitalisiert und die Abschiedsbriefe identifiziert. „Die NS-Vergangenheit lässt uns nicht zur Ruhe kommen! Den Opfern des Unrechtsregimes Namen und Stimme zu geben, ist dabei wichtiger denn je, erklärt Dr. Bernhard Grau, Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns. „Wir freuen uns sehr mit den Arolsen Archives einen Partner gefunden zu haben, der es ermöglicht, die in unseren Archiven liegenden Quellenbestände um weitere Informationen zu ergänzen und so auch die heute noch lebenden Nachkommen der Betroffenen ausfindig zu machen.“
Die Suche nach Angehörigen beginnt
Die Staatlichen Archive Bayerns und die Arolsen Archives starten nun eine Kooperation zu den Abschiedsbriefen und Hinrichtungsakten. Ziel der im April 2025 vereinbarten Kooperation ist die Vernetzung des Aktenbestandes des Staatsarchivs München mit den Dokumenten in der Sammlung der Arolsen Archives. Gemeinsam mit ihrem europaweiten Netzwerk von Freiwilligen werden die Arolsen Archives zudem nach Adressaten der Abschiedsbriefe und Familien dieser NS-Opfer suchen, sie kontaktieren und ihnen auf Wunsch Kopien der Originalbriefe übergeben. Weitere Akten im Staatsarchiv München, darunter Strafverfolgungsakten vor dem Sondergericht München und Gestapo-Schutzhaftakten, liefern ergänzende Informationen und können bei der Suche nach Angehörigen helfen.
„Die Menschen in den Todeszellen nutzten ihre letzten Stunden meist, um sich von ihren Liebsten zu verabschieden,“ so Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives. „Unsere Aufgabe heute ist es, die Adressaten der Briefe und die Angehörigen zu suchen, um den zu Unrecht Verurteilten ihren letzten Wunsch zu erfüllen, denn das wurde damals nicht gemacht. Für die Familien kann das ungeheuer wichtig sein.“
Wer waren die Opfer?
Zwischen 1933 und 1945 wurde die Justiz für die Ziele des NS-Regimes instrumentalisiert und damit Teil des Unrechtssystems. Während dieser Zeit stieg die Zahl der mit der Todesstrafe belegten Straftaten von drei auf 46. Die „Rechtsprechung“ der Sondergerichte war politisch motiviert und sollte dem Machterhalt, der Ausschaltung von Gegnern und der Einschüchterung der Bevölkerung dienen. Die meisten der in München-Stadelheim hingerichteten Frauen und Männer, von denen Abschiedsbriefe überliefert sind, stammten aus Deutschland. Menschen aus Polen, Frankreich, Tschechien und weiteren europäischen Ländern zählen ebenfalls zu den Opfern. Sie waren zwischen 20 und 81 Jahre alt.
Die Vorwürfe lauteten etwa „Herabsetzung des Deutschtums“ oder „Äußerungen gegen den Nationalsozialismus“. Andere wurden wegen ihres Glaubens oder politischen Engagements verfolgt. Die vier Tage nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in Kraft getretene „Verordnung gegen Volksschädlinge“ öffnete die Tür für die Verhängung der Todesstrafe, beispielsweise schon bei kleinen Eigentums-Delikten. Die nationalsozialistische Justiz nutzte diese Verordnung gezielt, um Menschen, die dem Regime als „unerwünscht“ galten oder widerständig waren, zu verfolgen und umzubringen.
Vernetzung und Vermittlung
Die neue Kooperation zwischen dem Staatsarchiv München und den Arolsen Archives setzt ein Zeichen für einen modernen, vernetzten Zugang zu NS-Dokumenten. Sie kam nach einem Bericht des Bayerischen Rundfunks über die Briefe in den Hinrichtungsakten zustande. Die gemeinsamen Ziele bestehen darin, Forschung zu fördern, Angehörige von NS-Verfolgten in die Erinnerungskultur einzubeziehen und Verfolgungspraxen der
NS-Justiz in den Fokus zu rücken. Das Projekt wird von einer Vermittlungskampagne und öffentlichen Veranstaltungen begleitet.