„Liebe Kinder“

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Nach dem Terroranschlag auf eine Raststätte in Eli zogen extremistische israelische Siedler tagelang durch mehrere palästinensische Ortschaften und hinterließen eine Schneise der Verwüstung. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Selbstjustiz üben. Neu aber ist die Rückendeckung, die sie dabei von Ministern aus der Regierungskoalition erhalten.

Von Ralf Balke

Szenen, die anmuten wie aus einem schlechten Italo-Western. So stürmten am Mittwoch vergangener Woche mehrere hundert, zumeist juvenile und mit Sturmgewehren bewaffnete israelische Siedler durch das palästinensische Städtchen Turmus Ayya im nördlichen Teil des Westjordanlands und fackelten Dutzende Häuser, Felder und Autos ab. Darüber hinaus – das jedenfalls belegen Überwachungskameras – schossen sie mehrfach auf die Bewohner. Die Bilanz: ein toter Familienvater sowie mindestens vier Verletzte. Turmus Ayya war nicht die einzige Ortschaft, die ins Visier von Extremisten aus der Siedlerbewegung geraten sollte. Bereits tags zuvor waren sie durch Luban a-Sharqiya, Huwara, Beit Furik, Burin und andere Dörfern südlich von Nablus gezogen. Das Vorgehen folgte weitestgehend dem gleichen Muster. Gruppen von Siedlern springen plötzlich ihren Fahrzeugen, werfen Steine und Brandsätze, feuern wild um sich und ziehen dann wieder ab. Auch am Samstag wurden sie wieder aktiv, fielen in Umm Safa ein, und das, obwohl religiöse Juden, zu denen sich eigentlich zählen, am Schabbat nur in Ausnahmefällen die Schabbatruhe verletzen dürfen.

Auslöser dieses mehrtägigen Amoklaufs war der Terroranschlag auf eine Raststätte in Eli, einer israelischen Siedlung nördlich von Ramallah, bei dem vier Israelis, darunter zwei Teenager, ermordet sowie vier weitere verletzt wurden. Daraufhin begannen extremistische Siedler mit ihrem Rachefeldzug, unter anderem erneut in Huwara, wo es nach einem tödlichen Angriff auf zwei israelische Brüder bereits vor einigen Monaten zu ähnlichen gewaltsamen Übergriffen gekommen war. Zudem marschierten mehrere Dutzend Siedler bereits am Dienstag unmittelbar nach den Terroranschlag in Eli zu der Siedlung Yitzhar. Sie forderten die dort stationierte Einheit der Armee auf, endlich Vergeltungsmassnahmen einzuleiten. Nur mit Mühe konnten die Soldaten die aufgebrachten Siedler auf Distanz halten, wobei sie mehrfach Warnschüsse abgeben mussten.

Später dann reisten Vertreter der Siedler, darunter der Vorsitzende des Regionalrats für Samaria, der Bezeichnung der Siedlerbewegung für den nördlichen Teil des Westjordanlands, zu dem illegalen Außenposten Evyatar und verlangten von der Regierung, als Reaktion auf den Terroranschlag den Bau weiterer Häuser zu genehmigen. Mit von der Partie war unter anderem Zvi Sukkot, Abgeordneter der Partei der Religiösen Zionisten in der Knesset. Auch Itamar Ben Gvir, Minister für nationale Sicherheit und Vorsitzender der extremistischen Otzma Yehudit-Partei, nutzte die Gelegenheit, um eine weitere Militäroperationen zu fordern. „Wir müssen zu der Politik der gezielten Tötungen aus der Luft zurückkehren, Häuser sprengen sowie Straßensperren errichten, um Terroristen zu stoppen und endlich das Gesetz über die Todesstrafe für Terroristen verabschieden.“ Die von den Siedlern verursachten Verwüstungen und Übergriffe verurteilten weder Itamar Ben Gvir noch Bezalel Smotrich, Finanzminister und Chef der Partei der Religiösen Zionisten, kein Wort – ganz im Gegenteil. Sie zeigten Verständnis.

Anders dagegen die Armee- und Polizeiführung sowie des Inlandsgeheimdienstes. Am Samstag verurteilten in seltener Einigkeit mit einer gemeinsamen Erklärung Generalstabschef Herzi Halevi, der Leiter des Shin Bet, Ronen Bar, sowie Israels oberster Polizeichef Kobi Shabtai das Vorgehen der Sieder auf das Schärfste. „In den vergangenen Tagen kam es in Judäa und Samaria zu gewalttätige Attacken israelischer Bürger auf unschuldige Palästinenser“, heißt es darin. „Diese Angriffe widersprechen allen unseren moralischen sowie jüdischen Werten und stellen einen nationalistischen Terrorismus im wahrsten Sinne des Wortes dar. Wir sehen uns dazu verpflichtet, diesen zu bekämpfen.“ Die Selbstjustiz der Siedler bezeichneten sie ferner als eine Gefahr für die Sicherheit des Staates und das Leben seiner Soldaten. Auch Verteidigungsminister Yoav Galant meldete sich zu Wort und verurteilte diese Rachefeldzüge mit deutlichen Worten.

Damit war der Konflikt zwischen den Koalitionspartnern Netanyahus und den Chefs der Armee, der Polizei und des Inlandsgeheimdienstes quasi vorprogrammiert. „Der Versuch, eine Parallele zwischen mörderischem arabischem Terror und zivilen Gegenmaßnahmen herzustellen, wie schwerwiegend diese auch sein mögen, ist moralisch falsch und auf politischer Ebene gefährlich“, twitterte Bezalel Smotrich umgehend. „Die Armee und die Sicherheitskräfte müssen mit viel größerer Entschlossenheit gegen Terror und Ausschreitungen von Arabern vorgehen“, schrieb er weiter. „Wir können keine Situation akzeptieren, in der sich Siedler auf den Straßen und rund um die Siedlungen jeden Tag wie Zielscheiben fühlen und ihre Toten zählen.“ Orit Strock von den Religiösen Zionisten und als Ministerin zuständig für die Siedlungen legte verbal noch ein Schippe drauf und verglich die Armeeführung mit der russischen Wagner-Söldnertruppe, nur weil diese die Gewaltorgie der Siedler unmissverständlich als „Terror“ bezeichnet hatte.

Entsprechend hitzig ging es auf dem Treffen der verschiedenen Ressortleiter zu, das Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Dienstag anberaumt hatte, um sich über die Selbstjustiz und die Übergriffe im Westjordanland zu beraten. Itamar Ben Gvir spielte diese herunter, beschuldigte die anderen Teilnehmer der Heuchelei sowie der Übertreibung und nannte die marodierenden Siedler „liebe Kinder“, die durch die Verwaltungshaft zu Erwachsenen gemacht werden. „Ich selbst habe meinen ersten Haftbefehl im Alter von 18 bekommen. Ihr macht aus rotznäsigen Kindern Helden“, wurde er vom öffentlich-rechtlichen Sender Kan zitiert. Zudem blockierte der Minister für nationale Sicherheit jede Form einer Verurteilung der brandschatzenden Siedler, so dass es zu keiner Einigung kommen sollte. Die Verwaltungshaft ist eine äußerst umstrittene Massnahme, mit der Israel Verdächtige ohne Anklage festhalten kann. Bei jüdischen Verdächtigen komm sie nur sehr selten zum Einsatz, gegen Palästinenser dagegen häufig. Itamar Ben Gvir hat gegen diese Form der Haft opponiert, wenn es um ihre Verhängung gegenüber Juden geht, befürwortet aber ihren forcierten Einsatz bei arabischen Terrorverdächtigen.

Der Konflikt zwischen Verteidigungsminister sowie den Spitzen des gesamten Sicherheitsapparates einerseits sowie Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich andererseits zeigt exemplarisch, wie schwer es dem Ministerpräsidenten mittlerweile fällt, die Geister, die er rief, im Zaum zu halten. „Für die Extremisten, deren Aushängeschilder Ben Gvir und Smotrich heißen, für die Generation der Anarchisten der sogenannten >Hügeljugend<, sind die Forderungen des Sicherheitsapparats, das Gesetz auf keinen Fall in die eigenen Hände zu nehmen, völlig irrelevant geworden“, lautet dazu die Einschätzung von David Horovitz. „Sie selbst sehen sich als das Gesetz, vor allem in Judäa und Samaria“, so der Chefredakteur der „Times of Israel“ weiter. „Nur so waren als Reaktion auf die Ermordung von vier Israelis in der Siedlung Eli vergangene Woche an fünf Tagen in Folge die gewalttätigen Ausschreitungen gegen palästinensische Städte und Dörfer, Häuser und Felder möglich, bei denen auch mit scharfer Munition geschossen wurde.“ Die Tatsache, dass Bezalel Smotrich zudem einen Ministerposten innerhalb des Verteidigungsministeriums mit weitreichenden Kompetenzen im Westjordanland erhalten hat, dürfte diese Entwicklung noch verschärfen.

Selbst im nationalistischen Lager sorgen die Vorfälle mittlerweile für Unruhe. „Das Problem liegt nicht nur bei der Regierung“, schriebt beispielsweise Yaakov Katz, ehemaliger Chefredakteur der „Jerusalem Post“ und ein früherer Berater von Naftali Bennett. „Jahrzehntelang haben die Armee und die Polizei vor dem Problem der jüdischen Gewalt im Westjordanland die Augen verschlossen. Wir alle wissen, was passiert wäre, wenn eine Gruppe maskierter palästinensischer Männer mitten am Tag auf einer Hauptstraße im Westjordanland gestanden und geschossen hätte. Sagen wir mal, sie wären wahrscheinlich nicht mehr unter uns.“ Für Yaakov Katz hat diese Problematik auch eine außenpolitische Dimension und könnte strategische Ziele wie beispielsweise die Normalisierung der Beziehungen mit Saudi Arabien gefährden.

Unabhängig von den innenpolitischen Implikationen steht für Israel eine Menge auf dem Spiel, wenn Extremisten wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, die den ideologisiertesten Teil der israelischen Gesellschaft repräsentieren, weiterhin den Ministerpräsidenten blass und machtlos aussehen lassen. So sollte es hellhörig machen, wenn selbst die Redaktion der „Financial Times“, wie vor einigen Tagen geschehen, mit dem Verweis auf die aktuellen Geschehnisse einen Boykott von israelischen Produkten, die im besetzten Westjordanland hergestellt werden, fordert. Und die Antwort der Regierung auf den Terroranschlag von Eli, weitere 5.700 Baugenehmigungen für Siedlungen im Westjordanland, davon mehr als ein Viertel in Eli selbst, zu erteilen, kann schwerlich als eine Sanktionierung der übergriffigen Siedler gewertet werden und wurde deshalb insbesondere in Washington irritiert aufgenommen. „Die Vereinigten Staaten sind deshalb tief besorgt“, hieß es seitens des State Departments dazu. Für Benjamin Netanyahu bedeutet das weiteres Ungemach, weil sich Israels wichtigster Verbündeter nicht nur brüskiert zeigt, sondern jenseits des Atlantiks die Sorge größer wird, dass der jüdische Staat sich von der westlichen Wertegemeinschaft weiter verabschiedet. Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir jedenfalls dürfte das alles egal sein.

Bild oben: Screenshot Twitter