Der Gelehrte, der ins Wasser fiel – Eine Geschichte von Barry Stewart Mann

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Aus dem Projekt „Treasures from Jewish Storytellers – Jüdische Geschichtenerzähler aus aller Welt und ihre Lieblingsgeschichten“

The Scholar who fell into the Water – by Barry Stewart Mann

 

Der Gelehrte, der ins Wasser fiel

Es war einmal ein Gelehrter, der hatte in allen Künsten Meisterschaft erlangt, hatte die Heiligen Schriften studiert und wusste alles über Musik, Poesie und Malerei, aber es gab eine Kunst, in der er noch nicht bewandert war: die Zauberei. Also beschloss er, sich auf die Suche nach einem Lehrer zu machen, der ihn die Magie lehren könnte. Er hatte gehört, dass die größten Zauberer der Welt im fernen Ägypten zu finden seien, und so machte er sich auf die weite Reise.

In der ersten Nacht kehrte er in einem Gasthaus am Rande einer großen Wüste ein. Das Gasthaus wurde von einem freundlichen Wirt geführt, der war bescheiden und achtungsvoll, und der Gelehrte beschloss, dort zu übernachten.

Am nächsten Morgen fragte ihn der Wirt: „Wo willst du hin, mein Freund?“  Und der Gelehrte antwortete: „Ich bin ausgezogen, um die Kunst der Magie zu erlernen. Ich gehe nach Ägypten, wo es, wie ich gehört habe, die besten Zauberer gibt.“ Der Gastwirt sagte: „Oh ja, das habe ich auch gehört, aber, mein Freund, ich bin selbst ein Zauberer, und wenn du hier bleiben magst, würde ich gerne mein Wissen mit dir teilen!“ Der Gelehrte war sich sicher, dass der Mann, der doch so bescheiden war, einen Scherz gemacht hatte. Also lächelte er und erwiderte: „Ach, ist es so weit gekommen, dass sich die Gastwirte jetzt in Zauberer verwandelt haben?“ Auch der Gastwirt lächelte und nickte.

Als der Reisende sich bereit machte, das Gasthaus zu verlassen, sagte der Wirt zu ihm: „Mein Freund, du bist dabei, dich auf eine lange Reise durch die Wüste zu machen, möchtest du dich vielleicht erfrischen, bevor du aufbrichst?“ Der Gelehrte nickte dankbar. „Ja, das wäre eine gute Idee!“

Also brachte der Gastwirt eine große Schüssel mit Wasser und stellte sie vor dem Gelehrten auf den Boden. Dieser beugte sich über die Schale, um mit der Hand etwas Wasser zu schöpfen, als er plötzlich das Gleichgewicht verlor und mit dem Kopf voran ins Wasser fiel. Aber die Schüssel, die weniger als eine Armlänge maß, schien plötzlich endlos weit und so tief wie der Ozean. Er merkte, wie er fiel, tiefer und tiefer, und er ruderte verzweifelt mit den Armen und versuchte an die Oberfläche zu schwimmen, aber als ihm das schließlich gelang, fand er sich nicht in der Schüssel wieder, sondern in den sturmgepeitschten Wellen des Meeres, über ihm dunkle Wolken, und es kostete ihn seine ganze Kraft, sich über Wasser zu halten. In der Ferne sah er ein Schiff und mit der wenigen Luft, die er bekam, rief er um Hilfe und winkte mit den Armen. Die Männer auf dem Schiff sahen ihn schließlich, sie steuerten auf ihn zu, und dann warfen sie ihm ein Seil zu und zogen ihn an Bord. Sie befragten ihn, wer er sei und woher er käme, und als er es ihnen sagte, meinten sie, von diesem Land hätten sie noch nie gehört. Doch als sie länger mit ihm sprachen, merkten die Seeleute, wie reich an Wissen und Weisheit er war. „Wir wissen nicht, wie wir dich in deine Heimat zurückbringen können, aber wir nehmen dich gerne mit in unser Land, du könntest unser Richter und unser Herrscher sein!“

Der Gelehrte war einverstanden, er kam mit ihnen und wurde zum Herrscher gewählt, und er vergaß sein altes Leben. Er regierte das Land mit Güte, Gerechtigkeit und Sanftmut, aber auch mit Festigkeit.

Die Jahre vergingen und er lebte ein gutes Leben, aber es kam eine Zeit, da griff ein feindliches Volk die Wahlheimat des Gelehrten an, eroberte und plünderte das Land. Sie machten viele Gefangene, darunter auch den Gelehrten, und sie verkauften sie in die Sklaverei. Und so wurde er von einem Besitzer an den anderen zur Schwerstarbeit weiterverkauft, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Er beobachtete alles, traf Vorbereitungen und machte Pläne, bis die beste Gelegenheit zur Flucht kam, und als der richtige Augenblick da war, schlich er sich fort und lief in die Wildnis. Er ging so lange, wie er sich auf den Beinen halten konnte, und schließlich kroch er auf allen Vieren durch den Wüstensand, in verzweifelter Suche nach seiner alten Heimat, nach seiner Wahlheimat, nach irgendeinem Zuhause. Aber um ihn herum war nur Wüste, die Sonne brannte herab, ihn dürstete nach Wasser und er sehnte sich nach Schatten.

Da sah er vor sich mächtige Felsen, zwischen denen sich ein Spalt auftat, der nach einer Höhle aussah. Er schleppte sich in die Höhle und atmete die kühle Luft ein, dankbar für die wohltuende Dunkelheit. Da geschah etwas Seltsames: ein kleiner Vogel erschien im Eingang der Höhle und zwitscherte „Twiet-twiet! Twiet-twiet!“ und es war, als verstünde der Gelehrte die Sprache des Vogels, und er folgte ihm hinaus aus der Höhle. Und draußen, im Sand vor der Höhle, stand eine Schüssel voller Wasser. Er sah hinein, sah sein eigenes Spiegelbild, und dahinter spiegelte sich das Gesicht des Gastwirts, in dessen Wirtshaus er vor so vielen Jahren gewesen war. Schon ein ganzes Leben schien es her.

Der Wirt legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: „Mein Freund, du hast eine ganze Weile mit Waschen verbracht – bist du nun bereit, auf deine Reise nach Ägypten zu gehen?“

„Nein, meine Reise endet hier.“ Denn der Gelehrte hatte keinen Zweifel mehr, dass der Gastwirt in der Tat ein überaus begabter Zauberer war. Und so beschloss er, das Angebot des Gastwirts anzunehmen, seine Kunst und sein Wissen mit ihm zu teilen. Er blieb bei ihm und lernte von ihm die Kunst der Magie.

Übersetzung: Moira Thiele

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