Der kleine Jonathan

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Das Motiv vom Kleinen Kadi taucht schon in 1001 Nacht auf, doch die Geschichte vom kleinen Jonathan ist auch ein Abbild der unsicheren Lage der kleinen jüdischen Gemeinden in den Städten des Mittelalters…

Erzählt von Moira Thiele
Aus dem Projekt „Jüdische Geschichten aus aller Welt“

Der kleine Jonathan

Im Schatten der zinnenbekrönten Stadtmauer mit ihren Wachtürmen drängten sich einfache hölzerne Läden Wand an Wand. In einem der Läden verkaufte ein Metzger seine Ware, im angrenzenden Laden handelte ein Jude mit Gewürzen.

Dem Metzger war sein jüdischer Nachbar schon lange ein Dorn im Auge, zumal der Gewürzhändler mehr verdiente als er selbst.

Eines Tages entdeckte der Metzger, dass er, wenn er ein Brett an der Rückwand seines Ladens entfernte, durch eine Ritze genau in den Hinterraum des Gewürzladens sehen konnte. Da saß der jüdische Händler an seinem Tisch und zählte laut die Einnahmen der Woche, genau nach Münzen sortiert. Das Geld verstaute er in einen samtenen Beutel und legte diesen in seinen Schrank. 

Da fasste der Metzger, der ihn genau beobachtet und gehört hatte, einen bösen Plan.

Er lief zur Stadtwache und bezichtigte seinen jüdischen Nachbarn des Diebstahls.

Er gab an, wie viele goldene, silberne und kupferne Münzen ihm angeblich fehlten und beschrieb genau den Beutel, in dem sie waren.

Die Wachleute durchsuchten den Gewürzladen und fanden das Geld. Natürlich bestritt der Gewürzhändler jeglichen Diebstahl und beteuerte, das Geld gehöre ihm.

Doch keiner glaubte ihm, zumal der Metzger Zeugen anbrachte, die bestätigten, den Beutel und das Geld bei ihm gesehen zu haben. Sie hetzten die neugierige Menge auf: „Schaut euch den Gewürzkrämer an, habgierig und verlogen wie alle Juden!“ Und sie verlangten eine harte Bestrafung.

Der Gewürzhändler wurde der Gerichtsbarkeit übergeben, und es sah übel für ihn und die kleine jüdische Gemeinde aus. In der Zeit, die bis zum Prozess verging, heizten der Metzger und seine Kumpane eine gefährliche Stimmung des Hasses an, die mit jedem Tag bedrohlicher wurde.

Das Urteil schien schon festzustehen, auch wenn der Richter eigentlich im Rufe stand, gerecht gegen jedermann zu sein. Der Rabbiner, Rabbi Ephraim, wusste dies und suchte den Richter auf.

„Euer Ehren“, sagte er, „ich bin in großer Sorge um den Ausgang des Prozesses, in dem Ihr morgen Recht sprechen werdet. Der Metzger wiegelt die Leute gegen uns Juden auf, unsere Feinde wollen uns vertreiben, wenn nicht noch Schlimmeres. Unser aller Leben ist in Gefahr, wenn der Gewürzhändler schuldig gesprochen wird!“

Der Richter schätzte den Rabbi als klugen und aufrechten Mann, war aber dennoch über seinen Besuch gar nicht erbaut. „Rabbi Ephraim, Ihr hättet nicht zu mir kommen dürfen! Wenn man euch hier bei mir sieht, wird das nur noch mehr böses Blut machen! Geht heim und lasst Euch besser nicht mehr blicken! Ich werde ein paar Schritte mit Euch gehen, damit Ihr sprechen könnt, falls ihr Beweise für die Unschuld des Gewürzhändlers habt!“

„Ich habe keine Beweise außer meiner Menschenkenntnis!“, sagte der Rabbi.

„Ich kenne Abraham, den Gewürzhändler, als gottesfürchtigen und unbescholtenen Mann. Warum sollte ein ehrlicher und tüchtiger Kaufmann, der gute Geschäfte macht, es nötig haben zu stehlen?“

„Ich würde Euch gerne glauben, Rabbi, aber nichts und niemand spricht für den jüdischen Händler. Der Metzger hingegen hat Zeugen. So wie die Dinge stehen, kann ich den Gewürzhändler nicht freisprechen!“

Rabbi Ephraim blieb stehen, denn sie waren bei seinem Haus angekommen.

„Dann bleibt uns nichts anderes, als von hier zu fliehen. Wie soll ich es nur meiner Familie sagen, vor allem meinem kleinen Sohn Jonathan, der hier aufgewachsen ist?!“

Im Hof des Hauses spielten Kinder, und unter ihnen war auch Jonathan. Als die beiden Männer näher traten, sahen und hörten sie, dass die Kinder eine Geschichte spielten.

Es war die Geschichte, von der die ganze Stadt sprach. Der kleine Jonathan spielte offenbar den Richter, denn er sagte gerade zu einem der anderen Jungen: „Also, Metzger, was hast du für Beweise vorzulegen?“

Der Junge rief: „Na, den Beutel aus Samt, da ist alles so drin, wie ich’s gesagt habe, und Zeugen habe ich auch noch, die sagen genau das Gleiche wie ich!“

„Nu, auch ein Zufall!“ entgegnete der Junge, der den Gewürzhändler spielte.

„Deine Freunde lügen doch für dich! Woher willst du denn überhaupt so viel Geld haben –  deinen Saftladen besuchen doch mehr Fliegen als Kunden!“ Da trat ihm der kleine „Metzger“ gegen das Schienbein, und sie begannen sich zu prügeln.

Jonathan rief: „Hört auf! Holt mir lieber einen Topf mit heißem Wasser aus der Küche!“  Die beiden Raufbolde hielten inne. „Wozu soll das denn gut sein? Bist du meschugge?“

„Nein, im Gegenteil, ich glaub, ich hab’ die Lösung! Lasst uns Wasser heiß machen und Münzen hineinwerfen! Wenn dann auf dem Wasser Fettaugen schwimmen, gehört das Geld dem Metzger, der bei seiner Arbeit immer fettige Finger hat. Und wenn kein Fett zu sehen ist, dann gehört das Geld dem Gewürzhändler, und der Metzger ist ein Dieb und ein Lügner und muss bestraft werden!“

Der Richter und der Rabbi, die unbemerkt zugehört hatten, sahen einander an.

„Einen klugen Sohn habt Ihr, Rabbi Ephraim!“ sagte der Richter mit einem Lächeln.

„Vielleicht hat er mir einen Weg gezeigt, dem Angeklagten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich bin mir wohl bewusst, was dabei für die Juden in dieser Stadt auf dem Spiel steht!“

Am nächsten Tag strömten die Schaulustigen jeden Alters und Geschlechts zum Gerichtssaal, der bis zum Bersten voll war. Dann begann der Prozess in Gegenwart des Metzgers, seiner Zeugen und des Angeklagten. Der Richter ließ den Beutel mit den Münzen in einen Kessel kochend heißen Wassers entleeren.

Die Oberfläche blieb klar und durchsichtig. Nur ein paar trockene Krümel waren mit den Münzen aus dem Beutel gefallen und verbreiteten einen kräftigen Duft.

Da hörte man eine helle Kinderstimme rufen: „Das riecht ja wie im Gewürzladen vom Juden Abraham!“

Plötzlich herrschte Totenstille, alle sahen sich an, nur der Metzger blickte zu Boden und lief rot an. „Nun, Metzger,“ sagte der Richter, „lass uns einmal deinen Laden genau ansehen!“ Da wusste dieser, dass man das lose Brett finden würde, das den Blick in den Nachbarladen freigab, und er gestand.

Er wurde verurteilt, ebenso wie seine falschen Zeugen; der Gewürzhändler wurde freigelassen und bekam sein Geld zurück.

Rabbi Ephraim war sehr stolz auf seinen Sohn, und die ganze Gemeinde atmete erleichtert auf – die Gefahr von Vertreibung und Tod war für dieses Mal gebannt.

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