Sprüche der Väter

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Neu übersetzt und als Zeugnis antiker Philosophie gedeutet…

Als „Sprüche der Väter“ – hebräisch Pirke Avot – wird eine kleine Spruchsammlung bezeichnet, die zumindest früher jeder aus Religionsunterricht und Synagoge kannte. Noch heute gilt sie als klassisches Zeugnis des alten rabbinischen Judentums. Die etwa um 250 u.Z. abgeschlossene Sammlung spiegelt das Leben in der Zeit, die unmittelbar auf die biblische Epoche folgte. In der neuen Übersetzung von Bernhard Lang haben die Sprüche der Väter erstmals einen Platz in „Reclams Universal-Bibliothek“ gefunden. Daraus nachstehend einige Leseproben. 

Sprüche der Väter. Das Weisheitsbuch im Talmud. Übersetzt, erklärt und herausgegeben von Bernhard Lang. Stuttgart: Reclam 2020. (Universal-Bibliothek Nr. 14042.) 138 S. 5.20 Euro.

Leseprobe aus dem Abschnitt „Stimmen aus der Literatur“:

„Im 20. Jahrhundert hat das nicht-orthodoxe Judentum den Sprüchen der Väter wenig Beachtung geschenkt. Das war ein schlimmer Fehler, denn die Sprüche sind für das Verständnis den Judentums grundlegend. Wer die Vätersprüche nicht kennt, kennt das Judentum nicht. Und wer sie kennt, kennt das Herz des Judentums, ganz gleich, ob er Jude ist oder nicht.“ William Berkson, 2010, amerikanischer Pädagoge.

Aus Übersetzung und Kommentar:

  • Rabban Schimon ben Gamliël lehrte: „Durch der Dinge drei ist der Welt Bestand beschieden: durch Recht, durch Treue und durch Frieden.“ (I, 18)
  • Rabbi Josse: „Deines Nächsten Geldbeutel sei dir lieb wie der eigene. Strenge dich an, Tora zu lernen, denn sie fällt dir als Erbschaft nicht zu! Alles, was du tust, sei im Namen des Himmels getan!“ (II, 12) – Der erste der drei Sprüche ist eine Kaufmannsregel.
  • Rabbi Nechonja ben Hakkana sprach (den Rätselspruch): „Wer auf sich nimmt der Tora Joch, dem nimmt man ab des Königs Joch und das Joch des Alltagstuns. Wer von sich wirft der Tora Joch, dem legt man auf des Königs Joch und das Joch des Alltagstuns.“ (III, 5) – Lösung des Rätsels: der Sabbat! Am Sabbat ist der Jude vom Joch eigener Erwerbsarbeit befreit (derekh erets „normales Leben, Alltagstun“, hier im Sinne von Arbeit). Ebenso befreit ist er vom Joch des heidnischen Königs , d.h. von Zwangsleistungen wie Verproviantierung römischer Soldaten oder Stellung von Transporttieren u. Ä. Das Joch der Tora ist das Auf-sich-Nehmen des Arbeitsverbots am Sabbat. Die Sabbatruhe wurde vom heidnischen Staat generell respektiert.

 

Aus dem Nachwort:

Der jüdische Weise orientiert sich im 1. und 2. Jahrhundert, als sein Beruf Gestalt gewinnt, am Vorbild des griechischen Philosophen. Indem er ein anderes, besseres, bewusst gestaltetes Leben führt, unterscheidet sich der Weise von der Masse der Menschen. Hillel, Gründer einer jüdischen Gelehrtenschule in Palästina, steht den griechischen Philosophen nahe in seiner Konzentration auf geistige Interessen und bewusst gestaltetes Leben. Er will Lehrer sein, nicht Schriftsteller. Der Aufstieg des rabbinischen Weisen zur führenden Gestalt des nachbiblischen Judentums hat eine Katastrophe zur Voraussetzung, die das Judentum bis heute prägt: die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 u. Z. Damit endet die biblische Epoche. Sie wird vom Zeitalter der „Meister“, der Rabbinen, abgelöst.

Wie Hillel gehören die meisten Weisen nicht der wohlhabenden Oberschicht Palästinas an. Neben ihren gelehrten Interessen müssen sie sich als Bauern, Händler oder Handwerker um den Broterwerb für sich selbst und ihre Familien kümmern. Die Sprüche der Väter erlauben es, die Weisen in ihrer Doppelrolle als Theologen und Philosophen kennenlernen.

(…)

Während die Vätersprüche in der Spätantike in den Händen der Gelehrten verblieben, fanden sie im 9. Jahrhundert Eingang in die Liturgie der Synagoge. Vermutlich geschah dies zuerst im damals führenden babylonischen Judentum, vielleicht in den Synagogen der Stadt Sura, Ort der seinerzeit bedeutendsten rabbinischen Akademie. Damals nahm auch der Einfluss des Rabbinats auf die Synagoge zu. Von Babylonien aus verbreitete sich die liturgische Verwendung der Vätersprüche über die gesamte Judenheit. Bis heute behaupten die Vätersprüche ihren Platz im Gottesdienst. In modernen gedruckten Ausgaben des Siddur, des Gebetbuchs der Synagoge, ist der vollständige Wortlaut der Sprüche der Väter zu finden, oft zweisprachig. An den sechs Sabbaten zwischen Pesach und Wochenfest – im April und Mai – wird im Nachmittags-Gottesdienst jeweils ein Kapitel aus dem Buch vorgelesen. In vielen Gemeinden wird die Sabbat-Lesung aus den Vätersprüchen bis zum Neujahrsfest (im September) fortgesetzt, so dass ein halbes Jahr diesem Buch gehört. Ergänzt wird die liturgische Lesung durch den Brauch, an den entsprechenden Sabbaten sich auch zu Hause mit den Vätersprüchen zu beschäftigen und die Kinder – Jungen wie Mädchen – zumindest Teile dieser Schrift auswendig lernen zu lassen.

Durch den Gebrauch der Sprüche der Väter im Gottesdienst verschob sich die Zielgruppe des antiken Werks. Wurde es bisher als Standesethik der Gelehrten gelesen, als Gelehrtenspiegel und Schülerspiegel (vergleichbar dem mittelalterlichen »Fürstenspiegel«), so dient es nun – bis heute – als Erbauungsschrift für alle. Eine Unterscheidung aus der Geschichte der Ethik hilft uns, das charakterbildende Potential der Vätersprüche zu verstehen: die Unterscheidung von zwei Typen von Ethik. Der eine Typ, die Gebots- oder Gesetzesethik, will das Handeln des Menschen regeln; der andere Typ, die Tugend- oder Vorbildethik, blickt allein auf den Handelnden, um dessen Charakter zu verbessern und zu prägen. Wer sich den Sprüchen der Väter aussetzt, kann die Gebotsethik der jüdischen Tradition – „du sollst, du sollst nicht“ – durch eine Tugendethik ergänzen. Der Weise der Frühzeit rückt auf zum spirituellen Vorbild jüdischer Existenz überhaupt, die er in idealer Gestalt verkörpert und veranschaulicht.

(…)

Fast zwei Jahrtausende trennen die Vätersprüche von der Gegenwart. Selbst in traditionellen jüdischen Milieus, die sich durch Nähe zu den Sprüchen der Väter auszeichnen, macht sich ein beträchtlicher Abstand bemerkbar. Je mehr sich der Leser, die Leserin, der modernen Welt und ihrem kritischen Geist öffnet, desto eher kommt es zu Verunsicherung, Krise und Konflikt, mit dem Ergebnis der Ablehnung, aber auch der Verteidigung der Vätersprüche. Zwei Einwände werden gegen die Sprüche der Väter erhoben: Deren Vorstellung von Männlichkeit sei problematisch, deren Verachtung der Natur nicht zu rechtfertigen. …

Sprüche der Väter. Das Weisheitsbuch im Talmud. Übersetzt, erklärt und herausgegeben von Bernhard Lang. Stuttgart: Reclam 2020. (Universal-Bibliothek Nr. 14042.) 138 S. 5.20 Euro. – Leseprobe mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.