Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR

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In der Bundesrepublik hatte es mehr als zwei Jahrzehnte gedauert, bis erstmals Fragen zur Kontinuität des Nationalsozialismus gestellt wurden. Die Gegenwart zeigt, dass von „Aufarbeitung“ weiterhin kaum gesprochen werden kann. In der DDR, dem Staat des selbsternannten „Antifaschismus“, welcher sich vor allem als ein überzeugter „Antizionismus“ erwies, war dieses Fragen 40 Jahre lang nicht möglich. Der verbale „Antifaschismus“ war zuvörderst eine „Staatsräson“ (Christoph Classen in einem Buchbeitrag), ein selbststabilisierender Mythos, der mehrere Jahrzehnte lang eine offene gesellschaftliche Aneignung des verbrecherischen Erbes verunmöglichte – auch und gerade in der DDR…

Von Roland Kaufhold 

Im vorliegenden Sammelband, zu dem 22 Autoren Fachkundiges insbesondere zum unaufgearbeiteten nationalsozialistischen Erbe der DDR beitragen, findet sich viel lesenswertes Material und neue Entdeckungen.

Anetta Kahane, eine der vier Herausgeberinnen, schreibt über „Wirkung eines Tabus: Juden und Antisemitismus in der DDR“: Der Massenmord an den Juden war nie ein Thema in der DDR. Jüdisches Leben wurde unsichtbar gemacht, den organisierten Judenmord hatte es aus ideologischen Gründen nie gegeben. Rechtsextreme und rechtspopulistische Bewegungen in der DDR, wie er im Band vielfältig belegt wird – etwa durch Enrico Heitzer: „DDR-Systemgegnerschaft von rechts“ – , wurde verleugnet: „Langsam verschwand sogar das Wort Jude. Der Antisemitismus blieb unangetastet.“ In dichter, authentischer Weise erzählt Kahane vom Versuch ihrer jüdischen Eltern, als „Kind aus dem Getto“ in der DDR Anerkennung zu finden. Ihr Vater durfte als Journalist über den Nürnberger Prozess berichten, später über den Eichmann-Prozess. Alle kommunistischen Rückkehrer spürten ihre Überwachung als verdächtige Juden. Als „Zionist“ durfte ihr Vater auf keinen Fall gelten. Ihre Mutter, die Auschwitz gesehen hatte, fand eine Nische als Malerin. Als Anetta Kahane einen Ausreiseantrag stellte sprach ihr Vater lang nicht mehr mit ihr. Auf einer stärker theoretischen Ebene beschreibt Kahane in einem zweiten Aufsatz, wie sich die ideologisch motivierte Schuldabwehr in der DDR in eine „völkische Propaganda“ verwandelt hat.

Es werden zahlreiche, vorwiegend jüdische Biografien nacherzählt, etwa in dem Beitrag von Anette Leo über Anna Seghers, Alfred Kantorowicz, Wolfgang Steinitz und Jürgen Kuczynski, in denen sich die politische und menschliche Amoralität und der antisemitischer Furor der DDR widerspiegelt. Über die Anpassungsleistungen, die Verleugnung der jüdischen Identität, mussten diese jüdischen Rückkehrer schweigen. Einzig Kantorowicz verließ 1957 die DDR gen Bundesrepublik und wurde dort ein enger Freund und Kollege von Ralph Giordano.

Der Beitrag des amerikanischen Historikers Jeffrey Herf über den Antizionismus in der DDR bis zum Mauerfall – „Im Krieg mit Israel“ – ist mit seinen vielfältigen Belegen für die enge Kooperation der DDR mit arabischen Despoten sowie der PLO eindrücklich. Ziel war die Anerkennung der DDR durch die arabischen Staaten. Ein „Höhepunkt“ war der Auftritt Arafats im Staatsfernsehen der DDR am 7.8.1974: „Die Palästinenser seien aufgestanden“, triumphierte Honecker, und machten nun von ihrem „Recht auf bewaffneten Kampf“ Gebrauch. Ergänzt wurde diese „antizionistische“ Strategie durch die militärische Ausbildung von 3000 Armeeangehörigen aus dem Irak und Syrien in der DDR sowie die konkrete Unterstützertätigkeit für linke terroristische Gruppierungen wie der RAF. Terroristische Anschläge gegen Juden wurden von der DDR nicht verurteilt: „Sie waren antisemitisch in ihren Konsequenzen“, so Herfs Resümee.

Der Politikwissenschaftler Martin Jander, Mitherausgeber des Bandes, schreibt über „Antifaschismus ohne Juden. Der Kollaps der DDR und die linke DDR-Opposition“. Er schließt an Herf an und schlägt einen Bogen zur verweigerten Rehabilitation etwa von Walter Janka und Paul Merker im Kontext der innergesellschaftlichen antisemitischen Kampagnen in der DDR sowie der Niederschlagung der Aufstände in Ungarn sowie in Prag. Paul Merker hatte als einziges Mitglied des Politbüros für die Gründung Israels sowie für Entschädigungszahlungen an Überlebende der Shoah ausgesprochen und war 1955 nach zwei Jahren Untersuchungshaft als „zionistischer Agent“ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Ein Jahr später wurde er „rehabilitiert“, dafür musste er 1957 im Schauprozess gegen Janka diesen belasten.

Auch Havemann und Biermann, Ideengeber der DDR-Opposition, hätten sich einer Thematisierung des Antisemitismus und der Israelfeindschaft weitgehend verweigert – Havemann „bis an sein Lebensende“. Jander erinnert an die Versuche von Kindern  jüdischer Widerstandskämpfer (Runge, Wroblewsky, Kahane, Genin, Honigmann), ab 1986 das schamhaft-verängstige familiäre jüdische Erbe „für sich neu zu entdecken.“

Der NS-Jurist Hans Globke ist für die ältere Generation weiterhin ein Begriff: Der 1898 Geborene hatte im NS-Regime hohe Funktionen inne: Als „Referent für Namensrecht“ und Koreferent für „Rassefragen“ wirkte er im Reichsinnenministerium ab 1934 maßgeblich an der rassistischen Verfolgung von Juden mit. Durch seine Tätigkeit als juristischer NS-Kommentator erweiterte er die antisemitische „Auslegung“ etwa der „Rasseschande“ gezielt und bewusst; selbst Küssen und Zärtlichkeiten fielen für diesen darunter. Der Jurist und Historiker Klaus Bästlein bezeichnet Globkes Kommentar in seinem Beitrag als „juristische Pornographie“. Globke bereiste kurz vor Beginn der Judendeportationen die besetzten Länder und „half bei der Umsetzung der Verordnungen“ – er war also im wörtlichen Sinne ein „furchtbarer Jurist“. Nach der Nazizeit machte Globke in der Bundesrepublik dennoch rasch weiter Karriere, wurde 1949 Vizepräsident des Landesrechnungshofes NRW und unmittelbar danach unter Adenauer Chef des Bundeskanzleramtes. Beide waren katholisch und Rheinländer, und Adenauer konnte sich zu hundert Prozent auf die Loyalität des  „vorbelasteten“ Globke verlassen. In diesem Amt sorgte Globke für eine umfassende Renazifizierung der Bundesrepublik sowie insbesondere der Geheimdienste, so des berüchtigten Nazi-Geheimdienstes „Organisation Gehlen“. Bästlein zeichnet den Gerichtsprozess des Obersten Gerichts der DDR im Jahr 1963 gegen Globke nach; für die DDR war es die Chance, die Bundesrepublik als „Staat der NS-Täter“ vorzuführen. Hierbei betrieb sie, wie Bästlein darlegt, wahrheitswidrige Propaganda. Im Umkehrschluss wurden die Angriffe gegen Globke, die in der Bundesrepublik über Jahrzehnte von der DDR zumindest nicht fernstehenden Gruppierungen aufgegriffen wurden, als „kommunistische Propaganda“ abgetan. Beide Staaten blendeten also ihre NS-Vergangenheit systematisch aus, indem sie sich wechselseitig selbstentlastend die Schuld vorwarfen: „Bis 1970 waren im Bundesjustizministerium 53 Prozent der leitenden Mitarbeiter Ex-NSDAP-Mitglieder“ (…) auch in der Polizei dominierten Ex-NS-Aktivisten.“ Die von Globke betriebene Renazifizierung der Bundesrepublik sei „erst nach Jahrzehnten überwunden“ worden, so Bästlein.

In weiteren Kapiteln werden wissenschftlich bisher nur unzureichend aufgearbeitete Themen wie der „Asozialität“ in der DDR (K. Lenski), Lesben und Schwule in der DDR (C. Leidinger & H. Radvan) sowie Antiziganismus in der DDR (I. Bettwieser & T. von Borcke) ausgeleuchtet. Anregend in seiner selbstreflexiven Kompetenz ist der Beitrag „Noch eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Mein schwieriger Weg vom Zeitzeugen zum Zeithistoriker“ von Patrice G. Poutrus.

Enrico Heitzer, Martin Jander, Anetta Kahane, Patrice G. Poutrus (Hg.), Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung, Wochenschau Verlag 2018, 336 S., Bestellen?