Eine Welt finden

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Die israelische Literaturwissenschaftlerin Natasha Gordinsky begleitet Lea Goldberg auf ihrem Weg in die Heimat…

Von Galina Hristeva
Zuerst erschienen bei: literaturkritik, 13.06.2019

Als Deutschland 1933 braun wird, staunt der Dichter Jehuda Elchanan Kron, das Alter Ego der hebräischen Schriftstellerin Lea Goldberg aus ihrem Roman Verluste –Antonia gewidmet, über die Dreistigkeit, mit der man sein Gedicht gestohlen und für nationalsozialistische Propagandazwecke missbraucht hat. Kron kann jetzt nur noch auf die Zukunft setzen: „Ihm bleibt nur die eine Wahl, zu warten, bis er nach Erez Israel zurückkehrt, und sein Gedicht in den dortigen Zeitungen zu veröffentlichen“. Sein Schicksal drückt ihn schwer. „Er, der jüdischste Jude unter allen, ausgerechnet er, hat trotz seiner Bindungslosigkeit doch ein jüdisches Schicksal, er wandert und wandert – und in jedem Staat trifft ihn der Staat mit aller Härte.“ Kron verliert jedoch nicht die Hoffnung: Sein Blick bleibt „stets nach jenen Chamsinen gerichtet – und vielleicht kommt er dort einmal an.“ Was das aber für ein langer und beschwerlicher Weg sein wird, wie viel Kraft er erfordern wird, kann Kron in diesem Moment nicht ahnen. Diesen weiten Weg ist Lea Goldberg selbst gegangen, als sie 1933 Deutschland für immer verließ und nach einem zweijährigen Aufenthalt in Litauen 1935 nach Palästina auswanderte. Dieser Weg hat tiefe Spuren in ihrem weitverzweigten literarischen Werk hinterlassen. Im Gedicht Dämmerung in Jisre‘el schreibt die Dichterin am 19. Mai 1937, die Heimat immer noch suchend: „Die Berge wandern, den hohen Raum [merchav] der Nächte zu suchen / In einer Heimat [moledet] unfruchtbarer Stille, / in der erlöschenden Leere [chalal] der Sonnenuntergänge“.   

Das ständige, verwirrende und doch berauschende Hin und Her zwischen Gestern und Heute, Vergangenheit und Zukunft, Heimatsuche und Heimkehr klingt auch in ihrem Gedicht über die wandernden Künstler an: „Sie gehen einfach, wie Heimkehrer, zum strömenden Gestern, zum Vorjahrstraum“. Der Künstler – in diesem Fall Lea Goldberg – als Wanderer zwischen Raum und Zeit auf der Suche nach der Heimat ist das Thema auch von Natasha Gordinskys Buch Ein elend-schönes Land. Gattung und Gedächtnis in Lea Goldbergs hebräischer Literatur. Gordinsky untersucht Lea Goldbergs Anfangsjahre im britischen Mandatsgebiet Palästina zwischen 1935 und 1945 – diese „wohl bedeutendste“ und nach Gordinsky wenig erforschte Zeit im Leben und Schaffen der Schriftstellerin.

Das Buch ist aus einer Dissertation hervorgegangen, die 2010 an der Hebräischen Universität in Jerusalem entstanden ist und nun von Rainer Wenzel ins Deutsche übersetzt und mit der Unterstützung des Simon-Dubnow-Instituts der Universität Leipzig veröffentlicht wurde. Gordinskys Untersuchung ist nicht nur eine kluge, intensive und wissenschaftlich sehr fundierte, äußerst ertragreiche Auseinandersetzung mit dem Thema, sondern auch eine bereichernde und erhebende Lektüre, die ganz im Geiste Lea Goldbergs Intellekt und Gefühl verbindet, die geistige Suche mit einem durchgängigen Lyrismus durchdringt. Erwähnenswert ist, dass Natasha Gordinsky bereits 2002 den Lea Goldberg Award for Scholarship in Comparative Literature der Hebräischen Universität in Jerusalem erhielt.

Wie treffend der Untertitel Gattung und Gedächtnis ist, erkennt man als Leser schnell,  füllt doch Gordinsky diese zwei Begriffe zügig mit der vollblütigen Kraft von Goldbergs Werk, sodass sowohl der Flug der Gedanken als auch das Feuer der zwischen diesen zwei Begriffen verlaufenden Elektrizität spürbar werden. Wir durchwandern mit Goldberg weite Räume – fremde und halbvertraute, „grasgetränkte“ und „verbrannte“. Im Zeichen von Michail Bachtins Begriff des „Chronotopos“ durchqueren wir auch Goldbergs verschiedene Zeiten – die ländliche Zeit, die letzte Zeit, die ewige Zeit. Literarische und geografische Räume kreuzen sich, neue Raum- und Zeitauffassungen im Lauf des Wanderns und der Heimatsuche ziehen die Notwendigkeit neuer Darstellungsformen und Schreibstrategien nach sich. Teilweise bereits vorhanden, müssen diese Formen aber aus anderen, fremdländischen Literaturen übernommen werden.

Lea Goldberg, die auf ihrem Lebensweg mehrere europäische Länder durchschritt, bevor sie sich in Palästina niederließ, konnte jedenfalls aus dem reichen Fundus ihrer Erinnerung an die Literaturen dieser Länder schöpfen. Das Spiel zwischen Textgattung und Literaturerinnerung ist ein elektrisierendes, aber oft ein schmerzhaftes, weil es Verdrängtes, Verschüttetes, Vergessenes wieder ans Tageslicht bringt. Es schließt jedoch auch die harte Arbeit der Formung und Überformung von Schreibstrategien, Schreibverfahren und Gattungen wie im Fall der Skizze oder des Künstler- und Bildungsromans ein – eine Gattungspoetik, errungen im Spannungsfeld zwischen Erinnerung, Sehnsucht und Heimkehr. Wohltuend in diesem Prozess ist der Dialog mit Dichtern aus alten und neuen Zeiten, aus früheren und jetzigen Lebensräumen – so mit Goldbergs Lieblingsdichter Rainer Maria Rilke oder mit dem hebräischen Lyriker Nathan Alterman. Aufregend und innovativ ist die Vielstimmigkeit, die Goldberg in ihren publizistischen Werken aufbaut, wenn sie beispielsweise die politische Stimme Logs mit der empfindsamen Stimme Ada Grants alterniert. Den Dialog der Literaturen und Kulturen konnte Goldberg auch als Literaturkritikerin und Übersetzerin europäischer Literatur ins Hebräische fördern und selber vorantreiben.    

Der wandernde, suchende, schmerzerfüllte und zugleich hoffnungsvolle Künstler, der noch zwischen den Welten steht und nach seiner Welt sucht, ist aber seiner gesellschaftlichen Pflichten nicht enthoben – dafür steht Goldberg. Goldberg, die sich gegen das stalinistische Regime in ihrer alten „Wahlheimat“ Russland stellte und die Entwicklung dort unter dem stalinistischen Regime mit großer Sorge verfolgte, entwickelt Gedanken über das Ethos des Künstlers an der Schnittstelle zwischen Ethik und Ästhetik. Ihr Aufruf zum „Mut zum Profanen“, um der stalinistischen Sakralisierung des Alltags entgegenzuwirken, sowie ihr ethisch-ästhetisches Credo über die Einfachheit als Lebens- und Kunstprinzip waren – wie Gordinsky zeigt – nicht nur Teil der von ihr angestrebten ästhetischen Erziehung, sondern auch eine dezidiert anti-ideologische, anti-totalitäre Haltung. Ihren Pazifismus äußerte Goldberg am 14. September 1939 ebenfalls unmissverständlich: „An einen Sieg der Gerechtigkeit durch den gerechtesten Krieg glaube ich nicht.“

Natasha Gordinsky gelingt es in ihrem hervorragenden Buch, trotz der relativ engen Fokussierung auf ein einziges Jahrzehnt Goldbergs Weg in ihre schwer erkämpfte neue Welt zu enthüllen. Ein neues Zuhause finden bedeutete für die Schriftstellerin, durch die Schaffung einer neuen Literatur sich eine neue Welt aufzubauen, die ihr zur Heimat werden konnte, ohne auf die Erinnerung zu verzichten: „Der Übergang nach Erez Israel verlangte ihr die Errichtung eines neuen literarischen Zuhauses in der Gegenwart ab, zugleich aber die Wahrung ihres alten in der Erinnerung.“ In ihrem Essay Diese Stadt schreibt Goldberg nostalgisch-entzückt über die Gabe der Erinnerung: „Ja, ein Gott voller Barmherzigkeit ist Gott, welcher uns das Recht gab, in unserer Seele zu tragen, was war und nie mehr wiederkehren wird, es in einem feinen Gedächtnis zu tragen, zu streicheln, das Vergangene anzulächeln.“ 

Gordinsky offenbart das beeindruckende Spektrum an Texten und Textformen, die die Autorin auf ihrem Weg aufgreift, die vielen literarischen und kulturellen Einflüsse, vor allem aus der russischen und deutschen Literatur, die sie aufnimmt und verarbeitet, offenbart die vielen Zäsuren und Wenden, die Goldberg durchleben musste. Deutlich werden auch die hohen Anforderungen der Dichterin an sich selbst, belegt in Zusammenhang mit dem eingangs genannten Roman Verluste – Antonia gewidmet etwa im folgenden Tagebucheintrag vom 22. August 1939: Goldberg wollte den Roman umschreiben,

um jedes falsche Wort zu streichen, alle übertriebene Intellektualität, jedes überflüssige Zitat. Ohne Erbarmen. Die „gelungensten“ Stellen rauszuwerfen, wenn sie nicht die Wahrheit selbst sind. Das ist nicht leicht. Wenn es mir nicht gelingt, werde ich das Buch keineswegs erscheinen lassen. Verzichte auf Lob und Erfolg.

Lea Goldberg hat in ihrer neuen Heimat Israel „Lob und Erfolg“ in Hülle und Fülle geerntet – unter anderem auch dadurch, dass sie mit ihrem Schaffen „ein kulturelles Gedächtnis in hebräischer Sprache“ zu stiften vermochte. Nach Gordinsky – und das ist die Quintessenz ihres Buches – war die Schriftstellerin jedoch um die Stiftung einer neuen, universellen Kultur bemüht, die den engen, nationalistisch definierten Begriff „Heimat“ sprengt. Dialogizität, intertextuelle Verfahren, ein mutiges Experimentieren mit alten und neuen Gattungen und Formen, die Errettung alter und die Erschaffung neuer Werte sollen dieses hohe Ziel ermöglichen. Das Erscheinen der deutschen Übersetzung von Gordinskys Buch über Goldberg, eine Autorin, die aus ihrer Stellung zwischen den Kulturen und aus dem Gefühl der Fremdheit heraus nach einer humanistischen, gesamtmenschlichen Kultur trachtete, ist höchst begrüßenswert. Denn auch diese Veröffentlichung, die nicht zuletzt die Bedeutung der deutschen Literatur für Goldberg überzeugend nachweist und der hoffentlich bald Übersetzungen weiterer Werke der Autorin ins Deutsche folgen werden, ist ein wichtiger interkultureller Brückenschlag. Es ist ein Buch, das die Dilemmata des Künstlers zwischen nationaler Zugehörigkeit, diasporischem Schreiben und der „Sehnsucht nach der Weltkultur“ (Osip Mandelstam) nachzeichnet, ein Buch, das zeigt, wie Weltliteratur und Weltkultur entstehen, ein Buch, das auch uns literarische Zukunftsräume, neue Welten eröffnet.

Natasha Gordinsky: ‚Ein elend-schönes Land‘. Gattung und Gedächtnis in Lea Goldbergs hebräischer Literatur. Übersetzt aus dem Hebräischen von Rainer Wenzel. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, 240 Seiten, 45,00 EUR, Bestellen?