Wie reagierten die Juden auf die Machtübertragung an die Nationalsozialisten? Diese Frage nimmt die Opfer-, nicht die Täterperspektive ein. Während die Forschung die Repressionspolitik durch den NS-Staat breit aufgearbeitet hat, widmete sie weniger Aufmerksamkeit den davon betroffenen Juden. Erkannten sie die Bedrohung ihrer Existenz? Oder hielten sie den Nationalsozialismus für ein vorübergehendes Phänomen? War eher die Anpassung oder mehr die Auswanderung die dominierende Handlungsoption?…
Von Armin Pfahl-Traughber
Antworten darauf geben will der Historiker und Politikwissenschaftler Julius H. Schoeps, Gründungsdirektor und langjähriger Leiter des Moses Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Mit „Düstere Vorahnungen. Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe“ legt er eine umfangreiche Studie vor. Darin geht es um die Entwicklung zwischen 1933 und 1935 und die Frage „Wie … haben die deutschen Juden die Ereignisse vor und nach der Machtübernahme erfahren, erlebt und verarbeitet? (S. 12).
Dabei blickt der Autor zunächst auf die Entwicklung in der Weimarer Republik, konnte dort doch bereits ein Anstieg des Antisemitismus ausgemacht werden. Dies waren für ihn „Vorboten des Kommenden“ (S. 19). Ein Bewusstsein davon sei innerhalb des keineswegs homogenen Judentums sehr wohl vorhanden gewesen. Aufgrund der starken Assimilation und Integration konnte und wollte man sich indessen nicht die folgenden Konsequenzen und Verbrechen vorstellen. Es gab zwar die erwähnten Bedenken, gleichwohl hofften die Juden auf eine Mäßigung des Regimes. Der Autor zitiert etwa eine Erklärung des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, wo von der unbeirrten „Pflege der deutsch-vaterländischen Gesinnung“ (S. 118) die Rede war. Man habe so auf ein Arrangement mit den Nationalsozialisten gehofft. Doch es kam bekanntlich ganz anders: Die Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraxis nahm zu, tagtäglich erfolgten Entrechtungen und Gewalttaten. Den Betroffenen wurde die soziale Existenzgrundlage entzogen.
All dies wird anhand von Beispielen eindrucksvoll geschildert, wodurch die Ereignisse nicht in abstrakten Statistiken verschwinden. Es geht um die Entrechtung jüdischer Ärzte, Rechtsanwälte und Wissenschaftler. Immer wieder wird auch ausführlich auf konkrete Ereignisse eingegangen, sei dies der Sturm auf Magnus Hirschfelds „Institut für Sexualwissenschaft“ oder das Schicksal der Kinderbuchautorin Else Ury, sei es die Ermordung des Schriftstellers Theodor Lessing oder die Verfolgung des Sozialdemokraten Felix Fechenbach. Man findet bei diesen eindrucksvollen Beschreibungen auch wichtige Detailinformationen wie zum „Ha’avara-Transferabkommen und der „Zusammenarbeit“ von Nationalsozialisten und Zionisten (vgl. S. 371-378, 453-459). Dabei findet sich eine historisch korrekte Beschreibung mit differenzierten Einschätzungen, kursieren doch gerade dazu von geneigter Seite ominöse Zerrbilder. Bilanzierend heiß es: Die Juden hätten die Gefahr des Nationalsozialismus gesehen, aber „deren Entschlossenheit“ (S. 499) unterschätzt.
Wie der Autor selbst schreibt, sind viele Ausführungen nicht „neu“, aber als „Narrativ der Zusammenschau“ (S. 13) wichtig. Genau darin ist die Bedeutung des Buchs zu sehen, wobei die Opferperspektive wichtig ist. Schoeps gelang damit ein überaus lesenswertes Werk. Er schreibt indessen mehr als Historiker, weniger als Politikwissenschaftler. Insofern lässt der Autor hauptsächlich die Fakten sprechen und ist mit Urteilen eher zurückhaltend. Bei all dem spielt auch die Erinnerung an seinen Vater eine Rolle, hatte dieser doch als deutsch-nationaler Jude seinerzeit auf eine Mäßigung der Nationalsozialisten gehofft. Entgegen mancher Einwände macht dieser persönliche Hintergrund aus dem Buch aber keine Rechtfertigungsschrift. Es wird hier anhand eines konkreten Falles die Komplexität des Themas deutlich. Wünschenswert wäre noch gewesen, die damaligen Juden in ihrer Vielfalt stärker zu unterscheiden. Welche genauen Ausrichtungen gab es, wie reagierten diese auf den Nationalsozialismus? Ansonsten: Es handelt sich um beklemmendes und wichtiges Werk.
Julius H. Schoeps, Düstere Vorahnungen. Deutschlands Juden am Vorabend der Katastrophe, Berlin 2018 (Hentrich & Hentrich-Verlag), 612 S., 35 Euro, Bestellen?