„Ich weiß, dass es weder in Häusern noch in Worten Sicherheit gibt“

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Zum Tod von Anne Ranasinghe-Katz am 17. Dezember 2016…

Von Eberhard Schmidt

„I was just 13 when I left Germany with my Kinder-Ausweis, a snowy day, early morning walking with my father to the station. He was allowed to accompany me to the Dutch border. After that I was alone“ teilte die neunzigjährige Anne Ranasinghe, geboren am 2. Oktober 1925 als Anneliese Katz in Essen, dem Deutschen Botschafter in Sri Lanka mit, der ihr im Oktober 2015 das Bundesverdienstkreuz verlieh.

Zwischen diesen beiden  Ereignissen, der Vertreibung des jüdischen Mädchens aus Deutschland im Januar 1939 und der Ehrung durch die Bundesregierung im Oktober 2015 erstreckt sich das wechselvolle Leben einer deutsch-jüdisch-britisch-srilankischen Dichterin, das am 17. Dezember 2016 zu Ende gegangen ist.

Anne war in einer frommen jüdischen Familie aufgewachsen. Die Einschränkungen des jüdischen Lebens nach der Machtübernahme durch die Nazis hat sie miterlebt und mit erlitten. In den letzten Jahren in Deutschland hatte sie das jüdische Jawne Gymnasium in Köln besucht, nachdem man ihr und den anderen jüdischen Kindern ab 1936 die Aufnahme in das städtische Gymnasium in Essen verweigerte hatte. Nach der Pogromnacht  im November 1938, in der das Innere von Annes geliebter Synagoge in Flammen aufgegangen und der Vater für Monate ins KZ Dachau verschleppt worden war, beschlossen die Eltern, das junge Mädchen, ihr einziges Kind, in Sicherheit zu bringen. Sie schickten sie am 26. Januar 1939 zu einer entfernten Tante nach England, während sie selbst auf Ausreisepässe warteten. Vergeblich. Anne hat ihre Eltern nicht mehr wiedergesehen. Sie wurden im Oktober 1941 ins Ghetto Lodz deportiert und 1944 im Todeslager Chelmno vergast. Auch ihre Großeltern und alle anderen Verwandten teilten dieses Schicksal. Von der jüdischen Familie Katz, die auf sieben Generationen in dem kleinen Dorf Züschen bei Fritzlar (Nordhessen) zurückblickte, war Anneliese die einzige, die überlebte.

In England hatte sie keinen Kontakt zu Juden mehr. „Hier endete mein jüdisches Leben“, schreibt sie, „ich erlebte die totale Trennung von Eltern, Zuhause, Heimat, Freunden, Sprache und Religion.“  Sie machte  ihren Schulabschluss und ließ sich zur Krankenschwester ausbilden. Sie hatte ursprünglich Ärztin werden wollen. Aber das war für eine deutsche Jüdin im Nachkriegsengland ein unerreichbares Ziel. 1947 lernte sie den ceylonesischen Arzt Dr. Abraham Ranasinghe kennen. Sie heirateten 1949. Er war Buddhist und brachte drei kleine Kinder mit in die Ehe. Zwei Jahre später folgte sie ihm in seine Heimat. Gemeinsam hatten sie noch vier weitere Kinder, die auch buddhistisch erzogen wurden, um die Familie nicht zu spalten. Dr. Ranasinghe wurde ein bekannter und geschätzter Gynäkologe. Er leitete als Professor eine bedeutende Klinik in Colombo. Die Familie lebte im Wohlstand, aber für .Anne muss es nicht leicht gewesen sein, in dem ungewohnten tropischen Land mit seiner fremden Kultur ihren Pflichten als Stiefmutter und Mutter von sieben Kindern nachzukommen. Auf der Insel war sie, wie sie meinte, lange Zeit die einzige Jüdin, nachdem unter der Regierung der sozialistischen Präsidentin  Bandaranaike die diplomatischen Beziehungen von Sri Lanka zu Israel abgebrochen worden waren.

Die Kinder wuchsen heran und als das Jüngste, ein Mädchen, 8 Jahre alt wurde, entschloss sich  Anne zum nicht geringen Entsetzen ihrer Familie, wieder die Schulbank zu drücken. Sie studierte am lokalen Polytechnikum Journalistik und bestand das Examen als weitaus älteste Studentin ihres Kurses mit Brillianz. In diesen Jahren begann sie wieder zu schreiben, eine Leidenschaft, die sie schon als Kind gepackt hatte.

Den Anstoß gab, wie sie sich erinnert, die Anfrage einer tamilischen Zeitschrift, die von ihr eine Serie von Artikeln über „Hitlers Deutschland“ anforderte, ein Thema, das im damaligen Sri Lanka kaum auf Vorkenntnisse stieß, und das sie mit der Schilderung ihres persönlichen Schicksal verknüpfte. Erste Erzählungen entstanden in den späten sechziger Jahren und erschienen in loser Folge in „Short Stories International“, New York, zusammengefasst wurden sie 1994 in dem Band „Desire and other stories“, der im gleichen Jahr den State Literary Award  in Sri Lanka erhielt. Seit 1971 sind 19 Bücher von Anne Ranasinghe erschienen, vorwiegend Lyrik und Prosa, aber auch autobiographische  Texte und essayistische Abhandlungen. Sie sind inzwischen in 13 Sprachen übersetzt worden und haben viele Preise erhalten.

Anne schrieb ihre Texte und Gedichte auf englisch, eine Sprache, die sie beherrschte, die aber nicht ihre Muttersprache war. Singhalesisch konnte sie sprechen und verstehen, nicht aber schreiben. Das Deutsche hatte sie mit der Zeit fast verlernt, wie sie sagte. Dennoch übersetzte sie Rilke ins Englische. Als einziger Band in deutscher Sprache erschien 1994: „Du Fragst Mich, Warum Ich Gedichte Schreibe“, im Maro Verlag, Augsburg, der eine Auswahl ihrer Holocaust-Gedichte aus dem Band „At What Dark Point – 33 Holocaust Poems“ (1991) enthielt, denen sie die Widmung: „Den jungen Menschen in Deutschland – damit das Erinnern nicht aufhört“ voranstellte. Manche dieser Gedichte sind inspiriert von Beobachtungen in ihrer neuen, tropischen  Heimat, die zugleich Erinnerungen an die Vergangenheit wachrufen, andere evozieren unmittelbar den Schmerz über den Verlust.

„Holocaust 1944“
Für meine Mutter

Ich weiß nicht
In welcher fremden, fernen Erde
Sie Dich begraben haben;
Auch nicht welche rauhen, nördlichen Winde
Durch die Stoppeln jagen,
die trocknen, harten Stoppeln
Auf Deinem Grab. 

Und hast Du an mich gedacht
An jenem frost-blauen Dezembermorgen
Schwer von Schnee und beißend kalt,
Als Du nackt und vor Kälte zitternd
Unter dem bleifarbenen Himmel gingst
In jenem letzten Moment
Als Du wußtest, die ist das Ende
Das Ende vom Nichts
Und der Anfang vom Nichts, Hast Du an mich gedacht? 

Oh, wie ich mich an Dich erinnere, Du so sehr Geliebte,
Deine blassen Hände erhoben
In alter Weise segnend,
Deine Augen hell leuchtend
Über den Kerzen
Den Segen anstimmend
Gelobt sei der Herr.. 

Und dies ist der Schmerz,
Lähmender Schmerz und Entsetzen,
Daß es letztlich kein Martyrium war,
Sondern nur sinnlos –
Die Sinnlosigkeit des Sterbens
Das Ende vom Nichts
Und der Anfang vom Nichts.
Ich weine rote Tränen aus Blut. Von Deinem Blut.

Anne Ranasinghe  wurde in diesen Jahren aber nicht nur zur bedeutendste Dichterin Sri Lankas, sie engagierte sich auch im öffentlichen Raum. Von 1975 bis 1990 vertrat sie Sri Lanka als Sekretärin von Amnesty International im South Asia-Netzwerk und setzte sich aktiv für die Einhaltung der Menschenrechte ein. Eine Aufgabe, die ihr 1983 nach dem offenen  Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen der singhalesischen Regierung und den tamilischen Rebellen im Norden und Osten der Insel, besonders wichtig war. Die in diesem Zusammenhang verübten Kriegsverbrechen erinnerten sie immer wieder an ihre Erfahrungen mit Nazideutschland.

Nachdem ihr Mann 1981 verstorben war, reiste Anne nach langem Zögern im November 1983 auch zum ersten Mal wieder für kurze Zeit nach Deutschland, 44 Jahre nach ihrer Vertreibung. Die Stadt Essen hatte sie und andere jüdische Bürger, die von den Nazis vertrieben worden waren, eingeladen. Schon in den siebziger Jahren hatte sie sich in ihrer Heimatstadt zu Wort gemeldet, als sie erfahren hatte, dass aus ihrer geliebten Synagoge ein Ausstellungsort für Alltagsdesigngegenstände geworden war. Sie hatte heftig protestiert und ihr Protest und der Anderer war endlich gehört worden. Nachdem die Ausstellung durch einen Kurzschluss 1979 zum Teil abgebrannt war, entschloss sich die Stadt Essen, dort eine Gedenkstätte einzurichten, die am 9.November 1980 schließlich eingeweiht wurde und seitdem als Haus der jüdischen Kultur „Alte Synagoge“ die Erinnerung an das jüdische Leben in Essen und seinen Untergang wach hält.

Bei ihrem Besuch in Deutschland besuchte sie auch Züschen, das Dorf ihrer Großeltern, in dem sie als Kind immer die Ferien verbracht hatte und mit dem ihre schönsten Kindheitserinnerungen verbunden war. Einige alte Dorfbewohner, die zur Zeit der Novemberpogrome, als die Bewohner des „Judenhauses“, wie es im Dorf geheißen hatte, mit Gewalt vertrieben wurden, Nachbarn gewesen waren, erinnerten sich noch an Anne. Ein Dorfbewohner fragte sie, ob sie gekommen sei, sich zu rächen . Das „Judenhaus“, stand noch, fast unverändert, fremde Menschen wohnten dort, die von der Geschichte des Hause nichts wussten und erstaunt und etwas verängstigt registrieren mussten, dass sie Besuch von der Erbin der vormaligen Eigentümer bekommen hatten. Aber Anne beruhigte sie, es ging ihr nicht um Eigentumsfragen. Der Filmemacher Michael Lentz nutzte die Gelegenheit von Annes Besuch in Deutschland, um einen längeren Dokumentarfilm über sie zu drehen, der unter dem Titel: “Heimsuchung – Anne Ranasinghe’s Konfrontation mit den Deutschen“ im WDR gezeigt wurde, später auch in Sri Lanka. Der in Essen lebende exil-chilenische Komponist Juan Allende-Blin, verwundert über ihr verblasstes Deutsch, verfasste ein Hörspiel unter Verwendung ihrer Gedichte, das er „Muttersprachlos“ nannte.

In ihren letzten Lebensjahren widmete sich  Anne, neben der Publikation ihrer Lyrik und Prosa, dem lyrischen Nachwuchs in Sri Lanka. Sie veranstaltete jährlich landesweite Gedichtwettbewerbe für junge Menschen, deren Gewinner sie zur Preiskrönung zu sich in Colombo einlud. Ein Event, der regelmäßig von den srilankischen Medien ausführlich gewürdigt wurde.

2015 erhielt sie, wie eingangs erwähnt, auf Initiative einer Reihe prominenter deutscher Persönlichkeiten, das Bundesverdienstkreuz verliehen, das ihr der Deutsche Botschafter in Colombo in einer Feierstunde in ihrem Haus überreichte, da sie zu diesem Zeitpunkt schon zu schwach war, um auszugehen. Zu diesem Anlass veröffentlichte die Deutsche Botschaft den Sammelband „Four Things – Viererlei“, der eine Sammlung ihrer wichtigsten Gedichte enthält, darunter in deutscher Übersetzung die  Bände: „Du Fragst Mich, Warum Ich Schreibe“ und „Von Essen und Züschen nach Colombo und zurück“. Ein Buch, das sie ihrem Vater widmete, der mit ihr, solange sie zurück denken konnte, seine Liebe für die deutsche Literatur teilte.

Am 17. Dezember 2016 starb Anne Ranasinghe in ihrem Haus in Colombo im Alter von 91 Jahren. Sie erhielt ein jüdisches Begräbnis.

(c) Dr. Eberhard Schmidt, Bremen,  27.12.2016
Bild oben: Anne Ranasinghe, Oktober 2015, Privatbesitz