Briefe von Henrietta Szold

Jerusalem, 2. Juni 1934

Ich bin todunglücklich, weil die Juden nicht zu realisieren scheinen, dass die arabische Frage und die Art und Weise, diese zu lösen, die größte Prüfung sind. Ich hasse den nörgelnden Stil, den die Juden in Bezug auf die englische Regierung angenommen haben, ob es sich nun um das wichtige Thema der Einwanderungseinschränkung oder um unbedeutende alltägliche Unzulänglichkeiten handelt. Ich bin unglücklich, weil wir Juden hier in unserer Erziehungsarbeit kein Gefühl für Ordnung, System, Selbstdisziplin und Charakterbildung haben. Wir geben uns endlosem Parteiengezänk hin, während wir auf arrogante Art glauben, wir stünden über allen anderen, mit denen wir in Kontakt kommen.

Je bemerkenswerter unsere Errungenschaften sind –und sie sind in der Tat bemerkenswert-, desto mehr sehne ich mich nach einem Jesaja, der unsere Winzigkeit und unsere Demoralisierung aufzeigt. Diese treten immer offensichtlicher hervor, je erfolgreicher wir die Äußerlichkeiten der Zivilisation formen. In den letzten erfolgreichen Jahren haben unsere Aktionen hier weder den Willen noch die Fähigkeit gezeigt, nach den zionistischen Idealen der gemeinsamen Verantwortung zu leben. Du siehst, dass sich meine Gedanken mit den eigenen Unzulänglichkeiten beschäftigen anstatt sich auf das „perfide Albion“ zu konzentrieren.

Adele fragt, ob die zukünftige Bedrohung für meine „„jüdische Heimat“ nicht so finster ist wie sie erscheint. Doch, sie ist finster. England hält sich nicht an sein Wort. Wir sind hier genauso verachtet wie unter Hitler in Deutschland. Hinzu kommt der arabische Nationalismus, der den Nationalismus seiner jüdischen Lehrer noch verbessert. – Dies ist eine alarmierende Kombination. Doch das schlimmste an dieser Situation ist für mich unsere eigene kleine Statur. Du solltest die „politischen“ Streitereien der Kinder im Kindergarten hören. Du solltest unsere Tageszeitungen lesen und den Charakter des andauernden Arbeitskampfes wahrnehmen – und Du würdest meine Depression und meine instinktive Abneigung gegenüber dem ganzen Thema verstehen.

Übersetzung von Daniela Marcus