Von Theodor Herzl
Ich bin 1860 in Budapest geboren, nahe der Synagoge in der mich der Rabbi jüngst mit den strengsten Worten anklagte, weil ich — wirklich und wahrhaftig — weil ich für die Juden mehr Ehre und Freiheit, als sie gegenwärtig genießen, zu erlangen versuche. Aber an der Vordertür des Hauses in der Tabakgasse, wo ich das Licht der Welt erblickte, wird nach zwanzig Jahren ein Zettel mit der Anzeige „Zu vermieten“ zu lesen sein.
Ich kann nicht leugnen, daß ich in die Schule ging. Erst wurde ich in eine jüdische Vorschule geschickt, wo ich ein gewisses Ansehen genoß, weil mein Vater ein wohlhabender Kaufmann war. Meine früheste Erinnerung an diese Schule besteht in Prügeln, welche ich erhielt, weil ich die Einzelheiten des Auszugs der Juden aus Ägypten nicht wußte. Gegenwärtig möchten mich viele Schulmeister prügeln, weil ich mich zuviel an jenen Auszug aus Ägypten erinnere. Im Alter von zehn Jahren kam ich auf die Realschule, wo man im Gegensatz zu dem Gymnasium, welches das Schwergewicht auf die alten klassischen Sprachen legt, mehr das moderne Wissen betont. Lesseps war damals der Held des Tages, und ich faßte den Plan, den anderen Isthmus, den von Panama, zu durchstechen. Bald aber verlor ich meine bisherige Vorliebe für Logarithmen und Trigonometrie, weil damals eine ausgesprochene antisemitische Richtung auf der Realschule herrschte. Einer unserer Lehrer erklärte die Bedeutung des Wortes „Heiden“, indem er sagte: „Zu diesen gehören die Götzendiener, Mohammedaner und Juden.“ Nach dieser merkwürdigen Erklärung hatte ich von der Realschule genug und wollte eine klassische Anstalt besuchen. Mein guter Vater zwängte mich für meine Studien nie in eine enge Bahn hinein, und so wurde ich Schüler eines Gymnasiums. Trotzdem war der Panamaplan für mich noch nicht ganz beseitigt. Viele Jahre später hatte ich als Pariser Korrespondent der „Neuen Freien Presse“ (in Wien) die Pflicht, über die berüchtigten Vorkommnisse bei dieser skandalösen Episode der Geschichte Frankreichs zu schreiben.
Im „Evangelischen Gymnasium“ bildeten die Juden die Mehrzahl, und deshalb hatten wir uns nicht über irgend welche Judenhetze zu beklagen. In der siebenten Klasse schrieb ich meinen ersten Zeitungsartikel, natürlich ohne Namen, sonst hätte ich Karzer bekommen. Während meines Aufenthalts in der obersten Klasse des Gymnasiums starb meine einzige Schwester, ein Mädchen von achtzehn Jahren; meine gute Mutter wurde vor Kummer so schwermütig, daß wir 1878 nach Wien verzogen.
Während der Trauerwoche besuchte uns Rabbi Kohn und fragte mich, was meine Pläne für die Zukunft wären. Ich sagte ihm, daß ich ein Schriftsteller werden wollte, worauf der Rabbi seinen Kopf ebenso unzufrieden schüttelte, wie er später den Zionismus mißbilligte. Eine Schriftstellerlaufbahn ist kein eigentlicher Beruf, schloß der unzufriedene Rabbi.
In Wien studierte ich die Rechte, nahm an allen Studententorheiten teil und trug die bunte Mütze einer Verbindung, bis diese eines Tages den Beschluß faßte, daß fortan keine Juden mehr als Mitglieder aufgenommen werden sollten. Die es schon waren, erhielten die freundliche Erlaubnis, in der Verbindung zu bleiben. Ich sagte den edlen jungen Leuten Lebewohl und fing nun an, mich ernstlich an die Arbeit zu setzen. 1884 wurde ich Dr. juris und trat als unbesoldeter Beamter unter Leitung eines Richters in die Gerichtspraxis ein. Ich fand Verwendung beim Gerichte in Wien und in Salzburg. In Salzburg erschien mir die Arbeit anziehender; die Szenerie um die Stadt ist bekanntlich eine besonders schöne. Mein Amtszimmer war in einem alten Festungsturme gerade unter dem Glockenstuhle und täglich dreimal tönte mir das Geläute recht hübsch in die Ohren.
Natürlich schrieb ich mehr für das Theater als für das Gericht. In Salzburg brachte ich einige der glücklichsten Stunden meines Lebens zu. Ich wäre auch gerne in der schönen Stadt geblieben; aber als Jude wäre ich nie zur Stellung eines Richters befördert worden. Deshalb nahm ich damals von Salzburg und der Rechtsgelehrsamkeit Abschied.
Wieder bereitete ich dem Rabbi von Budapest großen Ärger; denn, anstatt mich um einen wirklichen Beruf oder ein Amt umzusehen, fing ich an zu reisen und für das Theater und für Zeitungen zu schreiben. Viele meiner Stücke wurden auf verschiedenen Theatern aufgeführt: einige mit vielem Beifall, andere mit geringem Erfolg. Bis zu diesem Augenblicke kann ich nicht verstehen, warum einige meiner Stücke Beifall fanden, andere aua- gepfiffen wurden. Diese Verschiedenheit der Aufnahme meiner Stücke lehrte mich jedoch, es nicht zu beachten, ob das Publikum mein Werk beklatschte oder auspfiff. Man muß es sich selbst recht machen; alles andere ist gleichgültig. Ich verwerfe gegenwärtig alle meine Stücke, selbst die, welche noch am Kaiserlichen Burgtheater in Wien Beifall finden, und kümmere mich nicht länger um sie.
Im Jahre 1889 heiratete ich und habe drei Kinder, einen Knaben und zwei Mädchen. Nach meiner Meinung sind meine Kinder weder häßlich noch dumm. Aber natürlich kann ich mich täuschen.
Während meiner Reise in Spanien, 1891, machte mir das Wiener Blatt „Neue Freie Presse“ das Anerbieten, sein Korrespondent in Paris zu werden. Ich nahm diese Stellung an, obgleich ich bis zu der Zeit die Politik verachtet und verabscheut hatte. In Paris hatte ich Gelegenheit zu erfahren, was die Welt unter Politik versteht, und ich sprach meine Ansichten in meinem kleinen Buch „Das Palais Bourbon“ aus. 1896 hatte ich genug an Paris und kehrte nach Wien zurück. Während der letzten zwei Monate meines Aufenthaltes in Paris schrieb ich das Buch „Der Judenstaat“, das mir die Ehre verschafft hat, von Ihrem Blatte um einige biographische Angaben über meine geringe Person ersucht worden zu sein. Ich erinnere mich nicht, je etwas in so erhabener Gemütsstimmung wie dieses Buch geschrieben zu haben. Heine sagt, daß er die Schwingen eines Adlers über seinem Haupte rauschen hörte, als er gewisse Verse niederschrieb. Ich glaubte auch an so etwas wie ein Rauschen über meinem Haupte, als ich dieses Buch schrieb. Ich arbeitete an ihm täglich, bis ich ganz erschöpft war; meine einzige Erholung am Abend bestand darin, daß ich Wagnerscher Musik zuhörte, besonders dem Tannhäuser, eine Oper, welche ich so oft hörte, als sie gegeben wurde. Nur an den Abenden, wo keine Oper aufgeführt wurde, fühlte ich Zweifel an der Richtigkeit meiner Gedanken.
Zuerst hatte ich den Gedanken gehabt, diese meine kleine Schrift über die Lösung der Judenfrage nur privatim unter meinen Freunden umlaufen zu lassen. Die Veröffentlichung dieser Ansichten habe ich erst später ins Auge gefaßt; ich hatte nicht die Absicht, eine persönliche Agitation für die jüdische Sache zu beginnen. Die meisten Leser werden erstaunt sein, wenn sie von diesem früheren Widerstreben hören. Ich betrachtete die ganze Sache nur als solche, in der man handeln, nicht aber disputieren müsse, öffentliche Agitation sollte nur mein letztes Auskunftsmittel werden, wenn man meinen privat gegebenen Rat nicht anhörte oder nicht befolgte.
Als ich mein Buch beendigt hatte, bat ich einen meiner ältesten und besten Freunde, das Manuskript zu lesen. Während er es las, fing er plötzlich an zu weinen. Ich fand diese Erregung ganz natürlich, da er ein Jude war; ich hatte ja auch manchmal beim Schreiben geweint. Aber zu meiner Bestürzung gab er einen ganz anderen Grund für seine Tränen an. Er dachte, ich wäre irrsinnig geworden, und da er mein Freund war, machte ihn mein Unglück sehr traurig. Er lief weg, ohne ein anderes Wort zu sagen. Nach einer schlaflosen Nacht kam er zurück und drang in mich, die Sache zu lassen, da mich jeder für irre halten würde. Er war so erregt, daß ich ihm alles versprach, um ihn zu beruhigen. Dann riet er mir, Max Nordau um Rat zu fragen, ob mein Plan der Gedanke eines zurechnungsfähigen Menschen sei. „Ich werde niemand fragen,“ war meine Antwort; „wenn meine Gedanken einen solchen Eindruck auf einen gebildeten und treuen Freund machen, werde ich den Plan aufgeben.“
Ich hatte dann eine sehr ernste Krisis durchzumachen: ich kann sie nur damit vergleichen, wenn man einen rotglühenden Körper in kaltes Wasser wirft. Freilich, wenn dieser Körper zufällig Eisen ist, wird er Stahl.
Mein Freund, von dem ich oben gesprochen habe, hatte meine Ausgaben für Telegramme zusammenzuzählen. Als er mir die Rechnung gab, die aus einer sehr großen Reihe von Posten bestand, sah ich auf den ersten Blick, daß er ungenau zusammengezählt hatte. Ich richtete seine Aufmerksamkeit darauf, und er zählte noch einmal zusammen; aber erst beim dritten oder vierten Male stimmten seine Summen mit den meinigen. Dieser kleine Vorfall gab mir mein Selbstvertrauen zurück. Ich war doch imstande, genauer zusammenzuzählen als er: meine Vernunft mußte mich also nicht gänzlich verlassen haben.
An jenem Tage begannen meine Beunruhigungen betreffs des Judenstaates. Während der zwei und mehr folgenden Jahre habe ich viele, viele traurige Tage erlebt, und ich fürchte, daß noch mehr traurige Tage folgen werden. 1895 begann ich ein Tagebuch zu führen; jetzt sind schon vier starke Bände angefüllt. Sollte ich sie je veröffentlichen, so würde die Welt erstaunt sein, zu erfahren, was ich einzustecken gehabt habe, wer die Feinde meines Planes waren und andererseits, wer mir beistand.
Aber eines betrachte ich als gewiß und über allem Zweifel erhaben: die Bewegung wird anhalten. Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, aber der Zionismus wird nie sterben. Seit den Tagen von Basel hat das jüdische Volk wieder eine Volksvertretung; folglich wird der „Judenstaat“ in seinem eigenen Lande erstehen. Ich bin jetzt am Werke, die Bank ins Leben zu rufen, und ich erwarte, daß sie sich als ein ebenso großer Erfolg wie der Kongreß erweisen wird.
Aus dem „Jewish Chronicle“, London, vom 14. Januar 1898.