Das Urim von Kusch

Von Leo am Bruhl

Das merkwürdige Haus des Dr. Sam Bertle liegt weit draußen vor der Stadt, ein streng geformter weißer Würfel im sattgrünen Wiesengrund; nur das Erdgeschoss ist zu Wohnräumen ausgebaut. Das einzige Stockwerk darüber, auf dem das flache Dach liegt, ist ein über die ganze Grundfläche des Gebäudes gesetzter großer Saal, das Laboratorium des Chemikers.

An der Ostwand, die zwischen den schmalen Eisenbetonstreben aus einer glasartigen, klar durchsichtigen Masse besteht, saßen wir wartend, zu Dreien um einen großen Tisch, der mit Büchern und Karten überschwemmt war; um uns der Saal ruhte im Dunkel, nur die rote Kontrolllampe der Lichtmaschine brannte über dem Treppenaufgang.

Schweigend sahen wir hinaus in die Nacht. Tief am Horizont blinkte Scheinwerferlicht auf.

„Er kommt“, murmelte Lublinksi vor sich hin, „und hoffentlich kommt er heil mit dem Bild des Aun hier an; ich fange an und werde … abergläubisch. Heute brachte die Zeitung schon wieder eine Meldung …“

„Darf ich jetzt wissen, woher das Bild des Aun, das Herr Weinberg hierher bringt, stammt?“, fragte ich. „Und weiter, wen ich mir unter dem mysteriösen Aun vorzustellen habe? – Ein unbekannter Pharao, ein Oberpriester? Oder welche Rolle hat Herr Aun zu Lebzeiten gespielt?“

„Gerade das möchten wir wissen und feststellen“, erklärte Lublinski.

„Kennen Sie die Mumienbildnisse aus der Theodor Grafschen Sammlung im Berliner Antikenmuseum?“, fragte Dr. Bertle.

Als ich bejahte, fuhr er fort: „Dann wissen Sie, dass diese Malereien griechischer Herkunft nach heute geltender Ansicht aus dem ersten bis dritten nachchristlichen Jahrhundert stammen, dass sie zum großen Teil aus dem Fayum herkommen, also noch nördlich von Beni Hassan. Das Bild des Aun, das uns der Maler Weinberg jetzt bringt, hat gegenüber dem Besitz des Berliner Museums zwei große Vorzüge: Es ist weit älter – Professor Weinberg-Paris, der Bruder des Malers, der das Bild ausgrub, bestimmt es auf etwa 3500 Jahre – und es kommt von weiter her, von Dschebel Barkal, mitten aus Kosch – dem Land Kusch der Bibel – das heißt noch 1000 Kilometer südlicher von Fayum.“

Er schaltete die grün überschirmte Tischlampe ein, schob mir das Kartenblatt des Altägyptischen Reiches unter der 18ten  Dynastie hin und sagte: „Die Südgrenze lag damals keineswegs bei der Insel Elefantine; schon die Könige der 12ten Dynastie hatten Nubien erobert; aber die Thutmosis und Amenophis der 18ten Dynastie drangen bis tief in den Sudan vor und errichteten dort Handelsplätze und Militärstationen. Das Land Kosch galt damals als reguläre Provinz des Neuen Reiches, die einem Gouverneur unterstand, der in Napata residierte. Von diesem alten Napata – später gab es ein neues stromaufwärts – finden sich heute noch ansehnliche Ruinen im Dschebel Barkal. In diesen Ruinen gräbt Professor Weinberg – dort fand er in einer kunstvoll ausgemauerten Höhle die Grabstätte eines königlichen Würdenträgers, die natürlich vor undenklichen Zeiten auch schon ausgeraubt worden war und nichts mehr enthielt als eben das Bild des Mannes Aun, in einer Altarnische unter Schutt versteckt.“

„Und wie fand man den Namen?“

„Bitte, Lublinksi“, sagte Dr. Bertle, „erkläre du das!“ Lublinski wandte sich jetzt erst zu uns hin, griff einen Bleistift und zeichnete an den weißen Rand der Karte zwei Zeichen, von links nach rechts – gleich in der Form, verschieden nur in der Größe – ein kurzer, gedrungener, nach unten offener Haken, daran ein langer vertikaler Strich, der nach unten wies. „Dies Siegel“, belehrte er mich, „steht auf dem Bild. Das Zeichen, das wohl ein Königszepter als Hieroglyphe-Determinativ darstellt, hat etwa den Wert ‚hk‘ und heißt als Wortzeichen ‚herrschen‘; Vokale schreibt man wie in allen semitischen Sprachen auch im Ägyptischen nicht. – Aber – nun kommt die Hypothese von Professor Weinberg – dieses Doppel-‚hk‘, ein kleines vor einem großen, ist etwas deformiert und erinnert weit mehr an zwei hebräische Buchstaben. Hinzu tritt die Tatsache, dass der Dargestellte weder ein Hykoskönig, noch ein Amosis oder Thutmosis war, sondern ausgesprochen jüdische Züge trägt. Zudem findet sich der Name Aun auch im 4. Buch Moses als Bezeichnung eines Mannes, der zur Rotte Korach zählte. – Merkwürdig genug, dass hier hebräische Schriftzeichen mit ägyptischen zusammenfallen und in denkbarster Kürze sagen: Aun, der herrschte. – Aber, ich fürchte und ich hoffe, dass damit die Merkwürdigkeiten des Fundes nicht erschöpft sind.“ Durch die gläserne Wand brach grell-weißes Licht herein – in langsamer Fahrt kam unten Weinbergs Wagen heran, hielt vor dem Portal.

Wir erhoben uns. Weinberg kam in Begleitung eines Mannes. – Lublinksi fragte den Doktor: „Wer ist das, der mit Weinberg kommt? Kennst du den Herrn?“ Dr. Bertle verneinte kurz, ging an das breite Schaltbrett hinüber und ließ mit einem Hebelzug sämtliche Moore-Lichtlampen über die ganze Decke des Laboratoriums hinweg aufflammen; vor die Glaswand schob sich gleichzeitig ein System von Rollläden.

Auch das Tor schien vom Schaltbrett aus geöffnet worden zu sein, denn die Schritte der Angekommenen klangen vom Flur, dann von der Treppe herauf.

Der Maler Weinberg, mir bis dahin nur dem Namen nach bekannt, ein Fünfziger etwa, groß und breitschultrig – ein wenig sonderlich, wie mir nun in der ersten Sekunde auffiel – reichte wortlos Lublinksi die Hand zur Begrüßung, dann erst dem Chemiker, der die Gelegenheit benutzte, ihm meinen Namen zu nennen. Der Maler schaute mich aus grau-grünen Augen wie prüfend an, erkundigte sich mit spröder Stimme, abgerissen, nervös:

„Sie sind Ägyptologe? – Oder Orientalist? – Sind Sie etwa mit den Maltechniken der Alten bekannt? – Oder – oder?“

Ich verneinte rasch, bat Dr. Bertle mit einem Blick um Aufklärung; der jedoch beschränkte sich auf die knappe Bemerkung, dass ich ein guter und zuverlässiger Bekannter und Bundesbruder von ihm sei, der sich für alle nicht-alltäglichen Dinge interessiere. Er wechselte das Thema, fragte:

„Und wen hast du uns noch mitgebracht, Max? – Dürfen wir wissen …?“ „Ach so!“ – Der Maler wandte sich zurück zu dem jungen hageren Menschen, der wie unschlüssig oder gar verschüchtert auf der vorletzten Stufe des Aufgangs stehengeblieben war, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zwischen uns; ich sah unter tiefschwarz glänzendem gewelltem Haar übergroße dunkle Augen in einem langen bartlosen Gesicht, die an uns vorbei, durch uns hindurchzuschauen schienen in eine ungewisse Ferne. Weinberg stellt ihn vor.

„Monsieur Tousi Beg vom Collège de France, zudem Mitarbeiter meines Bruders, Spezialist für die Entzifferung der ältesten und unvollständigsten Hieroglyphen-Papyrii.“

„Nehmen wir also Platz!“, schlug Dr. Bertle vor. „Ich bin neugierig!“ Dr. Bertle schob die Bücher auf dem Tisch zusammen, räumte eine Ecke auf. – Der Maler legte dort ein kleines Paket ab. „Darf ich es auspacken?“, fragte Lublinksi. Endlich dann lag das Bild des Aun vor uns: Ein Porträt von vollendeter Meisterschaft, unglaublich plastisch wirkend, in satten, frischen Farben von leuchtendem Glanz. Ein reifer Kopf, Klugheit in der gedrungen-breiten Stirn, Güte in braunen Augen, Energie im festen Kinn – das Gesicht von semitischem Typ, unverkennbar. Über die Stirn, dicht unter dem Haaransatz, lief als einziges Schmuckstück ein schmales goldenes Band mit winzigen, wie eingelegten Blättchen verziert, in der Mitte, über der Nasenwurzel eine Lotosblüte in hellem Blau mit goldenen Punkten, die der Herrscher Aun wohl in Lapislazuli geschnitten, dort getragen hatte.

„Es ist ganz einfach, lieber Max, eine Kombination von obligatorischem ägyptischen Kopfschmuck und … der Tephillin schel rosch. – Dieser Mann muss schon Aun geheißen haben, daran zweifle ich nun nicht mehr!“

Ich entdeckte das Siegel Aun im Bildhintergrund; es stand inmitten eines prachtvollen Papyrusornaments, stahlblau auf lichtem Grün.

Eine Weile war Stille im Laboratorium des Dr. Bertle, dann sagte dieser: „Es ist natürlich interessant genug, möglichst viel von dem Dargestellten zu wissen; noch interessanter aber wahrscheinlich wäre es, den Maler des Kunstwerks kennenzulernen oder wenigstens seine Technik oder – was die Sache des Chemikers sein wird – sein Material, seine Farben und ihre Zusammensetzung. – Nicht zuletzt auch gilt es festzustellen, was dem Bild als Malgrund dient – es ist weder Leinwand, noch Holz, noch Stein, noch eine Metallplatte. – Bitte, wer kann am besten raten?“ Ich riet auf Leder:

„Sicher nicht eine dicke Lage, sondern feine, gespaltene Schichten, in geheimnisvoller Weise durchtränkt und präpariert; vielleicht ist zwischen der Bildmasse selbst und dieser rätselhaften Rückwand ein Zwischenraum.“

„Es ist eigentümlicherweise auch die Idee meines Bruders!“, sagte Weinberg. „Ihm geht es viel eher darum, festzustellen, aus welchem Stoff die Rückwand besteht und ob innerhalb des Bildes ein Hohlraum existiert. – Mir naturgemäß ist es eher darum zu tun, die chemischen Bestandteile der Enkaustik-Farben zu bestimmen. Was schlägst du vor, Sam?“

Der Chemiker erwiderte: „Nehmen wir an, das Material wäre organischen Herkommens; dann lösen wir wahrscheinlich die offene Frage des Hohlraumes und seines etwaigen Inhalts mit Hilfe einer Durchleuchtung, vorausgesetzt, dass die Farbmasse selbst für Röntgenstrahlen durchlässig ist. Es kostet nur den Versuch.“

Wir folgten dem Doktor quer durch das Laboratorium zur Röntgeneinrichtung. „Nimm am Schalter den Zughebel 6 herunter“, bat Dr. Bertle Lublinski, der dem Wunsch sofort nachkam, „drücke dann den Knopf 33, das wird genügen.“

„Halt!“, sagte Max Weinberg plötzlich. „Halt! – Ich fürchte doch, dass die Farbschicht unter der Bestrahlung chemisch verändert werden könnte. Lass mich zuerst vom unteren zerbröckelten Rand eine Probe fortnehmen, die du dann später analysieren magst, Sam!“

„Gut!“, gab Bertle etwas ungeduldig zurück. „Nimm dort den scharfen Spachtel und beeil dich! Ich bin jetzt wirklich gespannt, was kommt!“

Weinberg schabte, klopfte. Wie bunter Staub rann es in die Hände des jungen Hieroglyphenlesers.

Und dann geschah es!

Dann geschah es, was wir nachher nur mühsam rekonstruieren konnten! Es kam wohl so, dass Weinberg mit dem Spachtel tiefer in das Bild hineinstieß und eine Öffnung schuf …

Gleichzeitig zwei Schreie … Weinberg taumelte zurück … stürzte gegen einen Retortenschrank, der mit ihm umfiel … Tousi Beg warf die Arme hoch … seine Hände leuchteten grell wie Sonnenlicht … brannten, wie wir meinten, lichterloh … Lublinski sprang zu ihm hin, um ihm zu helfen, ohne zu wissen wie … in der nächsten Sekunde krachte und splitterte es rundum im Laboratorium … mitten im Getöse rannte Bertle zum Schaltbrett, riss an den Hebeln, drehte, drosselte, mühte sich keuchend … umsonst. Alle Glühbirnen waren gesprengt!

Das Feuer an Tousi Beg erlosch, er selbst sank wie ohnmächtig gegen Lublinski. – Dann gellte die Stimme Weinbergs vom Boden her:

„Aus dem Hohlraum kam ein weißliches Pulver heraus! Was war das, Sam? – Was war das? – Lebt ihr alle?“

„Ruhe!“, schrie Dr. Bertle. „Hast du Schmerzen, Max?“ „Nein, Sam!“ „Haben Sie augenblicklich Schmerzen, Tousi Beg? Sind Sie verbrannt?“ „Nein, Herr Doktor! – Nein, aber … aber …“ Er setzte ab und rief dann schrill, dass sich die Stimme überschlug: „Röntgen Sie jetzt sofort … jetzt sofort! – Ich sehe … ich sehe …“ Der Chemiker, der Geistesgegenwärtigste von uns, drückte den Kontakthebel und … und da drüben … da drüben auf dem Fluoreszenzschirm stand deutlich … jede Linie lesbar … ein eng geschriebener Text, Buchstaben und Zeichen, die ich nie gesehen hatte.

Weinberg sprang auf. Wir fassten uns bei den Händen.

„Ruhe doch!“, gebot Bertle wieder. „Können Sie das lesen, Tousi Beg?!“ „Ja!“, hörten wir ihn matt sagen. „Es klärt sich … es klärt sich, meine Kraft wächst, gleich … gleich kann ich es lesen, gleich … ich sehe Aun, und ich sehe den Schreiber … gleich klärt es sich, und meine Kraft wächst!“ „Lesen Sie, Tousi Beg!“, zitterte der Maler. „Lesen Sie!“ Tousi Beg saß am Boden, gestützt von Lublinski, der keuchend atmete. – Tousi Beg begann: „Ani hamelech …“

„Lublinski!“, rief Weinberg dazwischen. „Chasim Lublinski, hör ihm zu und sag mir, was der spricht! Er redet ja, er redet ja Loschaun hakaudesch!“

Und stockend, manchmal Wort für Wort, manchmal Satz um Satz, las Tousi Beg den hebräischen Text in der unbekannten Schrift – Worte und Begriffe, die er lesen, sprechen, sicher kaum verstehen konnte. Lublinski verstand – Lublinski übersetzte:

„Ich, der König neben dem König – ich, der König vor dem König hier im Lande Kusch, – ich, der Königssohn von Kusch – ich segne den, der meine Worte liest – denn wenn je ein lebendiger Mensch es lesen wird, was als Geheimnis ich mit mir ins Grab nehme – dann wird mein Vergehen mir vergeben sein.

Ich – A’Un, der Sohn des Usiêl, zog aus mit dem Volk aus Ra’amseth – zog aus mit dem starken Manne Mosis aus des Großkönigs Land Mizrojim, hinaus in die Wüste – durch den Sturm, der das Meer teilte – durch die Tiefe des Meeres – ich, A’Un, des Usiêil Sohn, darbte mit dem Volk zu Ma‹aso und M’rivo und kämpfte hart gegen Amalêik zu Revidim.

Ich – A’Un lag mit dem Volk am Sinoj.

Gegen Mosis murrte das Volk und haderte. – Da verzagte ich.

Und da ich mit den Kriegsleuten wachte am Heiligtum, nahm ich vom Ephod, das neben der Lade lag, des Aharâun Schild und öffnete es und stahl vom heiligen  U r i m  ein winzig Teil.

Das Thummim, als ich es rauben wollte, zerriss mir die Rechte, dass ich es lassen musste.

Mit dem Urim, das alles Vergangene erkennen lässt, so, als geschähe es zur Stunde, das jede Schrift dem verständlich macht, der seinen Zauber übt – mit dem Urim ging ich zurück zum Großkönig in Mizrojim.

Und diente dem Großkönig. – Und ward an seiner Statt König in Kusch und herrschte in Nap’ta dreiunddreißig Jahre.

Nun ist meine Zeit um. Kusch erhebt sich gegen Mizrojim – mir wird kein Pyramidengrab und keine goldne Ruhestätte. – In die Höhle versenkt man den schlechten Verwalter oder … den Besiegten.

Mit mir die Reste des heiligen, geraubten Urim in die Erde!“

Tousi Beg schwieg, sank in sich zusammen; Lublinski schwieg.

„Zu Ende?“, fragte Dr. Bertle ruhig, sachlich. Tousi Beg musste ein Zeichen gegeben haben, Lublinski antwortete für ihn: „Ja, mehr sagt der Text uns nicht!“

„Er verblasst!“, schrie Weinberg auf. „Schau, Sam! Schau hin! Die Schrift wird blasser und blasser – die Zeichen verschwinden! Fort, zerstört! Auf immer! – Nichts! Alles vergangen! Niemand glaubt uns, niemand glaubt es!“

Der Maler sah recht, die Schrift schien sich auf dem Schirm drüben langsam aufzulösen. – Dr. Bertle warf den Hebel herum, wohl zu spät.

*

Dr. Bertle fand die Schrift nicht wieder, konnte nichts analysieren – nicht die Farben, nicht die rätselhafte Ledermasse des Bildrückens, nicht das weiße, zerfallene Urim – nichts!

Leo am Bruhl – Ein vergessener jüdischer Schriftsteller wird wiederentdeckt