Vor fast 100 Jahren, irgendwann im Verlauf des Jahres 1926 erschien die erste Kurzgeschichte Leo am Bruhls, „Der Todverkünder“, in einem auf billigstem Papier gedruckten Geschichtenmagazin namens „Meine Zeitung“, eine phantastische Skizze um einen hellsichtigen schwarzen Minenarbeiter, dessen Fähigkeit ihn nicht nur zu einem reichen Mann, sondern zu einem modernen Messias macht, dessen Prophezeiungen die Welt in Unglück und Wahnsinn stürzen.
Von Lars Dangel
Bis 1933, also in einem sehr kurzen Zeitraum, erschienen rund 200 Erzählungen von Leo am Bruhl, die aber allesamt nur in Tageszeitungen, Magazinen und Monatsbänden erschienen. Eine Buchausgabe ist zu Lebzeiten des Autors nie veröffentlicht worden. Im Frühjahr 1933 bricht das umfangreiche Schaffen des produktiven Erzählers dann unvermittelt ab.
Soweit war der Stand meiner Recherchen, die anfangs vor allem auf umfangreichen, aber weitestgehend wahllosen Käufen von Zeitschriften in Antiquariaten fußten und später durch Suchen in Internetarchiven von digitalisierten Tageszeitungen ergänzt wurden.
Aufmerksam wurde ich auf den Autor, der mir seit Mitte der 90er Jahre durch seine Beiträge in der populären Monatsbandreihe „Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens“ bekannt war und auf dessen Namen ich in den folgenden Jahren immer wieder stieß, durch seine einfühlsame, für die damalige Zeit ungewöhnlich tolerante Weltsicht.
Als ich vor rund 6 Jahren anfing, die Funde erstmals zu bibliographieren, war ich erstaunt, dass aus den ursprünglich fünf Erzählungen mittlerweile weit über 100 Geschichten geworden waren. Als ich zusätzlich die digitalen Archive auswertete, verdoppelte sich die Zahl der Funde, wobei die Suche noch lange nicht als abgeschlossen bewertet werden darf: Da besonders im Osten und Süden Deutschlands eine Digitalisierung von Tageszeitungen kaum vorgenommen wurde und der Antiquariatsmarkt keine nennenswerte Mengen aus dem fraglichen Zeitraum anzubieten hat, gibt es noch viele unerforschte Quellen. Dies lässt mich vermuten, dass durchaus noch Raum für Überraschungen hinsichtlich des Umfangs und der Verbreitungsdichte von Leo am Bruhls Werk ist.
Leo am Bruhls Geschichten, welche teilweise von einem dezenten Humor zeugen, der sich gerne mit der deutschen Bürokratie anlegt, thematisieren zum größten Teil mutmaßlich die eigenen Reiseerfahrungen des Autors. Belegbar ist dies kaum, aber in der Einleitung zu einer der Geschichten wird angemerkt, dass der Verfasser selbst eine lange Zeit in Sibirien mit den Einheimischen lebte. Wann und wohin Leo am Bruhl gereist war, bleibt bislang ungeklärt, aber es gelingt ihm mit nachtwandlerischer Sicherheit, den Leser mit wenigen Sätzen in eine Handlung zu werfen, die ihm umgehend vertraut erscheint und deren Personage wie selbstverständlich und ganz natürlich darin agiert.
Bis auf Australien sind alle Kontinente Handlungsorte bei Leo am Bruhl und mit einer außergewöhnlich einfühlsamen Sichtweise schildert er das Aufeinandertreffen der meist europäischen Kolonialherren auf die Einheimischen, die unter Arroganz und Ignoranz der Fremden zu leiden haben. Allerdings transportiert Bruhl durchaus ein positives Menschenbild und lässt die überheblichen Reisenden eine Katharsis durchleben, wenn ihnen vor Ort Unerklärliches zustößt.
Hier wird Bruhls Neigung zum Phantastischen spürbar, eine Phantastik, die er auch nie zu erklären versucht. Für Bruhl gibt es Mächte und Kräfte, die sich einer rationalen Erklärung entziehen und damit ist er überzeugender als viele seiner Feuilleton-Kollegen, die sich für eine zu lebhafte Phantasie zu schämen scheinen und deshalb am Ende ihre Phantasiestücke als Traum auflösen.
Eine Spezialität Bruhls ist es, seine Geschichten in völlig unerwartete Bahnen zu lenken und damit den Lesern fast immer eine überraschende Wendung zu präsentieren.
Zur Hochform läuft Bruhl auf, wenn er sich dem geschundenen Tier annimmt wie z. B. in „Dumme Kreatur“, „Der tote Hund“ oder „Die Kwanon mit dem Pferdekopf“ und ich muss gestehen, dass mich diese Geschichten jedes Mal zu Tränen rühren – und dabei habe ich sie schon mehrere Dutzende Male gelesen.
Ein weiteres Merkmal der Bruhlschen Erzählkunst ist, dass er sich durchaus den damals aktuellen Themen annimmt, vor allem aus den Bereichen Archäologie und wissenschaftliche Absurditäten, wobei er es tunlichst vermeidet, über Religion oder Politik zu referieren.
In nur einer einzigen Erzählung geht er auf den Antisemitismus ein und platziert den „wütenden Hitler-Mann“ wie selbstverständlich in einer Irrenanstalt.
Während fast alle seiner Geschichten teilweise dutzendfach in den Tageszeitungen, manchmal sogar über Jahre hinweg, nachgedruckt wurden, schrieb er für die Leserschaft jüdischer Zeitungen ganz exklusiv rund ein Dutzend Erzählungen, in denen er nicht nur den jüdischen Gemeinschaftssinn thematisiert, sondern auch Mythologisches zu phantastischen Begebenheiten umformt.
Besonders in diesen Geschichten kann Bruhl seine Fabulierkunst voll auskosten, ohne dass er Zugeständnisse an das allgemeine Publikum machen muss.
Allerdings konnte ich zum Autor selbst kaum etwas finden. Da Leo am Bruhl, dessen Name freilich auch ein Pseudonym sein kann, keine Bücher publizierte, bekam er auch nie einen Eintrag in einem der vielen lexikalischen Werke, und da er in keinem Lexikon erwähnt wird, war er auch nie Gegenstand von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen.
Lediglich eine winzig-kleine autobiographische Skizze Leo am Bruhls ist erhalten geblieben, in der er angibt, dass er nach einer Kindheit in einem Rheinstädtchen als Bürovorstand gearbeitet hat, und er diesen Posten aufgab, um Reisen zu können. Da diese Skizze, ebenso wie rund ein Dutzend Erzählungen, exklusiv in jüdischen Periodika erschien, lässt sich daraus schließen, dass Leo am Bruhl Jude war. Er war sogar Teil eines vornehmlich jüdischen Romanprojekts, zu dem 12 Autor/-innen jeweils ein Kapitel beitrugen.
Ende der 20er Jahre wird bei einigen Abdrucken seiner Erzählungen seinem Namen der Zusatz „Mainz“ angehängt. Meine Nachfragen beim Stadtarchiv und der jüdischen Gemeinde in Mainz blieben jedoch ohne Erfolg.
Jedoch erklärt der jüdische Kontext, warum Bruhls Werk 1933 abrupt beendet wurde. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und der bereits kurz darauf eingeleiteten Gleichschaltung der Presse wurde es für ihn schwer bis unmöglich zu publizieren. Obwohl seine Erzählungen, von denen ich weit über 1200 Abdrucke katalogisieren konnte, noch bis Mitte 1935 nachgedruckt wurden, neue Geschichten erschienen von ihm nicht mehr.
Der Zufallsfund von einer kaum bearbeiteten Neufassung einer von Bruhls auflagenstärksten Erzählungen, die hier nicht nur unter einem anderen Namen erschien, sondern in der Bruhl sogar eine kleine Nebenrolle zugeschrieben bekam, lässt mich allerdings vermuten, dass Leo am Bruhl nicht nur sehr früh die Gefahr durch die Nazis erkannte und untertauchte, sondern dass er nach Schweden floh und von dort aus unter dem Namen „Theodor Ericsson“ bis 1943 noch rund ein Dutzend Geschichten in deutschen Zeitungen unterbringen konnte, indem er einen nicht ungefährlichen Trick anwandte: Er sandte die Geschichten an die Übersetzerin Karin Reitz-Grundmann, die für ihre Arbeiten aus dem Skandinavischen bekannt war, und ließ die Texte als vorgebliche „Übersetzung aus dem Schwedischen“ erscheinen.
Damit brachte Bruhl nicht nur sich, sondern auch die Übersetzerin in Gefahr, denn er setzte damit die deutschen Behörden auf seine Spur. Außer: Diese Angabe war eine falsche Fährte. Leider konnte ich auch in Schweden behördlicherseits keine weiteren Informationen finden.
Da Reitz-Grundmann viele skandinavische Autoren übersetzte, stellt sich die Frage, ob sie noch bei weiteren Autoren fingierte Übersetzungsarbeiten vorgenommen hat und wie der Kontakt mit Bruhl zustande kam.
Nachdem ich vor einem Jahr zwei Bände mit insgesamt 85 phantastischen Erzählungen von Leo am Bruhl als Privatdruck herausgab und diese innerhalb von 5 Tagen vergriffen waren, sind aufgrund der äußerst positiven Resonanz mittlerweile 70 ausgewählte Texte des Autors in vier Bänden im Dornbrunnen-Verlag erschienen, die über Amazon erhältlich sind.
Meine große Hoffnung ist, dass mit dem Zugänglichmachen des Werkes von Leo am Bruhl es eines Tages einen Durchbruch in den Recherchen gibt und dieser bemerkenswert einfühlsame und äußerst produktive Autor von einem schemenhaften Phantom, dessen Leben einen ungewissen Verlauf nahm, wieder zu einer realen Person werden kann, mit der sich die Leser auseinandersetzen können, der aber auch die akademische Forschung sich widmen kann.
Hinweise leitet die Redaktion gerne weiter.
Drei Geschichten von Leo am Bruhl: