Von Leo am Bruhl
Gefunden und verloren – auf ewig verloren!
Und – sie wissen nichts mehr davon, nichts, nichts mehr! Sie sind mit Vergessenheit geschlagen, alle drei! Sie schütteln die Köpfe, schauen sich bedenklich an und sagen, ich müsse geträumt haben. Da ist Maurel, dem keine semitische Schrift fremd ist, der phönizisch, punisch, althebräisch, samaritanisch, aramäisch liest wie altägyptisch oder einen Keilschrifttext – er weiß von nichts!
Da ist Katzmann, der jeden Stein im klassischen Orient kennt, jede Tafel, jede Papyrusrolle, jedes Gerät und jedes Schmuckstück, alles was je die Spitzhacke des Ausgräbers herausgepickt hat – er zuckt die Schultern hoch!
Und da ist Felipe de Torre, lebendiger Bilderatlas der ostspanischen Höhlenkunst – er meint, dass ich überreizt sein müsse und phantasiere!
Nein, ich phantasiere nicht! Ich weiß! Ich weiß genau, dass Felipe Bericht gab, als wir an dem meterhohen Einschlupfloch angelangt waren: Er hatte auf seiner Wanderung durch die Schlucht zufällig mit der Hacke gegen den Fels geschlagen, da war der Verschlussstein der Höhle ins Innere gepoltert. Aber er lief, von einer sonderbaren Beklemmung gepackt, fort, um uns heranzuholen; er hatte einfach Angst, das Geheimnis des Erdlochs auf eigene Faust zu ergründen. Ich weiß genau, dass dann Maurel, mehr aus Eitelkeit als aus Mut, in den Durchschlupf kroch. Felipe folgte ihm, später zwängte ich mich durch, zuletzt kam Katzmann. Deutlich erinnere ich mich, dass er schimpfte, für ihn sei eigentlich Pessach-Abend, und wenn er in dieser Nacht wie ein Maulwurf herumkrieche, sei das zum mindesten stilwidrig.
Und ich sollte alles nur geträumt haben?
Nein! – Denn noch sehe ich, wie Maurel die Blendlaterne hochhebt, wie der Lichtkegel über die Wände hinstreicht. – Ich höre noch den halb erstickten Ruf Felipes, als … das Bild geradezu auf uns zustürzt!
*
Das Bild! Keiner will es jetzt gesehen haben, keiner will atemlos vor der Malerei gestanden haben, keiner will gesprochen haben, um es zu deuten! Und doch erinnere ich mich:
Zuerst fand Katzmann Worte.
„Es ist“, sagte er, „als sei es den Tiefen bestimmt, zeitlich und örtlich zusammenhängend das begrabene Wissen herauszugeben. Vielleicht ist auch die Forschungsarbeit einem geheimnisvollen Erfolgsrhythmus unterworfen. Da findet Woolley das alte Ur, die Stufenpyramide im Schutt, älter als Babylon und die Mastabas von Gizeh. Da findet der Pater Mellon, Mitarbeiter der päpstlichen wissenschaftlichen Akademie, urplötzlich Sodom und Gomorrha, die man längst vom Toten Meer überspült glaubte, am östlichen Ufer des Jordans, im Schatten des Berges Nebo, auf dem Moses starb. – Und nun finden wir dieses Bild, das älter sein muss als die Zikkurat von Ur!“
Die Lampe zittert in Maurels Hand. Er sagt heißer, was er sieht:
„Ein Mann schreitet dahin, fest und gewaltig und doch wie flüchtig. Zwei Frauen folgen ihm. Eine trägt den Krug, eine trägt wohl Brot. – Der Mann ist derb und braun. Die Frauen scheinen zartgliedrig zu sein, schlank und heller von Farbe. – Klingt es nicht an Mykene an? Zeigen nicht auch dort die Bilder dunkle Männer, helle Frauen? Aber viel tausend Jahre älter als Mykene muss das Bild sein!“
„Auch die ostspanischen Höhlenmalereien hielt man einmal für kretisch-mykenisch beeinflusst“, warf de Torre ein, „die Farben hier sind die gleichen wie die von Altamira und Valltorta. Der Mann ist kastanienbraun, wie die zweite Epoche von El Bosque malte; die Frauen sind zartrosa, wie die Kinderbilder von Albarracín. Aber, das Konzentriert-Kompositorische des spanischen Aurignacien-Stils scheint hier irgendwie ins babylonisch Steife erstarrt zu sein, obwohl die Leistung weiter zurückliegt als … als …“
„… als die Reliefplatte des Urnina aus Lagasch“, ergänzt Katzmann fast flüsternd.
Dann frage ich selbst:
„Was bedeutet die ungeheure Figur hinter den schreitenden Menschen?“
Nach langer Pause rät Maurel:
„Vielleicht eine Göttergestalt. Oder zwei Götter. – Aber …“
„Aber die Zwei sind wie Einer, wie zusammengewachsen“, sagte Katzmann.
Ich versuche eine Erklärung: „Vier Beine, menschlich gestellt und durchgedrückt, aber plump wie Bärenbeine, tragen einen mächtigen Rumpf, oder zwei Rumpfmassive nebeneinander; bestimmt trägt das Wesen nur einen Kopf, der Schädel ist wie schmalgepresst, das Gesicht ist nicht zu erkennen.“
„Vielleicht ein Tier der Vorzeit, ein Drachenriese“, meint Maurel.
„Nein!“ – Felipe de Torre schreit es beinahe.
„Dann ist es … ein Wahnsinn!“, antwortet Katzmann ebenso laut.
Stille ist zwischen uns. Unheimlich schwere Stille.
*
Bis Felipe de Torre redet, zögernd zuerst, dann schneller und schneller.
„Viermal so groß wie die Flüchtenden ist der Riese, der Ur-Mensch, einer der Tertiärmenschen, die noch in die Zeit des Bildes dort hineinlebten, einzeln oder gar noch in Horden, einer der Nephilim, der Gibborim, ein Rapanui, ein Rmoahal, der Utnapischtim im Gilgamesch-Epos. Der Riese ist kein Märchen, der Tiermensch der Maya, der Udmi der Chaldäer, der Minotaurus, das ‚goldene‘ Kalb, sie sind keine Sagen. – Seht die Höhlenzeichnungen! – Haarscharf ist jedes Urtier gezeichnet, beobachtet bis ins feinste kleinste Detail! Nein, diese Zwischenformen von Altamira, von Lacave waren einmal Wirklichkeit. Deutlich führen Krieger die Tiermenschen gefesselt fort. Und der Text sagt dazu, dass das Land Muschri dem Großkönig als besonderen Tribut diese Baziati, dies Pagadu, als Tempeltiere schickt. – Muss der Mensch in seiner Entwicklungsgeschichte eine Reihe gegangen sein? Sollten nicht Spielarten gewesen sein, von denen sich die heutige Menschenform durchsetzte, während urzeitliche Mischformen, Übergrößen und Untergrößen ‚abgebaut‘ wurden?“
„Es ist Wahnsinn, was du das sagst!“, schreit Katzmann dazwischen.
„Nein! – Wie es Mischformen gab, heute noch als Atavismen gibt, so gab es Riesengeschlechter. Warum nicht, Katzmann? – Bitte, das Körperliche und geistige Wachstum des Menschenindividuums ist in großem Ausmaß abhängig von der Tätigkeit der Hypophyse. Produziert der Hirnanhangvorderlappen zu wenig Hormone, verkümmert der Mensch zum Zwerg. Bei krankhafter Vergrößerung des Organs entartet der Mensch zum Riesen. – Kann nicht zeitweise eine solche ‚Entartung‘ normal gewesen sein, durch Klima, durch Ernährung? – Schon dann hätte es Riesengeschlechter geben müssen! Es gab sie! Im nördlichen Arizona hat man vor einigen Jahren Felszeichnungen entdeckt – Dr. Hrdlička referierte darüber – die klare Dinosaurier zeigen, und zwar im Kampf mit Menschen ihrer Größe, mit Riesen, fünfmal unser Normalmaß hoch! – Und dort das? – Vielleicht auch noch eine letzte Mischform, ein Ur-Wesen! Undeutlich allerdings, sicher aber menschenähnlich, zur Menschenrasse gehörig. Ein Riese, oder zwei Riesen dicht hintereinandergestellt! Und nur ein Kopf …“
Maurel fragt zwischendurch: „Fliehen die Menschen vor dem Fabelwesen?“
Und Felipe de Torre antwortet: „Mir scheint, als sei um die Flüchtlinge die Landschaft grau, wie in Dunst gehüllt. Doch die Schwaden reichen nur bis zu dem Doppelwesen, hinter ihm glüht es wie Urweltbrand!“
Da spricht Katzmann, mit einer Stimme, die von weit her kommt:
„Sodom und Gomorrha brennen! Laut flieht mit den Töchtern!“
„Wahnsinn!“, flüstert nun bebend Maurel.
*
„Feuer und Schwefel ließ der Herr regnen auf die Sündenstädte, und wirklich von Glutlava verbrannt sind die Häuser, die Mellon drunten am Jordan ausgräbt. – Wahr ist, was geschrieben steht! – Und es heißt: Laut zog nach Zoar, und, da er sich fürchtete, weiter auf den Berg in die Höhle. Der Berg kann nur der Nebo gewesen sein, hier beherrscht er die Umgebung. – Und wir, das sage ich euch, wir stehen in Lauts Höhle, die verflucht ist in Ewigkeit, da die Töchter hier sündigten, wie Ammon und Moab sündigte! – Verflucht ist die Höhle Laut!“
Das Wort hallt lange nach. Schweigen folgt ihm. – Bis dann wieder eine Menschenstimme aufklingt und Felipe langsam sagt:
„Wenn der Geist über dich gekommen ist, Katzmann, wenn du mehr sprichst, als dein sterblich Hirn wissen kann, dann ist das dort Lauts Geschichte, die ein Urwelt-Künstler im Bild festhielt. So wäre es keine Sage nur …“
„Wahr ist, was geschrieben steht!“, murmelt Katzmann.
„Und zwischen Laut und dem Verderben stände der Doppelriese!“, ergänzt Maurel. Aber Katzmann wirft die Arme hoch und ruft beschwörend:
„Lästert nicht! Geschrieben steht: die Engel, die zu Laut kamen, nicht die Riesen, nicht die Tiermenschen, klar steht da ‚hamalochim‘!“
Felipe entgegnet ruhig: „Später spricht der Text, wenn ich nicht irre, nur noch von den ‚Männern‘, die die Leute von Sodom herausverlangten. Denn die Stelle ist eindeutig.“
„Auch ‚Engel‘ waren nicht immer die zarten ätherischen Wesen, zu denen sie eigentlich erst die byzantinische und frühchristliche Kunst gemacht hat“, erklärt jetzt Maurel, „zu Abrahams Zeiten sind es mehr doch Gottboten und Helden, mächtige Erscheinungen, die den Sodomitern, in bösen Lüsten verweichlicht, zum wenigsten Sensation bedeuteten. Auch die ersten Engel im Koran sind reichlich robuste Gestalten, die mehr können als himmlische Lieder singen. – Vielleicht waren Engel solche Riesen nur!“
Und de Torre grübelt weiter: „Es wäre, menschlich gedacht, wohl denkbar, dass solche Ur-Riesen, Enak-Söhne, ein Paar jener ‚Söhne des Elohim‘, es gewesen sind, die Laut aus Sodom führten, ehe die Naturkatastrophe ausbrach. Diese Urwesen müssen noch enger mit der Natur verknüpft gewesen sein als wir Jetztmenschen es sind; vielleicht reagierte noch das Organ der Zirbeldrüse, das uns verkümmerte. – Die Engel um Laut aber …“
Katzmann, der dicht an die Malerei herangegangen ist, spricht immer noch wie in einer Trance, ein Stück des Genesis-Textes, der ihm im Gedächtnis aufgewühlt worden ist: „Wajaumer laut elehem: al no, adaunoi!“
Und sofort greift Maurel die Stelle auf und übersetzt: „Laut sprach zu ‚ihnen‘, den Männern: Nein, mein Herr! – Warum spricht der zu Zweien plötzlich in der Einzahl?!“
Felipe de Torre sagt: „Das Doppelwesen mit dem einen Kopf! Das ist es!“
„Mit dem einen Kopf!“ – Das habe ich de Torre noch sagen hören; und es fiel mir ein, dass ich von einem Atavismus gelesen hatte, von einer Abnormität unserer Tage: von dem Inder Laloo, der zwei Körper hatte, vier Beine, vier Arme, – und nur einen Kopf. – Was dann mit uns geschah in der Höhle Laut, das muss auch ich … vergessen haben!
*
Die Höhle im Berg Nebo ist wie tausend andere Höhlen im Gestein, die Wände sind kahl und feucht. Da ist kein Bild mehr. – Ob die eindringende Luft es in der Nacht zerstörte? Nur, geträumt habe ich nicht.
Und dann, sie lachen darüber, aber ich muss es noch erzählen:
Felipe entdeckte, in den Fels geritzt, eine Blume; die Zeichnung ist kaum fingerlang. Er sagte sofort, dass dies unzweifelhaft Cistus ladaniferus darstelle, ein Ziströschen; weite Strecken in den Heidegebieten Spaniens seien von dieser Art bedeckt, darum sei die Zistrose auch die Wappenblume Spaniens. – Und Maurel fuhr fort: „Das Schleimharz, das sich auf den Blättern der Zistrose bildet, Ladanum, ist in der Bibel schon als Salbe und Rauchwerk genannt. Es heißt dort … ‚laut‘ …“
Seltsam …
Leo am Bruhl – Ein vergessener jüdischer Schriftsteller wird wiederentdeckt