Von Leo am Bruhl
Land der Sonne und des Goldes!
Stadt der Trümmer und der Flüche!
Als der letzte Hasdrubal zum Verräter wurde, als er vor Publius Cornelius Scipio auf den Knien lag und um sein Leben flehte, da sprang in der gleichen Stunde sein Weib, die Kinder fest umschlungen, vom höchsten Turm des Eschmun-Tempels hinab in die Flammen der brennenden Stadt, den grausamsten Fluch auf den Lippen.
Scipio jagte die schnellste Trireme nach Rom: „Ich habe Karthago. – Was soll ich damit tun?“
Kurz war die Antwort: „Verfluche es!“
Herrisch war der Fluch, ganz römisch. Und so schloss er: „Götter! – Lasset ewiges Schweigen hier wohnen und nimmer endende Verwüstung. Verflucht sei, wer hierher zurückkehrt. Doppelt aber verflucht sei der, der diese Trümmer auferstehen lassen will!“
Der Brand, der sechzehn Tage lang wütete, löschte die gewaltigste Stadt Afrikas und ihre Kultur aus. Nichts blieb übrig – kein Tempel, keiner der goldüberladenen Paläste der Barca und Hanno, kein Denkmal, kein Brunnen. Von den vielen tausend Bänden der berühmten Bibliothek rettete ein wissbegieriger Centurio achtundzwanzig Bücher des Richters Mago über Landwirtschaft. – Alles sonst ging unter.
Und noch in unseren Tagen liegt über Sand und Schutt der machtvolle Fluch des Scipio. Jeder Eingeborene weiß es und warnt. Was nicht der Regen freiwäscht aus der Erde an Münzen, Schmuck, Votivtafeln und Urnen – das soll verborgen bleiben.
Und gräbt trotzdem die freche Spitzhacke des Fremden in den Boden, dann trifft sie im Gebiet der Tempel auf Fluchsteine hier und dort: „Wer dies Mal umstürzt, soll von Baal zerschmettert werden!“ – „Der das heilige Schweigen stört im Tempelbezirk der Tanit, wird sterben!“ – Baal und Tanit, die Menschenopfer heischenden Götter des phönizischen Karthagos; zweihundert Kinder fraß nach ihrem Willen der weißglühende Ofen an einem einzigen Tag, als Agathokles vor den Toren stand. Und als Gelon von Syrakus die Karthager bei Himera vernichtend geschlagen hatte, stellte er im Namen der Griechen die seltsamste Friedensbedingung aller Zeiten als einzige: dass die Karthager die Kindesopfer aufgeben sollten.
Fluch der grässlichsten aller Götter, Fluch des zornigen Römers!
Fluch der Jahrtausende und immer Fluch!
Ist denn über diesen Gestaden kein Segen mehr? Nur Fluch?
*
Nun, in acht kurzen Tagen verloren wir den Geometer, zwei Gehilfen, vier Arbeiter. An Fieber, Schlangenbissen, Blutvergiftungen, unter fallendem Gestein.
Streik natürlich. – Die Gefahr sei zu groß, sagten die Araber und verlangten entsprechende Zulagen zum Lohn. Da wir ihn nicht erhöhten, zogen sie ab.
Um den Feindseligkeiten und Scherereien aus dem Weg zu gehen, ließen wir die Arbeiten ruhen und fuhren südwärts, der Küste entlang bis zur kleinen Halbinsel Sarsis und dem Flecken Sian. Dort liegen noch die Rohrleitungen, durch die das im Hinterland gewonnene Olivenöl in den Hafen und auf die römischen Galeeren geleitet wurde.
Gigthis hieß der Hafen, in dem Griechen und Römer, Libyer und Tyrer, Numidier und schwarze Häuptlingen Güter tauschten: Gold und Elfenbein, Gewürze und seltene Steine, merkwürdige Tiere und Sklaven.
Zwischen dem alten Gigthis und der Insel Djerba ist die Meerenge fünf Kilometer breit; aber trotzdem bauten die Römer eine Brücke hinüber. Ihre Spuren wollen wir finden. Drei Taucher, die sonst Schwämme suchen, sind für uns tätig.
Am dritten oder vierten Tag nutzloser Arbeit ereignet sich ein kleiner Zwischenfall: Ein flaches Araberboot fährt vom Festland hinüber nach Djerba. Ein Aufschrei plötzlich, händeringend steht ein weißbärtiger Mann in dem Kahn, im Wasser quirlen große Kreise.
Kind über Bord!
Ich rufe einem der Taucher zu; er schaut mich an und schüttelt verneinend den Kopf. Dazu hat man ihn nicht gedungen. Ich begreife sehr rasch und schreie das Zauberwort: „Fünfzig Francs!“ – Der Mann tut einen Hechtsprung, schwimmt hinüber, fischt das Kind, reicht es dem verzweifelten Greis, kehrt zurück zu unserer Schaluppe und hält die nasse Hand auf: Ein glattes, ein gutes Geschäft für Hassan den Schwammtaucher.
Fünf Minuten später ist das Ereignis vergessen.
*
Wir spüren weiter der Römerbrücke nach. – Ohne Erfolg.
Überraschend fällt die Nacht über uns. Wir brechen ab und legen uns zwischen den Wagen nieder. Der Sand ist warm und weich.
Durch die Dunkelheit leuchten die Sterne und, kaum von ihrem Flimmern zu unterscheiden, die zerstreuten Wachfeuer der Beduinen draußen in den Dünen. Die Stille ist vollkommen.
Zwei Stunden schlafe ich oder drei.
Dann weckt mich Hassan der Taucher mit einem unsanften Rippenstoß. Schlaftrunken und mürrisch fahre ich auf.
„Der alte Mann von Guallala bringt das Geld zurück“, erklärt Hassan, und ich sehe das Funkeln seiner Augen. Aber ich verstehe nicht.
„Welcher Mann? Und welches Geld?“
Hassan lacht laut auf. Es belustigt ihn ungemein, dass mein Gedächtnis für Geld so schlecht ist.
„Ein Knabe fiel ins Wasser, Herr!“, erinnert er mich. „Ich zog ihn heraus, und du gabst mir fünfzig Francs. – Der Mann von Djerba ist da, um dir das Geld zurückzugeben! Soll ich es ihm abnehmen?“
„Nein!“, sage ich gähnend dagegen und recke mich. „Er mag hierher zu mir kommen; ich will mit ihm sprechen!“
Lautlos geht Hassan ein paar Schritte seitwärts. Ich setze mich auf, schüttle den feinen Sandstaub von mir und überlege: Ist es der Weißbärtige, der in dem Araberboot stand? – Weshalb kommt er zur Nachtzeit? – Ein seltsamer Araber, der eine solche „Schuld“ zurückzahlen will! Aber drüben auf der Insel wohnen die stolzesten Charidschiten, die sich eines unbefleckten Stammbaums aus reinem Blut rühmen und nie sich mit der Bevölkerung des Festlandes mischen. – Wenn ich das Geld zurückweise, gewinne ich einen Freund auf Djerba.
So überlege ich noch – da ist ein grauer Schein vor meinen Augen, ein weißer Burnus wohl in der Finsternis. Und eine tiefe, tönende Stimme sagt in reinstem Französisch: „Sei gegrüßt im Namen Gottes, Fremder! – Dir verdanke ich das Leben meines Tochterkindes, das meines Alters Freude und Sonnenschein ist. – Sage mir, was du dir wünschest?“
Ist es dieses vertrauliche, väterliche Du, das in der modernen Umgangssprache so sonderbar klingt – ist es ein geheimnisvoller Zwang, der von dem nächtlichen Besucher ausgeht? – Oder was eigentlich lässt mich jetzt vom Boden aufspringen und die zurückhaltende Überlegenheit des Europäers vergessen?
„Dass ich Menschenpflicht erfüllte, bedarf keines Dankes“, höre ich mich tonlos sprechen.
„Es gibt keinen Dank, der groß genug wäre, zu vergelten, was du für mich getan hast!“ – Die Worte sind ernst und schwer und fallen wie Steine in einen tiefen Felsenbrunnen. Ich spüre, dass sie hohle, höfliche Phrase nicht sein können, und es ist mir nun, als müsse ich stumm warten, bis der Alte, dessen Gesicht ich nicht einmal sehen kann, fortfährt, zu mir zu reden.
Eine Weile ist Schweigen, undurchdringlich wie die Wüstennacht am Meer. Der Mann von Djerba scheint zu überlegen.
„Kein Mensch ist wunschlos, Fremder!“, dringt es mir dann ans Ohr. „Auch du wirst Wünsche haben, große und kleine. – Besinne dich auf deinen sehnlichsten Wunsch. Sprich ihn aus. Er soll dir erfüllt werden!“
Bin ich nächtens verstrickt im blumigen Gerank arabischer Märchen? – Will mir der Weißbärtige Aladdins Wunderlampe schenken? – Leben Zauberer drüben auf der Insel Djerba, denen die Dämonen untertan sind? – Oder träume ich gar?
Nein, ich bin wach. Vielleicht ein wenig noch schlaftrunken und verwirrt von einem Traumgesicht. – Unsinn dies alles!
Der Verstand begehrt auf: Wo ist Hassan? – Weshalb kam er nicht mit dem Alten zurück? – Ein abgekartetes Spiel? – Wie konnte der Weißbart bis dicht an das Lager dringen, ohne dass die Wachhunde anschlugen? – Warum erwachen die Gefährten nicht vom Kommen und Gehen der Worte? – Ich verstehe nicht.
Ich verstehe mich selbst nicht. Bin ich gelähmt an Willen und Wollen? Weshalb denn schicke ich den Alten nicht fort? Was soll mir seine phantastische Rede? Warum auch schalte ich nicht das grelle Licht des Scheinwerfers ein, dessen Hebel ich fassen kann, ohne einen Schritt zu tun? Drängt es mich nicht, den mit den Augen zu schauen, mit dem ich mich im Dunkel unterhalte? – Und – seltsam! – warum eigentlich glaube ich jetzt plötzlich, dass mir tatsächlich der Wunsch erfüllt werden wird, den ich in diesem Augenblick ausspreche?
„Sage mir deinen Wunsch!“ Es ist ein Fordern, keine Bitte mehr.
Das Getriebe des Denkens setzt ein wie ein Motor, der lange Zeit ruhte. Es ist grausam schwer, in einer Minute den sehnlichsten Wunsch unter dem Gestrüpp allen Verlangens zu entdecken.
Das Nächstliegende drängt sich vor: Wie ein geisterhaftes Filmband rollt sich das Missgeschick der Expedition vor mir ab; der Tod der Gehilfen, die Flucht von der Trümmerstätte Karthagos hinweg, die bisher nutzlose, kostspielige Arbeit in der Meerenge von Djerba.
Aberglaube!
Aberglaube? Und wenn nun doch des Scipio Fluch über uns läge?
Schon kommt der Alte mir fragend zuvor: „Dein Werk war nicht erfolgreich? – Du hast umsonst das Vergangene gesucht?“
Was weiß dieser Araber von meinem Werk und der Sehnsucht des Schatzgräbers, der die Erde nach Steinen und Knochen durchwühlt?
Und doch springt es mir bekennend über die Lippen: „Es ist wie ein hemmender Fluch über allem, was ich auch beginne!“ Und in der Nacht erscheinen mir die Nadelstiche der Misshelligkeiten wie faustgroße, brennende Wunden am leiblichen Ich.
„Glaubst du“, fahre ich fort, einmal jetzt im Schwung der gelösten, jäh aufbrechenden Bedrängnis, „glaubst du an die Flüche der Heidengötter, die auf tausend Steinen eingemeißelt sind? – Meinst du, dass der Bannfluch des Römers noch wirksam sei, den er vor fast zweitausend Jahren über Karthago tat?“
„Der Geist einer Verwünschung ist mächtig, und ohnmächtig ist die Zeit“, gibt der Mann im Burnus zur Antwort. „Was sind zweitausend Jahre einem Fluch?“
Er hält ein, und ich sehe trotz der Finsternis, wie er den Arm hebt und die Hand ausstreckt nach Norden, gegen das Gräberfeld Karthagos.
„Du hast gefragt“, spricht er weiter, „ob ich glaube, dass der Römerfluch noch lebendig sei, wie die Leute glauben ringsum bis tief hinein in die Wüste. Dieses erwidere ich dir: An die Flüche, die bekannt sind, die geschriebenen und gesprochenen, glaube ich nicht. Aber ich muss an die tausend und abertausend Verfluchungen glauben, von denen kein Mensch etwas weiß, die nur zu erahnen sind. Ich muss an die ungezählten bösen Wünsche glauben, die die ungezählten zu Tode gepeitschten, gehetzten, gemarterten, gequälten Gotteskinder ausstießen über die tierische Grausamkeit dieser Stadt. Denke an die Laster der Tanit, an den Ofen des Moloch und die unzählbaren Opfer wahnsinniger Priester. Denk‘ an die hundert Schlachten um diese Stadt, denk‘ an Verrat und nie endenden Meuchelmord. Vergiss nicht die Massenschlächterei der Römer in den Amphitheatern, vergiss nicht das unmenschliche Wüten der Vandalenhorden. Willst du annehmen, dass die Gemordeten Segen herabflehten über ihre Mörder und die Herren von Karthago? Mit der Kraft des letzten Atemzuges riefen sie Fluch! Das Land ist verflucht! Denn meine Väter fluchten dieser Erde, die die letzte Herrlichkeit Israels zerbrechen sah! – Und an diesen Fluch meines eigenen Blutes glaube ich, Fremder!“
„Israels?“, entfährt es mir erstaunt. „Die letzte Herrlichkeit Israels? Gibt es auch eine jüdische Leidensgeschichte in Karthago? – Wer bist du? – Nenne mir deinen Namen und erlaube mir, dass ich dich in deinem Hause besuchen darf!“
Der Alte weicht meinen Fragen und meinem Wunsch aus.
„Du wolltest“, lenkt er das Gespräch in die frühere Bahn zurück, „dass dein Unternehmen glücklicher und fruchtbarer sei. Dieser Wunsch soll dir erfüllt sein. Dein Tun sei gesegnet. Denn gegen die Myriaden der Flüche, die auf dieser Stätte lasten, gegen die Flüche meines Blutes selbst setze ich einen einzigen Segen – einen Segen jedoch, der stärker ist als alle Verdammungen der Welt. Nur, vertraue dich mir eine Stunde an und folge mir. Wenn der Morgen graut, wirst du hierher zurückgekehrt sein.“
„Und wohin willst du mich in der Nacht führen?“, zögere ich halb.
„Zu der Hand des Engels, die Segen über dich breiten wird!“
Feierliches, wunderliches Wort! Es schmiedet mich gleichsam an den Unbekannten von der Insel Djerba.
„Ich folge dir!“ Es klingt mir selbst wie ein freudig-ernster Schwur.
Und lautlos verlassen wir das schlafende Lager.
Heller flammen die Sterne über uns.
Aber die Wachfeuer vor den niederen, langgestreckten Beduinenzelten sind niedergebrannt und schwelen drüben mit tückisch braunroter Glut, als sei zwischen Sand und Meer das Tor zur Hölle.
Stumm nebeneinandergehend überschreiten wir Düne um Düne.
*
Am Strand wartet ein Boot, lang und schmal, schwarz. Ich entdecke es erst, als ich vor ihm stehe.
„Bücke dich!“, sagt der Alte. „Fühlst du den dreikantigen Stein?“
„Ja. Was bedeutet er?“
„Merke ihn dir. Er trägt das Zeichen der Tanit. Hier stand der Brückenkopf, den du gestern gesucht hast. – Steige jetzt ein!“
Das Boot schwankt, stößt vom Ufer ab, schaukelt eine halbe Minute ins offene Wasser.
„Halte dich! Wir werden schnell fahren müssen!“, höre ich die dunkle Stimme. Ein unverständliches Wort folgt.
Von achtern kommt als Antwort ein leichtes Schnalzen. Ich kann nicht zwei Schritte weit sehen. Jetzt aber höre ich, wie – ein Motor anspringt. Und ich wundere mich nicht mehr.
Im Wasser spiegelt sich der Nachthimmel. Wir stoßen, von silberner Gischt umsprüht, wie ein Pfeil hindurch.
*
Djerba ist Insel und Oase zugleich. Wie ein Stück Paradies liegt es vor dem sandigen, unfruchtbaren Küstenstreifen des Festlandes. Auch den Alten zeigte es sich schon so. Vor mehr als zweitausend Jahren rühmt Stylax in seinem Periplus die landschaftliche Schönheit dieses „tief liegenden Eilandes“; Djerba ist die „Insel der Lotosesser“, von der Odysseus erzählt, es ist das „Pharis“ des Theophrast, das „Meninx“ des Polybius und des Herodot „Phla“. Unzählige Kulturen verzweigen sich hier.
Wir landen vor einem Quaderbau, einer alten Befestigung oder einer Karawanserei; das Boot gleitet mit abgestelltem Motor langsam in einen mächtigen Bogengang. Licht blitzt für wenige Sekunden auf. Ein kurzer Landungssteg, eine Steintreppe tauchen aus der Finsternis.
„Komm!“, fordert mich der Alte von Djerba auf. „Wir müssen eilen, denn unser Weg ist noch weit.“
Das Meer reflektiert den Glanz der Gestirne und wirft matte, sich kreuzende Strahlenbündel über die Insel; die Nacht lässt sich durchdringen.
Wir gehen zuerst auf einer breiten, sorgfältig gepflasterten Römerstraße dahin, biegen nach kurzer Zeit links ab und wandern wortlos durch Palmengärten und Ölbaumpflanzungen.
Mein Führer drängt immer mehr zur Eile.
Häuser erheben sich hier und dort, einzeln nur. Sie scheinen zu erwachen, einen Augenblick lang zu lauschen und dann flüchtend, sich bergend in die Nacht zurückzuweichen.
„Wo sind wir?“, frage ich einmal. „Es gibt doch ein paar Dörfer auf der Insel.“
„Frage nicht“, antwortet mir der Mann an meiner Seite, „es ist gleichgültig, wo du bist – gedulde dich! Und eile!“
Rascher schreiten wir aus.
Ich spüre Müdigkeit; der Greis neben mir geht mit federnden Schritten wie ein Jüngling. Wohin, wohin?
„Zu der Hand des Engels, die Segen über dich breiten wird!“
Wo ist das Geheimnis? – Wie wird es sich mir enthüllen?
*
Wieder durchqueren wir einen Palmenhain, feuchtes Erdreich ist unter meinen Sohlen. Plötzlich aber dann hallt der Schritt in das Schweigen der Nacht, dass ich erschreckend auffahre.
„Bleibe stehen!“, spricht mein Führer. „Halte dich an der Säule.“
Ich stehe auf einem flachen, nackten Stein, einer Plattform, auf der sich ein mannstarkes Denkmal erhebt. Meine greifenden Finger ertasten unklar eingemeißelte Ornamente oder Schrift. Wieder will mir die neugierige Frage durch die Zähne.
Ein leises, raues Rollen und Knirschen um mich, ein sanftes Schwanken des Bodens unter mir. Fester klammerte ich mich an die Denksäule.
Wir sinken mit diesem phantastischen, urtümlichen Fahrstuhl hinab in die Erde. Und ich werde nicht überrascht sein, wenn wir in einem altkarthagischen, unterirdischen Palast anlangen, in einer weiten Säulenhalle mit farbenfrohen Wandgemälden und wundervollen Mosaikböden.
Die Platte, die uns niederführt, ruckt jetzt und stößt auf.
Der Weißbärtige fasst mich bei der Hand und zieht mich in einen dunklen, moderfeuchten Gang. Hinter uns hebt sich der Lift und schließt uns vom Leben der Welt ab.
Zwanzig kleine, tappende Schritte zähle ich.
Helligkeit endlich! – Ungewiss, aus welcher Quelle sie in den Raum fließt, der uns umschließt. Dies Licht ist matt und golden wie der Schein altertümlicher Öllampen …
Vier Meter im Geviert hat das Gemach. Die Wände sind golden und blau, dunkelblau mit goldenen Sternen ist die gewölbte Decke.
Teppiche sind unter mir.
Der Alte hüllt sich fester in den weißen Mantel. Noch habe ich sein Gesicht nicht erspähen können. Und jetzt, in der Dämmerhelle verbirgt er es unter einem Umhang, den er über sich wirft.
„Sprich nicht!“, höre ich dumpf seine Stimme. „Hebe deine Augen und schaue über dich. Die Hand des Cherubs ist über dir und wird dich segnen, wenn du dich ihr beugst. – Wenn du beten kannst, Fremder, so beuge dich und bete!“
Tief greifen die Worte in mich hinein. Ich fühle den Glauben und die andächtige Scheu des Alten auf mich überspringen.
Ein kurzer Blick zur Höhe zeigt mir eine aus Gold getriebene Hand, die – die Finger seltsam gespreizt – aus dem Stein des Gewölbes wie segnend herausragt …
Und mir ist, als schwebe im goldenen Leuchten diese Hand herab auf meinen Scheitel – ich beuge das Knie, wie ich es lange Zeit nicht getan habe – der Kopf sinkt mir vornüber …
Eine Starre ist in mir – Erwartung und Erfüllung schon – eine Starre, die ich nicht brechen kann und … nicht brechen will, denn sie ist Friede!
*
„Komm jetzt!“
Eine Treppe führt hinauf. Wieder dann ist der Garten um mich.
„Eile! Du musst vor Morgengrauen drüben sein, du – Gesegneter!“
Wir schreiten dem Meere zu.
*
Lange zaudere ich und überlege, fast ängstlich. Lange halte ich an mir. Bis dann doch das Verlangen, sicher mehr als Neugier oder Wissbegierde, sich in mir überschlägt und den Willen überflutet. Ich greife jäh in die Falten des weißen Mantels neben mir und flüstere meine Bitte: „Sage mir, wessen Hand mich segnete!“
Und der Alte, nach einer Weile, spricht feierlich: „Der Herr sagte zu Mose: Du sollst zwei Cherubim machen von lauterem Golde; die sollen zu beiden Seiten des Gnadenstuhles in der Stiftshütte stehen und schützend ihre Flügel ausbreiten. Bezalel, der Sohn des Uri, soll sie schaffen. – So steht es geschrieben.
So geschah es: Bezalel, der seine hohe Kunst aus dem Land des Ramses mitbrachte, goss – erfüllt vom Geiste Gottes – in der Wüste die Gestalten der segnenden Engel. Die Cherubim zogen mit dem Volk Israel durch die Jahrhunderte, bis sie endlich Ruhe fanden im Tempel, den König Salomo ihnen baute. – Als die Chaldäer das Haus des Herrn niederbrannten, wurden die goldenen Cherubim gerettet. Und wieder wachten sie – nach dem Exil – im neuen, schönen Tempel über der Lade des ewigen Bundes.
Dann kam das Schwert des Römers über die Stadt und über Juda. Titus zerstörte das Heilige Haus. Und seine Schätze nahm er mit sich.
Mit dem Römer, mit dem Räuber, fuhren die Cherubim über das Meer.
Aber dem Raub folgte eine Schar der Getreuesten, die gläubig der Stunde harrten, da die Engel Gottes sich erheben würden. Das Sehnen blieb unerfüllt. Sie starben gemartert und verhöhnt. Ihre Söhne und Enkel warteten nun auf das Wunder. Es blieb aus.
So schmachteten gefesselt in Jahrhunderten die Engel des Bezalel zu Rom. Aber kein Volk ist langmütiger und geduldiger als Israel.
Viele Menschenalter hindurch war Rom siegreich. Neben der von Rom verfluchten Stätte entstand ein neues, ein römisches Karthago. Julius Cäsar baute es. Die neue Lehre, die von dem Nazarener ausging, kam über Rom und kam über Karthago. Sie wuchs und wurde zu weltlicher Macht, spaltete sich und schuf harte Kämpfe. Dreihundert Jahre währte der Streit. Da riefen die Unterlegenen, unversöhnlich, die Vandalen nach Afrika. Genserich überrannte Provinz um Provinz; Karthago wurde ihm untertan. Mit vierhundert Schiffen fuhr er hinüber und plünderte das stolze Rom. Die Beute schleppte er nach Karthago.
Und mit ihr den Schmuck aus dem Tempel Jerusalems.
Mit den heiligen Geräten zogen die Nachkommen der Getreuesten in das fremde Land, als Sklaven, als Diener, als Händler. Immer noch voll der Hoffnung, dass die goldenen Engel wieder machtvoll würden.
Dann aber sahen ihre Augen den größten Frevel:
In den Straßen Karthagos zerschlugen Vandalenhorden die Cherubim in Stücke, um des Goldes willen.
Und die Getreuen riefen Fluch über die Stadt und die Sünder.
Eine der segnenden Hände aber wurde gerettet. Unter ihr hast du gestanden, Fremder! Der stärkste Segen, den die Erde besitzt, ist über dir!“
*
Ich finde kein Wort der Erwiderung. Glauben und Zweifel ringen. – Schweigend erreichen wir das Gestade, die Karawanserei. Das Boot erwartet uns. Wir setzen über, als die Sterne weiß werden.
Der Mann von Djerba reicht mir die Hand: „Glaube, zweifle nicht, wenn du auch aus dem Land der Zweifler kommst, die sehen müssen, um glauben zu können. In den Linien der goldenen Engelshand sind Hieroglyphen eingeschnitten; sie nennen den Meister: Bezalel ben Uri ben Hur l’matej Jehudo. – Und nun, harre des Segens in Frieden!“
Einsam wandere ich über die Dünen dem Lager zu.
*
Der neue Tag lässt uns die Trümmer des altrömischen Brückendammes finden. Dabei stoßen die Taucher auf muschelbewachsene Krüge aus Edelmetall. Wir wissen, dass vor zweitausend Jahren römische Galeeren die Küsten Karthagos brandschatzten. In der Enge von Djerba gerieten sie auf Grund. Um sie flottzumachen und der karthagischen Flotte zu entgehen, warf man die kostbare Ladung über Bord. Zweihundertsechzig Schiffsladungen phönizischer Reichtümer liegen am Meeresgrund vor Djerba. – Fanden wir sie? Beginnt der Segen des Cherubs?
*
Die Arbeiten schreiten fort. Ich nehme einen Tag Urlaub und lasse mich nach der Insel hinüberrudern. Niemand weiß von einem Motorboot.
Wie ein Edelstein liegt in der Mitte von Djerba die berühmte Synagoge von Hara Srira, die die noch berühmtere zweitausend Jahre alte Bibelhandschrift birgt.
Ich lasse mich hinauffahren.
Mit argwöhnischen Blicken empfängt man mich, zeigt mir auch die kostbare Thorarolle, die niemand mit der Hand berühren darf.
Die Juden von Hara Srira sind stolz und unnahbar. Unvermischt wahren sie die Reinheit ihres Blutes seit fast zwanzig Jahrhunderten.
Ich frage nach ihren Vätern, nach den Getreuen, die von Karthago herüberkamen. Sie überhören meine Frage und erzählen mir die Sage, die sich um Tempel und Kloster rankt – die Sage, die sie allen Fremden erzählen.
Die Vorfahren kamen auf die Insel vor undenkbarer Zeit und baten die Bewohner, sich niederlassen zu dürfen, da sie Flüchtlinge seien aus dem Heiligen Lande. Ihre Bitte wurde gewährt.
Die Flüchtlinge nun trugen einen Stein bei sich vom Tempel Salomos. Mit dessen Zauberkraft fanden sie die Stelle der Insel, an der die ergiebigste Süßwasserquelle sprudelte. Um diese Quelle bauten sie ihren Tempel, um den sich dann allmählich die Stadt spannte.
Sie gelangten zu Wohlstand durch den Zauber des heiligen Steines.
Wenn ein neidischer arabischer Fürst sie vertreiben wollte, schützte die Gemeinde der Zauber des heiligen Steines.
Um die Synagoge herum liegen Trümmer der alten Stadt, die aufgegeben werden musste, weil das süße Wasser versiegte. Außer jener Quelle im Tempel der Juden von Hara Srira.
Ich fragte nach der Hand des Cherub.
Die Priester schüttelten die weißen Köpfe.
„Nichts mehr ist übrig aus dem Tempel von Jerusalem als unser Stein“, sagten sie ruhig, „von der goldenen Hand musst du geträumt haben, du fremder Mann!“
Den Alten, dessen Tochterkind Hassan aus dem Wasser gezogen hatte für fünfzig ganze Francs – den Alten suchte ich umsonst.
Die Arbeiten in der Meerenge von Djerba schreiten fort …
Leo am Bruhl – Ein vergessener jüdischer Schriftsteller wird wiederentdeckt