Der Jude und seine Umwelt im jüdischen Sprichwort

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Die vorliegende Sammlung jüdischer Sprichwörter erschien 1903 in der Zeitschrift „Ost und West“, die sich als „Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum“ verstand und im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. „Ostjuden“ vorstellte…

Autor war der auch unter dem Pseudonym Bar Ami (Sohn meines Volkes) schreibende Binjamin Wolf Segel. Segel wurde 1866 in Rohatyn geboren und wuchs in Galizien auf. Er sammelte ostjüdische Folklore, die er, wie auch im vorliegenden Beitrag, in deutschen, polnischen, hebräischen und jiddischen Publikationen veröffentlichte. Immer wieder widmete er sich auch der sog. Judenfrage und der antisemitischen Verfolgung von Juden. Mit „Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet. Eine Erledigung“ (1924) versuchte er erstmals, das antisemitische Werk, das zum Leitfaden alles Verschwörungstheorien werden sollte, zu entkräften. Segel starb 1931.

Dieser Beitrag bildet den Auftakt zu einer Serie von jüdischen Sprichwörtern, die wir in den kommenden Wochen veröffentlichen werden.

 

DER JUDE UND SEINE UMWELT IM JÜDISCHEN SPRICHWORT.

Von Binjamin Segel
Ost und West, Heft 2, Januar 1903

Die nachstehende Skizze bildet einen Abschnitt aus einer grösseren Abhandlung unter dem Titel „Die Weltanschauung des jüdischen Volkes in seinen Sprichwörtern“, welcher die von mir angelegte handschriftliche Sammlung von ca. 7000 jüdischen Sprichwörtern zu Grunde liegt, die ich zum grössten Teil aus dem Volksmunde, vorwiegend in Galizien und der Bukowina, zum Teil auch aus der älteren und neueren Jargonlitteratur geschöpft habe. Unter den vorhandenen Sammlungen jüdischer Sprichwörter, die sämtlich in dem von mir seinerzeit in diesen Blättern ausführlich beschriebenen Katalog der J. Bernsteinschen Sprichwörterbibliothek zu Warschau verzeichnet sind, finden sich nur einige von Bedeutung. Die beste aller bisher vorhandenen Sammlungen, eigentlich die einzige bisher erschienene, systematisch angelegte und wahrhaft inhaltsreiche, mit wertvollen Erklärungen versehene Sammlung jüdischer Sprichwörter ist die von Ignatz Bernstein selber in Spektors „Hausfreund“ (Warschau, 1898 u. 1889) herausgegebene, die insgesamt 2056 Sprichwörter fasst. Herr Ignatz Bernstein besitzt noch eine fernere umfangreiche handschriftliche Sammlung, auf deren Erscheinen alle Freunde jüdischer Volkskunde leider noch immer warten. Ich hatte im Jahre 1897 Gelegenheit, Einsicht in dieselbe zu nehmen.

Doch dürfte meines Erachtens durch alle diese Sammlungen der ganze Sprichwörterschatz des jüdischen Volkes, wie er in Polen, Russland und Rumänien lebt, so weit die jüdische Sprache klingt, noch lange nicht erschöpft sein. Eine ausgedehnte sammlerische Arbeit müsste noch betrieben werden, um das Material zu einem jüdischen Sprichwörterbuch herbeizuschaffen. Ein solches würde aber nicht nur ein merkwürdiges Denkmal jüdischen Geistes und jüdischer Lebensanschauung bilden, sondern auch ein ungemein reiches und wichtiges Material zur Kulturgeschichte der Juden bieten.

In der nachfolgenden Skizze habe ich mich bemüht, durch Zusammenfassung aller in meiner Sammlung befindlichen Sprichwörter über Juden und Nichtjuden ein Bild davon zu entwerfen, wie der Jude über sich und sein Verhältnis zur nichtjüdischen Welt denkt. Ich habe an die Spitze das bekannte Wort von Moses Lazarus gesetzt: „Die Juden sind das klassische Volk der Selbstkritik“. Man schilt es als Ueberhebung, dass wir Juden uns als das „auserwählte Volk“ betrachteten, aber man vergisst dabei, die Kehrseite der Medaille zu beachten, dass kein anderes Volk der Welt für die Männer, die es mit Worten am härtesten gezüchtigt, eine solche unbegrenzte Verehrung hegt, wie wir für unsere Amos, Hosea, Jesajah und Jeremiah, dass kein anderes Volk der Welt die Bücher, die die unerbittlichsten an es gerichteten Strafreden enthalten, zu seinen „heiligen Schriften“ erhoben hat. Dieser Zug der Selbstkasteiung findet sich auch noch in den jüdischen Sprichwörtern, diesen bescheidenen Erzeugnissen des Volksgeistes wieder, manchmal bis zur Ungerechtigkeit gesteigert, namentlich dadurch, dass allgemein menschliche Züge als spezifisch jüdisch hingestellt werden. So ist der durch ein grimmiges Wort getadelte Neid sicherlich unter Juden nicht grösser als anderwärts. Ein weiterer charakteristischer Zug dieser Sprichwörter ist die launige Verspottung der eigenen Leiden, ein Ausfluss der köstlichsten Gabe unseres Stammes, — des guten, gesunden Humors. Aufmerksam möchte ich noch machen auf die ruhige und gerechte Beurtheilung der ausserjüdischen Welt an sich; man vergleiche das doch mit den nichtjüdischen, z. B. deutschen Sprichwörtern, die ein gehäuftes Mass von Unflat und Schmutz über unsere Köpfe ausschütten.

Im Grunde ist es immer ein Missbrauch, Sprichwörter aus der lebendigen Rede herauszureissen und nebeneinander zu ordnen. Sie gleichen dann den welken, vertrockneten Pflänzchen in einem Herbarium, während sie, gleich lebenden Blumen auf einer frischen Wiese, die Rede des schlichten Mannes aus dem Volke schmücken, der in feststehenden Bildern zu sprechen und in überlieferten Formeln zu denken liebt.

Die Juden sind das klassische Volk der Selbstkritik.
Lazarus.

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Der Jude ist das winzigste Geschöpf und ist doch in den Augen aller zu gross.

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Was aus Kol Israel wird — wird auch aus Reb Israel.

„Kol Israel“ = ganz Israel; Sinn: der Einzelne muss das Schicksal der Gesamtheit unverdrossen tragen.

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Besser Jude ohne Bart, als Bart ohne Juden.

Daz Rasieren des Bartes ist bekanntlich sündhaft; Sinn: lieber ein Jude, der das Ritualgesetz nicht strikte einhält, als ein solcher, der den ethischen Hauptinhalt der jüdischen Religion vernachlässigt.

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Was nützt der jüdische Kopf, wenn kein jüdisches Herz dabei ist?

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Besser ein jüdisches Herz mit gojischem Kopf, als ein gojisches (hartes) Herz mit jüdischem Kopf.

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Eine jüdische Seele und einen gojischen Magen kann man nie abschätzen.

Man kann nie ahnen, wessen der schlimmste Jude fähig ist, noch was der unscheinbarste Goj vertragen kann — Wird angewendet, wenn einer, von dem man sich’s nicht versah, etwas Gutes thut. — Im Original steht anstatt „Magen“ — „Kiszka“ =r (poln) Darm.

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Bevor der Jude zu Markte kommt, kauft er alles billig.

Sanguinischer Optimismus des Juden.

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Dem Juden geht kein Unglück aus dem Wege.

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Eine lange Reihe von guten Tagen kann der Jude nicht vertragen.

Da er an glückliche Zeilen nicht gewöhnt ist. Vergl. Jebanoth 47 a.

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Bricht der Jude ein Bein, spricht er: Gelobt sei Gott, dass ich nicht beide Beine gebrochen habe; bricht er beide, spricht er: Gelobt sei Gott, dass ich das Genick nicht gebrochen habe.

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Der Jude fragt: Was kann ich dabei verlieren? — Der Deutsche fragt: Was kann ich dabei gewinnen ?

Dieses Sprichwort ist in den Umgegenden der deutschen Kolonien in Galizien heimisch.

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Wann singt der Jude? wenn er hungrig ist.

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Wenn der Jude hungrig ist, singt er, der Herr pfeift und der Bauer prügelt sein Weib.

Unter „Herr“ versteht man hier, wie auch sonst in den Sprichwörtern, einen polnischen Edelmann.

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Der Jude muss sich immer sagen können: Wenn nicht — dann nicht.

Muss immer auf einen Misserfolg gefasst sein.

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Jeder Jude schleppt sein Bündel Kummer und Not auf dem Rücken.

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Wird über „Kol Jsrael“ eine Plage verhängt, bekommt jeder Einzelne (mindestens) eine Blatter davon.

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Der Jude hat nur Geld zum Verlieren und Zeit nur krank zu sein.

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Was ist des Juden täglich Brod? Kummer und Not.

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Wann hat der Jude Glück? Wenn ihm kein Unglück passirt.

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Jüdischer Reichtum gleicht einem Bund Stroh.

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Jüdischer Reichtum gleicht dem Schnee im März.

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Wann ist dem Juden ein Glück passiert? Wenn er rechtzeitig zu Borchu angelangt ist.

„Borchu“ = „Preiset Gott!“ so beginnt ein nur beim öffentlichen Gottesdienst verrichtetes Gebet, welches eines der Hauptstücke desselben bildet und nicht versäumt werden darf.

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Wann hat der Jude sich ein Vergnügen geleistet? Wenn der Thischah – beav ein kühler Tag war.

Da war das Fasten (am 9. Ab.) minder beschwerlich.

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Jüdischer Gewinnst: ein Los zu Kaddisch.

In manchen Orten wurde unter den Trauernden des Jahres gelost, wer das Kaddischgebet öffentlich verrichten solle.

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Hat der Jude ein Geschwür, fehlt ihm gerade die Zwiebel, hat er eine Zwiebel, fehlt ihm gerade das Geschwür.

Eine gebratene Zwiebel wird an das Geschwür gelegt (volkstümliches Heilmittel).

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Gott behüte uns vor jüdischen Zungen und vor jüdischen Köpfen.

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Gott behüte uns vor gojischen Thaawoth, gojischen Gaawoth und gojischen Händen.

„Thaawoth“ (heb.) = sinnliche Begierden; „Gaawoth“ — Hochmut, — der Plural kommt dem Reim zu Liebe.

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Der Goj hat nicht eher Respekt, die erste Maulschelle kriegt.

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Der böse Blick eines (schlechten) Juden ist gefährlicher, als die Hexerei eines Goj.

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Den Juden ärgert nicht so sehr die eigene Armut, wie des Nächsten Reichtum.

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Mit dem Juden ist nur gut „Kugel“ zu essen.

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Mit dem Juden ist nur gut, „Kinnoth“ zu sagen.

„Kinnoth“ (heb.) — Klagelieder für den 9. Ab.

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Mit dem Juden ist nur gut „Minjan“ zu machen.

„Minjan“ (heb.) — die „Zahl“ von 10 Erwachsenen, die eine gottesdienstliche Gemeinde bilden. — Diese drei Sprichwörter tadeln den Mangel an Eintracht unter den Juden ausserhalb der religiösen Interessen.

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Jeder Jude hat seinen eigenen Schulchan-Aruch.

In den Kreisen der einer extremen individualistischen Richtung huldigenden Chassidim giebt es ein Sprichwort, das lautet: „Es giebt vier Schutchanaruchs (vier Teile nämlich), und der Mensch ist der fünfte“.

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Alle Juden haben denselben Verstand.

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An allen Dingen haben wir Juden zu wenig, nur Verstand glaubt ein Jeder genug zu haben.

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Auf ein jüdisches „sogleich!“ ein polnisches „dalibóg!“ und ein russisches „ssej tschas!“ ist wenig Verlass.

„Dalibóg“ — etwa: so wahr ich lebe; „ssej tschas — auf der Stelle.

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Wenn der Jude pfeift oder der Herr sich hinter dem Ohr kraut, bedeutet’s nichts Gutes.

Nämlich, dass sie kein Geld haben.

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Der Goj ist als Kind klein und als Erwachsener gross — beim Juden ist’s umgekehrt.

Der Jude macht sich in der Jugend grosse Hoffnungen, die das Leben vereitelt — Dies Sprichwort kennzeichnet das Abnormale im jüdischen Leben.

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Der jüdische Golus ist immer grösser als der gojische.

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Der Goj ist an Golus nicht gewöhnt.

Kann keine Leiden ertragen.

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Das Meer ist „ohn’ Grund“ (unergründlich) und die jüdischen Leiden sind ohne Ufer.

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Dem Goj lächelt immer das „Masal“.

„Masal“ (heb.) — Glücksstern.

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Aus dem Juden macht man sich nichts.

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Hat der Jude recht, bekommt er erst recht Schläge. 

Variante: Jude, hast recht? Streck‘ dich auf die Bank hin.

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Juden und Stielkinder bekommen stets das Oberste vom Thee und das Unterste vom Kaffee.

Diese im übrigen äusserst treffende Sentenz scheint mir kein volkstümliches Sprichwort zu sein.

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Der Jude ist immer besser dran als der Meschumed, ersterer kann sich in der äussersten Not immer noch taufen, letzterer nicht mehr.

Scherzhaftes Sprichwort, spielt auf die Seelenfängerei an, die mit Geld verkrachte Existenzen herbeilockt.

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Der Herr denkt an Pferd‘ und Hund’ — der Jud‘ an Weib und Kind.

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Bind’ mich an Händen und Füssen, aber wirf mich unter die Meinigen.

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Unter Juden geht kein Mensch zu Grunde.

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Juden haben böse Zungen, aber gute Herzen.

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Wer nicht Rachmanuth und Buschah hat, an dem ist kein jüdisches Aederchen.

„Rachmanuth“ (heb.) = Barmherzigkeit; „Buschah“ = Schamgefühl. Das Sprichwort stammt noch aus der thalmudischen Zeit. Vgl. Bezah 32 b; Schabbath 151a; Jebamoth 79a; Jeruschalmi Kidduschin IV, 1; Synhedrin VI, 7.

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Der Jude muss alle Handwerke verstehen; zu Pessach muss er Bäcker, zu Schebuoth Gärtner, zu Thischah-bear Soldat, zu Rosch Haschanah Bläser, zu Sukkoth Baumeister, zu Chanukah Giesser sein.

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Wenn nur zwei Juden auf der Welt bleiben, wird der eine zur Schul klopfen, und der andere zur Schul gehen.

„Schul“ = Synagoge; in alter Zeit war es besonders in kleinen Gemeinden üblich, dass der Synagogendiener die Zeit des Gottesdienstes durch Hammerschläge an das Hausthor ankündigte.