Der Zionismus vom Standpunkte der Orthodoxie

Der vorliegende Text stammt von Rabbiner Dr. Moritz Steckelmacher. Geboren 1851 in Biskowitz, Mähren, studierte er in Breslau, Budapest und Pressburg. Von 1880-1920 war er Stadtrabbiner von Mannheim. Er verfasste zahlreiche philosophische Werke und Beiträge („Die formale Logik Kants“, „Das Prinzip der Ethik“) und galt als hervorragender Gelehrter und Prediger. Steckelmacher starb 1920 in Bad Dürkheim.

In einer 1909 in „Ost und West“ erschienenen Rezension zu „Das Prinzip der Ethik“ heißt es: „Werke, wie die von Steckelmacher, die bei aller Frische doch nicht in das Reklamegewand der Aktualität sich hüllen, werden leicht übersehen, namentlich wenn sie von jüdischen Autoren stammen. Doch Bücher leben länger als Menschen, und so wird auch Steckelmacher die Mode des Tages überdauern. Ich weiss nicht, wer einmal gesagt hat: „Wenn ich höre, es sei ein neues Buch erschienen, lese ich ein altes“; das ist ein Gedanke von tiefer Wahrheit. Möge er stets aufmerksame Leser zu der Quelle führen, die Steckelmacher uns erschlossen hat, sie können dort schöpfen, was sie nicht überall finden: Liebe zum Judentum und neues, starkes Vertrauen.“

Der Zionismus vom Standpunkte der Orthodoxie

Von M. Steckelmacher, Mainz

Kann ein streng orthodoxer Jude Zionist sein ?

Vor mehreren Jahren hatte ich Gelegenheit in der Stadt M. einer zionistischen Versammlung beizuwohnen. Das Publikum bestand aus sogenannten „Neuen“ und streng Orthodoxen. Ich war nicht wenig erstaunt, dass der Redner, ein Herr aus Berlin, solche warme Worte für die unglücklichen Glaubensgenossen in Russland hatte. Selbstredend war das Thema „die Ansiedlung der russischen Juden in Palästina.“

Ich muss gestehen, dass jeder Satz auf mich einen sehr grossen Eindruck machte, nur war ich neugierig, was die „Orthodoxen“ darauf erwidern würden. Ein bekannter Rabbiner nahm hierauf das Wort und mit scharfer Waffe zog er gegen den Vorredner aus.

Einige Stunden dauerte die Debatte. Während dieser Zeit dachte ich bei mir, wie trefflich sind doch die Worte unserer Weisen in פרקי אבות פ“ה „כל מחלוקת שהיא לשם שמיים סופה להתקים ושאינה לשם שמים אין סופה להתקים, איזו היא מחלוקת לשם שמים זו מחלוקת הלל ושמי ושאינה לשם שמים זו מחלוקת קרח וכל עדתו.“ Diese משנה fasse ich nun so auf. „כל מחלוקת“ „Jede geteilte Meinung (von dem Worte חלק teilen) שהיא לשם שמיים, die in frommer Absicht geführt wird, סופה להתקים bleibt immer bestehen, bis אליה הנביא kömmt, להשות המחלוקת, diese geteilte Meinung auszugleichen. War denn nicht die מחלוקת zwischen שמי und הלל andauernd? Denn, אלו ואלו דברי אלקים חיים, Beide vertraten das Wort des lebendigen Gottes. Geht es den Zionisten anders ? Sowohl die Freunde als auch die Gegner derselben verfolgen eine Gottessache. Dieser Kampf bleibt עד שיבא אליה. Bei קרח hingegen war es nicht לשם שמים, es war ein Streit, aber keine geteilte Meinung, denn es heisst nicht „בין קרח ובין משה“ sondern einfach מחלוקת קרח וכל עדתו““.

Dass nun auch die grössten צדיקים Zionisten waren, lässt sich nicht nur von תנ“ך, sondern auch von der גמרא beweisen. Was versteht man denn unter dem Worte „Zionist?“ Dieses Wort bedeutet: ein Jude, der Sehnsucht hat, im gelobten Lande zu leben. Der Zionist hat nicht etwa die Absicht, ein jüdisches Königreich zu gründen, wie es viele meinen, sondern den gedrückten, unglücklichen Juden eine bleibende Heimstätte zu verschaffen. Von מקרב הגאולה, die Erlösung schneller herbeizuführen, kann gar keine Rede sein. Denn, „אם ה‘ לא יבנה בית, שוא עמלו בונין בו“. „Wenn der Ewige nicht selbst den Tempel baut, dann bemühen sich vergeblich die Bauleute.“

Sollte aber Jemand einwenden, wie verstehe ich die Geschichte der Söhne Efraims? Es wird uns nämlich in der גמרא folgendes erzählt: „Die Söhne Efraims warteten nicht ab bis die גאולה aus מצרים herantrat, sondern zogen 300 Jahre früher aus Ägypten. Als sie nach גת kamen, wurden sie von den Philistern überfallen und hatten eine Niederlage von 200,000 Mann; lauter tapferer Helden. Das sind — so fährt die גמרא fort — die עצמות יבשות, welche später der Prophet יחזקאל im Tale דורא auf Gottes Wort belebt hat.“ Diese Talmudische Erzählung steht durchaus nicht in Widerspruch mit der Idee der Zionisten. Israel musste in Ägypten seine גלות-Zeit aushalten. Das ועבדום וענו אותם musste erst erfüllt werden, dann kam erst die Verheissung ואחרי כן יצאו ברכוש גדול. Israel, das im strengsten Sinne des Wortes im Sklavenhause war, durfte keine Minute früher aus Egypten ziehen, denn also sagte Gott zu משה:

„יהוצאתי אתכם מתחת סבלת מצריים“ „Ich (Gott) werde Euch herausführen von den Lastarbeiten Ägyptens.“ Verhält es sich aber so mit unseren armen Glaubensgenossen in Russland? Dieselben sind nicht gezwungen, in ihrem Lande zu bleiben. Seitdem der heilige Tempel zerstört wurde, ist Israel zerstreut unter den Völkern und es steht ihnen frei מן התורה in jedem gastfreundlichen Erdstrich sich niederzulassen. Dass nun das Bestreben der Zionisten dahin geht, gerade dem Lande unserer Väter das Vorrecht zu geben, hat seine Bedeutung.

Mit der Erklärung hierüber berühre ich zuerst die Gegenwart. Es ist allgemein bekannt, dass seit Jahren durch die gesetzliche Sonntagsruhe unsere heil. Religion viel zu leiden hat. Söhne frommer Eltern, die in früherer Zeit niemals שבת ויום טוב entweiht hätten, tun dies jetzt und zwar mit der blassen Entschuldigung : es gebe jetzt sehr wenige Geschäfte, die am Sabbat geschlossen sind 1), Würde man nun einen Teil der russischen Glaubensgenossen in Deutschland, Österreich usw. ansiedeln lassen, wie stünde es dann mit der heil. Religion? Da könnte man mit dem Propheten ישעיה‘ sagen: „בנים גדלתי ורוממתי והם פשעו“ „Kinder habe ich gross gezogen und aufwachsen lassen, aber sie sind mir abtrünnig geworden.“ Nur das Land unserer Väter ist geeignet, fromme Juden in ihrer Frömmigkeit zu erhalten. Ich möchte behaupten, durch eine Einwanderung von seiten unserer Glaubensgenossen nach Palästina wird das Studium unserer heil. Lehre besser gepflegt werden. Sagen doch unsere Weisen im Talmud: „אוירא דארץ ישראל מחכים“ „Schon die Luft von ארץ ישראל macht weise.“ Unsere Patriarchen liebten das Land Kenaan. Gab doch der Vater Jakob seinem Sohne Josef den Auftrag: „אל נא תקברני במצרים“ „Begrabe mich nicht in Ägypten, sondern in der Höhle Machpela.“ Wenn es mir möglich ist, so lehren unsere Weisen, wähle das heilige Land zu deinem beständigen Wohnsitz. Ein Familienvater kann seine Hausleute zwingen mit ihm nach ארץ ישראל zu übersiedeln, wie es in der משנה (Ende כתובת) heisst: „הכל מעלין לארץ ישראל ואין הכל מוציאין“ Die גמרא zur Stelle fügt hinzu: „תנו רבנן לעולם ידור אדם בארץ ישראל ואפילו בעיר שרובה נכרים ואל ידור בחוצה לארץ ואפילו בעיר שרובה ישראל שכל הדר בארץ ישראל דומה כמי שיש לו אלוה וכל הדר בחוצה לארץ דומה כמי שאין לו אלוה“ „Immer wohne der Mensch in Palästina, selbst in einer Stadt, woselbst die meisten Einwohner Nichtjuden sind, wohne aber nicht ausserhalb Palästinas, selbst in einer Stadt, woselbst die meisten Einwohner Juden sind. Denn Jeder, welcher in ארץ ישראל wohnt, gleicht dem Menschen, welcher von der Gottesidee vollständig durchdrungen ist, wer aber ausserhalb ארץ ישראל wohnt, gleicht demjenigen, welcher von dieser Idee nicht so beseelt ist.“

Nach allem, was wir bisher gesagt haben, ist es ausser Zweifel, dass das Ansiedeln unserer Glaubensgenossen von Seiten der Religion, in ארץ ישראל vorzuziehen ist. Das Schwierigste der ganzen Sache ist nur folgendes: „Woher das viele Geld nehmen, um das schöne und erhabene Unternehmen durchzuführen ?“

Ein Spruch unserer Weisen in (פרק ב‘ משנה ט“ז) פרקי אבות wird uns diese schwierige Frage teilweise beantworten. Dort heisst es nämlich: „לא עליך המלאכה לגמור ולא אתה בן חורין להבטל ממנה“ „Es liegt dir nicht ob, die Arbeit zu vollenden; doch steht es dir nicht frei, dich davon frei zu machen.“

Es ist eine bekannte Tatsache, dass die reichen Juden in ßussland sich nicht entschliessen werden, ihre alte Heimat zu verlassen, auch ein Teil der armen Gegner der Zionisten, bleiben in ihrem jetzigen Lande. Es ist daher nur für den Rest, der willig ist, auszuwandern, zu sorgen. Selbstredend kann und wird es mit der göttlichen Hilfe geschehen. Dann wird sich das Wort des Propheten ישעיה erfüllen: „כי לא בחפזון תצאי ובמנוסה לא תלכון לפניכם ה‘ ומאספכם אלהי ישראל“ „Nicht mit Hast werdet ihr fortziehen, und nicht in Flucht davongehen; denn vor euch her geht der Ewige, und euren Zug beschliesst der Herr Israels.“

Möge sich dieser Ausspruch bald erfüllen!

Anmerkung:
1) Freilich, da trifft in der Regel die Schuld den Frommen. Diese sollten nur religiöse junge Leute engagieren, was sie leider nicht tun. Nichtfromme bekommen überall ein Unterkommen.

in: Lazar Schön (Hrsg.): Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus. Erster Jahrgang, Würzburg 1905, S. 303-305.