Von Alexander Adler, Berlin
in: Parteien und Strömungen im Zionismus in Selbstdarstellungen
(Schriften zur Diskussion des Zionismus No. 5), Herausgegeben von der J.A. „Barissia“ Prag, Prag 1931, S. 23-27.
Im Jahre 1902 wurde der Misrachi von einer Anzahl gesetzestreuer Zionisten gegründet, um die Erfüllung des Basler Programms in Uebereinstimmung mit den Vorschriften der Thora sicherzustellen. Die Kulturdebatten auf dem 5. Zionistenkongress und die Einbeziehung kultureller Arbeiten in den Aufgabenkreis der zionistischen Organisation hatten die Notwendigkeit des Zusammenschlusses der traditionell eingestellten Zionisten aufgezeigt, um ein Gegengewicht solchen Erziehungsmethoden gegenüber zu schaffen, die von den überlieferungstreuen Zionisten als eine Gefahr für die Zukunft des palästinensischen Aufbaus erkannt wurden. Das Ziel der Misrachi-Organisation war die Erfassung der gesamten traditionellen Judenheit für die Mitarbeit in der zionistischen Bewegung. In den ersten Statuten war als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zum Misrachi die volle Anerkennung des Baseler Programms und die Mitgliedschaft in der zionistischen Organisation festgelegt.
Durch den Zusammenschluss der traditionell gerichteten Zionisten, vergrösserte sich die Propagandamöglichkeit des Zionismus in der Orthodoxie. Schon auf dem ersten Kongress nach der Gründung des Misrachi konnte dieser mit einer stattlichen Anzahl von Anhängern in die Erscheinung treten, so dass ihm Föderationsrechte zuerkannt wurden. Der Misrachi stellte sich die Aufgabe, durch ein Erziehungswerk in Palästina sowie auch in der Golah national-religiöses Judentum zu verbreiten. In der von dem Führer und Gründer des Misrachi, Raw Reines, in Lida unterhaltenen Jeschiwah sollte eine Rabbinergeneration herangezogen werden, die für die Verbreitung des auf der Tradition fassenden Zionismus eintreten sollte. In Palästina wurde die Tachkemoni-Mittelschule in Jaffa gegründet, die moderne Bildung im Geiste jüdischer Ueberlieferung ihren Schülern vermittelt. Auf den Kongressen setzte sich der Misrachi mit Erfolg dafür ein, dass der Zionismus nichts unternehme, was mit dem jüdischen Gesetz nicht in Uebereinstimmung stand.
Nach dem Weltkriege war der Misrachi die erste zionistische Körperschaft, die ihr Hauptbüro nach Erez-Israel verlegte. Die durch Balfour-Deklaration und englisches Palästina-Mandat von Grund auf veränderten Verhältnisse veranlassten den Misrachi, seine Arbeit auf alle Gebiete palästinensischer Tätigkeit auszudehnen. Er ging an die Aufrichtung eines Schulnetzes im ganzen Lande, das er zum Teil selbst finanzierte, zum Teil, von der zionistischen Exekutive finanziert, unter seiner Aufsicht und Leitung führt. Die Arbeit des Misrachi auf diesem Gebiet findet im Lande allgemeine Anerkennung, die auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass in einer ganzen Reihe von Fällen die Elternschaften von allgemeinizionistischen Schulen den Uebergang derselben zur Aufsicht des Misrachi von der zionistischen Exekutive verlangten und durchsetzten. Heute befinden sich etwa 70 Schulen unter der Leitung des misrachistischen Waad Hamefakeach mit einer Schülerzahl von über 7000, die etwa 40 o/o der gesamten Schülerschaft der zionistischen Schulen ausmacht. Auch ein eigenes Lehrer-, sowie ein Lehrerinnenseminar wird vom Misrachi unterhalten. Die Tach-kemoni-Schüle in Tel-Aviv ist mit ca. 1.100 Schülern die grösste Schule im Lande. Bei den vom Erziehungsdepartement der Regierung abgehaltenen Examen steht die Misrachi-Realschule bezüglich ihrer Resultate an erster Stelle.
Die Einrichtung von Rabbinaten in den Kolonien und K’wuzoth untersteht dem Merkas des Misrachi in Jerusalem. Auch die Anstellung von Schochtim in den neuen Siedlungen gehört in sein Tätigkeitsbereich. Es ist ein überaus erfreuliches Zeichen palästinensischer Entwicklung, dass auch solche Siedlungspunkte, die bei ihrer Gründung auf religionsgesetzliche Institutionen vezichten zu können glauben, im Laufe ihrer inneren Konsolidierung die Notwendigkeit solcher Einrichtungen verstehen lernen und Rabbiner und Schochtim bei sich aufnehmen. Synagogen und Lehrhäuser, wenn auch häufig in dürftigster und bescheidenster äusserer Gewandung, finden sich heute doch in einer ganzen Anzahl palästinensischer Arbeitersiedlungen als ein Zeichen der Beeinflussung des palästinensischen Lebens durch die ständige Mitarbeit des Misrachi.
Auch an kolonisatorischer Aufbauarbeit hat der Misrachi sich aktiv beteiligt. Er förderte und unterstützte die geschlossene Ansiedlung religiöser Einwanderer. Der Versuch, in Kafar Chittin eine Kolonie von im Wesentlichen älteren Familien, die ohne landwirtschaftliche Erfahrung ins Land gekommen waren, als Bauern anzusiedeln, ist nicht geglückt. Mehr Erfolg zeitigt die Ansiedlung chaluzischer Elemente, die durch die Misrachi-Arbeiterschaft vorgenommen und propagiert wird. In seiner Arbeiterschaft ist dem Misrachi ein starker Bundesgenosse zur Durchdringung des Palästina-Aufbaus mit dem Geist des jüdischen Ueberlieferung erwachsen. Diese Arbeiterschaft mit ihrer Devise „Thora w’awoda“, die eine Synthese überlieferter jüdischer geistiger und religiöser Einstellung mit der Durchführung moderner, sozialer Forderungen sein soll, stellt heute bereits eine starke Kraft im Lande dar. Mehrere tausend misrachistische Arbeiter sind auf allen Gebieten der Arbeit im Lande tätig und zeigen durch ihr Wirken, dass allen Anforderungen des täglichen aufbauenden Lebens genüge getan werden kann unter gleichzeitiger Bewahrung und strengster Erfüllung des ewig jung gebliebenen Gesetzes vom Sinai. In den K’wuzoth Schech Abrek bei Haifa und Rodges bei Petach Tikwah hat der Poel Hamisrachi die besten Kräfte seiner Landarbeiterschaft am Werke. In der Bauarbeiter-Kooperative „Olim-Bonim“ ist eine grössere Anzahl misrachistischer Arbeiter gewerkschaftlich zu gemeinsamer Arbeit organisiert. Im engen Zusammenhang mit der misrachistischen Arbeiterschaft steht die Jugendbewegung des Misrachi in den Ländern der Golah. Die Misrachijugend empfindet sich als die Nachwuchsbewegung des Hapoel-Hamisrachi, was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass ein gemeinsamer Weltverband, die „Brith Olamith schel Zeire – Hachaluz w’Hapoel Hamisrachi“, besteht, der der Misrachi-Weltorganisation korporativ angegliedert ist.
Im Jahre 1925 wurde auf Initiative des Misrachi eine Bank gegründet, die „Misrachi-Bank“, deren Haupttätigkeitsfeld das bankmässige Arbeiten mit mittelständischen Elementen ist. Mit dieser Gründung wurde eine fühlbare Lücke im palästinensischen Wirtschaftsleben ausgefüllt, denn gerade für Kleinindustrie und Handwerk, für den mittleren und kleinen Händler, gab es kein Finanzinstitut, das helfend und fördernd eingreifen konnte. Die Bank, die z. Zt. mit einem eingezahlten Aktienkapital von etwa 20.000 Pfd. St., das ausschliesslich in misrachistischen Kreisen aufgebracht wurde, arbeitet, entwickelt sich durchaus zufriedenstellend und erfüllt die an sie gestellten Forderungen.
Trotz der im Obigen geschilderten positiven Erfolge der misrachistischen Tätigkeit kann der Zustand in der Organisation nicht als befriedigend bezeichnet werden. Gemessen an den Möglichkeiten, die eine traditionell gerichtete zionistische Partei hat, sind die Erfolge die erzielt werden konnten, ausserordentlich gering. Es ist nicht gelungen, einen Grossteil der Orthodoxie der zionistischen Organisation anzugliedern, es ist besonders nicht gelungen, in den Ländern mit jüdischen Massensiedlungen, in denen Hunderttausende von traditionellen Juden leben, alle auf das innigste verknüpft mit der Liebe zu Zion, ein aktives, auf den Palästina-Aufbau konzentriertes, Misrachimilieu zu schaffen. Die Leitung des Misrachi befindet sich seit Jahren in den gleichen Händen, deren geistiger Einfluss auf die zionistische Bewegung, auf Erez-Israel und auf die Orthodoxie der Golah ausserordentlich gering ist. Der allgemein-zionistischen Politik wird im Rahmen der Misrachi-Arbeit ein viel zu grosser Raum eingeräumt, wobei dem speziellen Aufgabengebiet dieser kulturell-religiösen Partei zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Wirtschaftliche und finanzielle Tätigkeit wurde lange Zeit hindurch von Männern ausgeübt, deren eigentliche Fähigkeiten auf ganz anderem Gebiet liegt. Diese Tätigkeit absorbierte die Arbeitskraft der Führer derart, dass für Entfaltung geistiger Energien, für Entwicklung kulturellen Einflusses in Erez-Israel und ausserhalb des Landes kaum noch eine Möglichkeit vorhanden war. Gegen diese Entwicklung kämpft seit Jahren eine von der deutschen Landsmannschaft geführte Minorität, die wirtschaftliche Konsolidierung und eine Konzentration auf die dem Misrachi besonders obliegenden Aufgabenkreise verlangt. Der Misrachi als Partei ist absolut einig in Bezug .auf die religiösen Forderungen, die an die zionistische Bewegung als Sachwalterin des Palästina-Aufbaus zu stellen sind. Eine Einigkeit besteht aber nicht, und kann auch nicht bestehen, in Bezug auf die politischen Methoden, mit denen der Palästina-Aufbau durchgeführt werden soll. Trotzdem ist die Fraktion auf Kongressen und im A. C. dazu übergegangen, einen Fraktionszwang auch in solchen Fragen von ihren Mitgliedern zu verlangen, die mit der misrachistischen Forderung an sich nichts zu tun haben. Misrachist wird man, weil man religiöse, geistige, kulturelle Forderung bestimmter Art mit Gesinnungsgenossen zusammen durchsetzen will, nicht wegen Forderung allgemein-zionistisch-politischen Charakters. Der Fraktioniszwang in solchen Fragen ist ein verwerfliches Mittel einer Majorität, er führt zu einer Vergewaltigung, die die Minorität auf die Dauer, und besonders nicht in so wichtigen Fragen, wie sie heute auf der Tagesordnung stehen, nicht ertragen kann.
In der „Oppositionsfront gegen die heutige Leitung des Misrachi sind graduelle Unterschiede vorhanden. Auch die palästinensische Landsmannschaft und der Hapoel Hamisrachi stehen prinzipiell auf dem Standpunkt der oppositionellen Gruppe. In Bezug auf die Konsequenzen, die zu ziehen sein würden, wenn auch bei der kurz vor dem XVII. Kongress stattfindenden Weltkonferenz des Misrachi die Forderungen der Opposition nicht durchgesetzt werden sollten, sind noch Meinungsverschiedenheiten vorhanden. Klar ist aber heute schon, dass wesentliche Forderungen, die zu einer Verbesserung in organisatorischer und wirtschaftlicher Beziehung führen können, schon in so weiten Kreisen anerkannt werden, dass an eine Kursänderung des Misrachi gedacht werden kann. Die Forderungen, die der deutsche Misrachi auf seiner Delegierten-Tagung anfangs Mai aufgestellt hat, sind die folgenden: Anerkennung des Primats kulturell-religiöser Forderungen für den Misrachi vor denjenigen politischer Natur.
Anerkennung der Erstrangigkeit der direkt auf Erez-Israel eingestellten Arbeiten für die Landsmannschaften im Gegensatz zur Landes- und Kehillapolitik.
Anerkennung der Bestrebungen der Misrachi-Arbeiterschaft als wesentlichen Faktor zur Durchdringung des Palästina-Aufbaus mit dem Geiste der Torah.
Verzicht auf den Fraktionszwang in religiöse Fragen nicht direkt betreffenden Angelegenheiten.
Sanierung der Finanzen des Misrachi unter persönlicher Verpflichtung der Führer der Landsmannschaften, die für Schuldentilgung und Fortführung der Arbeiten benötigten Summen aufzubringen. Die Beschickung von misrachistischen Konferenzen ist abhängig nicht nur von der Leistung des Organisationsbeitrages, sondern auch von den sonstigen, im Budget für die einzelnen Länder festgesetzten finanziellen Leistungen. Wahl eines aus neuen Männern bestehenden Merkas, der nach ihrer Eignung, die verschiedenen Ressorts zu verwalten, zusammengesetzt sein muss.
Von einer solchen Reorganisation des Misrachi verspricht man sich eine starke Belebung der Propaganda-Möglichkeiten für den Zionismus in orthodoxen Kreisen. Heute mehr als je ist eine Erweiterung der zionistischen Basis von seiten des Traditionsjudentums her möglich und erforderlich. Nicht eine jüdische Partei kann Erez-Israel zu dem machen, was uns vorschwebt, sondern nur das gesamte jüdische Volk. Die Massen des jüdischen Volkes durch eine schlagkräftige und in sich gefestigte Misrachipartei zu erfassen, ist die Aufgabe dieser ernsten Stunde.