Von Vladimir Jabotinsky
In einem der vorhergehenden Abschnitte wies ich auf den Unterschied zwischen dem „Antisemitismus der Menschen“ und dem „Antisemitismus der Sachen“ hin. Es wird nutzbringend sein, noch einmal hier zu unterstreichen, daß dieser Unterschied riesengroß und unbeseitigbar ist. Es ist vonnöten, das deshalb hier zu betonen, weil der Gedanke des Zehnjahrplanes viele Juden, eben von diesem Blickpunkte aus, in Schrecken versetzte: ob die überzeugten Antisemiten diese Idee nicht aufgreifen werden? Andererseits, wenn ich nicht irre, fanden sich manche im Lager des grundsätzlichen Antisemitismus, denen dieselbe Kombination in den Sinn kam: ob man nicht auf dieser Grundlage „die Juden um ihre Bürgerrechte bringen, sie zwangsweise evakuieren könnte“ usw.
Unnütze Befürchtungen, vergebliche Hoffnungen: „diese Kombination“ ist, ohne auch nur ihren ethischen Wert zu berühren, objektiv beurteilt unausführbar.
„Der Antisemitismus der Tatsachen“, das heißt jene Seite der objektiven sozialen Evolution, die so schmerzlich die normale Situation der jüdischen Diaspora verschärft; sie ist eine völlig andere Angelegenheit. In der Bewegung, der der Verfasser angehört, hat sich der Ausdruck „günstiger Sturm“ eingebürgert: das bedeutet, wenn auch diese ungünstige Evolution schwer und schmerzlich alle Gebiete des jüdischen Seins trifft, sie überzeugt doch immer mehr und immer tiefer alle wohlwollenden und konstruktiven Elemente der uns umgebenden Völker, daß die einzige Antwort auf unsere Notlage „Palästina“ ist. Dieser noch so furchterregende „Sturm“ treibt das jüdische Schiff in die Richtung, in welcher wir es selber lenken möchten. — Aber der „Antisemitismus der Menschen“ oder der bewußte Judenhaß, der Wille, den Juden zu erniedrigen, ihm Qualen zu verursachen, das ist sozusagen „ein Taifun“: eine Lufterschütterung, die richtungslos verläuft. Der Taifun kann beim besten Willen in keinen günstigen Sturm umgewandelt werden: der Taifun wirbelt im Kreise herum und vermag lediglich das Schiff zu ersäufen.
Die Erscheinung des bewußten Antisemitismus setzt sich offenbar nicht nur aus negativen Elementen zusammen (der Wunsch, sich von den Juden zu befreien): eine größere und vielleicht sogar die Hauptrolle dabei spielt irgend ein positives Moment emotionellen Hasses, das offensichtliche Befriedigung fordert. Das alles bezieht sich auf eine spezielle, perversive Mentalität, die wir Menschen von psychisch sehr einfacher Veranlagung lediglich auf Grund von Mutmaßungen oder Analogien beurteilen können. Zum Beispiel: Herr A mag nicht den Schopenhauer, „er haßt ihn positiv und aktiv“ und deshalb vertieft er sich allsonntäglich in die Unermeßlichkeiten von „Wille und Vorstellung“ auf der Suche nach Anhaltspunkten, und alsdann kommt er zu Herrn B, um seine Empörung ihm mitzuteilen: „Nein, das mußt du anhören.“ Daher die Schlußfolgerung: wenn man dem Herrn A den Antrag stellen würde, das verhaßte Buch einem Antiquariat zu verkaufen und daran zu vergessen, ein solches Projekt würde keinesfalls seine Begeisterung hervorrufen.
Ebenso gleichgültig verhalten sich bewußte, überzeugte Antisemiten zur Verwirklichung des Zionismus; es ist eine allgemein bekannte, längst beobachtete Tatsache; es ist nicht bloß unmöglich, sie für positive, schöpferische Aufgaben des Zionismus zu interessieren, sondern sogar die negative Seite der Bewegung, das heißt, das faktische Abströmen der Juden aus der Diaspora ist für sie von geringem Interesse. Der echte, emotionelle Antisemit ruft aus: „Juden nach Palästina!“ Wenn er aber vernimmt, Juden werden in Palästina totgeschlagen, so freut er sich instinktiv, obschon er weiß, Haß eignet sich offenbar zu keinerlei Nutzbarmachung für konstruktive Ziele. Das unterstreicht schon die Bibel: gerade Pharao widersetzte sich hartnäckig dem Auszuge der Juden aus Aegypten. Umsomehr: der aktive Antisemitismus vermag lediglich den planmäßigen Abbau der Diaspora zu stören. Falls dieses Büchlein in die Hände der örtlichen Bekenner des „Nationalsozialismus“ geraten sollte, dann rate ich ihnen aufrichtig, das deutsche Beispiel nicht zu überschätzen: es ist trügerisch. Es überraschte die Menschen unversehens. Die Menschheit verhielt sich dazu, wie angesichts eines Anfalles von Massenwahnsinn, das heißt wie angesichts von, etwas Ausnahmsweisen in der Art eines Erdbebens. Die Engländer wurden erschüttert und öffneten die Tore Palästinas; die englischen und amerikanischen Juden wurden zu Tränen gerührt und organisierten eine gigantische
Geldsammlung: die Zionisten verloren den Kopf (und das Gefühl der eigenen Würde) und schlössen mit der deutschen Regierung einen Transfervertrag. Ohne Rücksicht darauf, ob dies gut oder schlecht war, dies alles war nur deshalb möglich, weil das Geschehnis ein ausnahmsweises war. So geschieht es, wenn ein Städtchen abbrennt; und die Nachbarn werden zutiefst erschüttert, sogar der Steuer-Inspektor wird erweicht. Aber stellt Euch vor, daß danach ein Städtchen nach dem anderen systematisch durch Brandstiftungen abbrennen würde, auf Grund dieser spekulativen Berechnung: dann wird alles einen anderen Verlauf nehmen. Kein Mensch wird erschüttert und keiner gerührt werden. Niemand wird damit einverstanden sein, daß Brandlegungen durch Prämien abgegolten werden. Im Gegenteil: die Empörung und die Befürchtung über die Katastrophe werden das Mitgefühl trüben und statt der offenen Türen werden vor den Verbannten des neuen Dritten Reiches, wie vor Flüchtlingen aus einer zernierten Stadt, eiserne Ketten sichtbar sein. Als erste werden wir — Zionisten mit dem Ziele des Judenstaates — Anhänger der „Evakuierung der Diaspora“, mit zusammengebissenen Zähnen darüber froh sein: eben im Interesse des Zionismus.
Das Wort „Evakuierung“ rief in jüdischen Kreisen eine gewisse Befürchtung hervor, völlig zu Unrecht. Zum erstenmale gebraucht dieses Wort im Zusammenhange mit der jüdischen Emigration noch Theodor Herzl: im „Judenstaat“ (1896) spricht er oft über „Positionen, die durch Juden werden evakuiert werden“. Ueberhaupt „evakuieren“, von vacuum, bedeutet entleeren, demnach kann man genau genommen lediglich einen Ort evakuieren — Menschen können ein Haus evakuieren, eine Position, ein Land: die „Evakuierung von Menschen“ ist eigentlich nicht auszudenken, obschon wir alle infolge sprachlicher Fahrlässigkeit uns so auszudrücken pflegen. Und dabei wird dieser Terminus stets im normalen Gebrauch in gutem Sinne angewendet. „Im Kanton Vauves in der Schweiz wurde ein Dorf unter dem Berge evakuiert, weil es von einer Lawine bedroht war“, „irgendwo in Wales evakuierte man ein Schulgebäude aus Angst vor einer Epidemie“. Sogar folgende Wendung weist eine günstige Bedeutung auf: „Die Armee entschloß sich, die Anhöhe ABC zu evakuieren, weil sie in feindlicher Schießweite ohne Deckung sich be findet.“ All das sind vernünftige, wohlwollende, brüderliche Wirksamkeiten. Eine Bewegung, welche die ganze Diaspora als eine solche „Position“, über der eine Lawine hängt, betrachtet, in jedem Winkel lauert eine unheilbare Seuche, von allen Seiten wird man beschossen und es gibt kein Versteck, drängt in völlig logischer Weise die Bevölkerung, diese Falle zu evakuieren: sie freiwillig zu evakuieren, im Sinne nationaler Selbstbestimmung. Wie einst in biblischer Zeit unsere Ahnen Aegypten evakuierten: nicht deshalb, weil man sie von dort verjagte (niemand vertrieb sie), sondern infolge des souveränen Volksentschlusses. — So und nur so versteht der Autor das Wort Evakuierung.
Aber selbstredend handelt es sich um keine Terminologie; die Wendung „wir Juden, wir wollen die Diaspora evakuieren“ wird im Umlauf bleiben. Der entscheidende Vorzug des Terminus beruht darauf, daß er mit der Idee der Planmäßigkeit verknüpft ist. Das ist keine Panik, keine Flucht, das ist so wie ein Marschzug, wo beizeiten vorbedacht wurde: die erste Kolonne marschiert, die zweite ……
Eben dieser Inbegriff der Planerwägung, des konstruktiven Systems, von welchem noch Herzl geträumt hatte, als er seine Utopie „Altneuland“ schuf, nach welcher jeder Zionist sich so hoffnungslos sehnte, — gegenüber dem Wirrwarr, der Gedankenlosigkeit, dem Durcheinander, sowohl in der englischen, wie altzionistischen Manier, an den Zionismus heranzugehen — das ist der Weg zum Judenstaat.
in: Vladimir Jabotinsky: Der Judenstaat, Wien 1938, S. 133-136.