Von Vladimir Jabotinsky
Die Grundursache der jüdischen Tragödie, beruht nicht darauf, daß sich andere Völker zu uns schlecht verhalten und hierauf beruht nicht der Urgrund des Zionismus. Das Wesentliche an der Sache beruht darauf, daß das jüdische Volk (bewußt, unterbewußt und unbewußt) immer seine soziale Selbständigkeit anstrebte und deshalb vermöchte es sich nie dem fremden Gesellschaftsgefüge anzupassen; es wird nicht ruhen, bis es nicht eine eigene Staatlichkeit geschaffen haben wird. Ich werde versuchen, das zu erklären, insoweit ich es selber verstehe. Ich bin kein Marxist, aber ich bin bereit, ein Axiom des Marxismus anzunehmen: Formen und Tendenzen des allgemeinen Daseins sind vor allem von der Beschaffenheit der Produktionswerkzeuge abhängig. Ich behaupte jedoch, die Psychologie des Menschen sei das — alle anderen Werkzeuge hervorbringende, hauptsächliche Instrument der Produktion. Bevor das erste Rad entstand, oder bevor der erste Hammer erzeugt wurde, stellte der Mensch Betrachtungen an, er dachte nach, er ersann, er traf Vorkehrungen, und all dies vermöge seines psychischen Apparates. Selbst wenn all dies in primitiven Zeiten sich von selbst außerhalb der bewußten Willenssphäre abspielte, falls wir sogar die amerikanische Theorie des „Behaviourismus“ akzeptieren, gemäß welchem nicht nur die Erzeugung des Rades, sondern auch die Poesie auf einem mechanischen Reflex der Drüsen und der Nerven zurückzuführen ist — auch dainn ist das Hauptgerät jedweder Lebenswirksamkeit des Menschen weiterhin jener Mechanismus von Nerven und Drüsen: daß ich ihn jedoch, wie althergebracht, lieber Psyche nenne, das ändert nicht das Wesen der Sache.
Der Mechanismus der „Psyche“ ist bei verschiedenen Völkern unterschiedlich konstruiert. Weshalb dem so ist, ist wieder für dais Wesentliche irrelevant. Vielleicht hängt die „Psyche“ von der „Rasse“ ab, vielleicht von der Geschichte eines jeden Volkes; im gegebenen Augenblick ist das für uns belanglos — wichtig ist für uns nur der Umstand, daß verschiedene ethnische Gemeinschaften eine unterschiedliche Psyche besitzen. Ich beharre nicht darauf, daß die Psyche in allen Gemeinschaften verschieden ist; es könnte sich erweisen, daß die Phönizier und die Asteken aus irgend welchen Ursachen eine ähnliche Psyche aufweisen. Ich betrachte es jedoch als eine zweifelsfreie Tatsache, daß es in der Welt ethnische Gemeinschaften gibt, die mit völlig eigenartigem psychischen Apparat bedacht sind; man sagt von ihnen, daß sie in ihrer Weise denken, oder daß sie auf ihre Art auffassen, oder daß sie in ihrer Weise reagieren.
Ich betrachte es ferner als ein zweifelloses Faktum, daß die jüdische Gemeinschaft in dieser Hinsicht eine der eigenartigsten ist.
Aus dem Umstände, daß das Hauptinstrument der Lebenswirksamkeit die Psyche ist und daß die Psyche bei diversen Völkern verschiedene Merkmale aufweist, geht die einfache Schlußfolgerung hervor: jede ethnische Gemeinschaft fühlt sich am behaglichsten in einer solchen Athmosphäre und in einem solchen Gemeinschaftsorganismus, wo jedes wesentliche Detail durch eben diese Gemeinschaft selber — gemäß ihrem eigenen inneren „Ebenbilde“ geschaffen wurde, oder zumindest eine Formung nach ihrem Geschmack erfuhr. Ideale Bedingungen für diesen Zielpunkt sind: eigener Boden, eine verwandte Bevölkerung, eine autonome Staatlichkeit. Dann schafft eben die Nation diejenige Athmosphäre und jenen Sozialorganismus, in welchem ihr zu leben (und selbst zu leiden) am bequemsten erscheint. Dabei muß noch eines unterstrichen werden: Das wichtigste in einer solchen Nationalathmosphäre ist nicht die Sprache und das Schrifttum; das wichtigste Objekt, in welchem die nationalen Geistes- und Temperament – Nuancen, die Psyche der Nation, zum Ausdruck gelangen — ist: das Staatsgefüge und insbesondere die Wirtschaft. Ich verfüge hier über keinen Raum zur Anführung von Beispielen, aber es ist eine jedem aufmerksamen Lebensbeobachter bekannte Tatsache: selbst wenn die Institutionen verschiedener Staaten als gleichmäßig erscheinen, so sind doch die. Gewohnheiten und Methoden der staatlichen — wirtschaftlichen, und sonstigen Lebenstätigkeit oftmals so unterschiedlich, daß sie dem Ausländer (selbst wenn er entzückt ist) als unbequem erscheinen.
Deshalb eben, falls eine solche Gemeinschaft plötzlich ihres Territoriums beraubt würde (wie und warum ist belanglos), müßte, eine der zwei Eventualitäten bei ihr eintreten: wenn sie nicht genügend isoliert ist oder keine erforderliche Ausdauer besitzt, wird sie allmählich zerfallen und sich, hauptsächlich durch Mischehen, im fremden Milieu auflösen.
Wenn jedoch ihr Absonderungswille in auffallender Weise ausgeprägt und ihre Kraft der Ausdauer übernormal ist, dann beginnt sie im Gegenteil Mittel zur Selbstisolierung zu erzeugen, um sich — sei es eine enge, sei es eine rein illusorische Sphäre des nationalen Ligendaseins zu schaffen, wo sie für eine Weile in „eigener“ Athmosphäre leben kann.
Als eine solche Gemeinschaft erwies sich das Judentum in der Diaspora. Weshalb — ist wiederum für uns gleichgültig: vielleicht kraft einer besonderen Zusammensetzung seines „Blutes“, vielleicht kraft eines besonderen Zaubers der Sinai-Tradition. Es ist jedoch eine Tatsache, daß die gesamte Geschichte unserer Diaspora von demselben roten Faden durchzogen ist: „Sich abgrenzen“. — Weil der natürliche Isolator — das Eigenterritorium — unter den Füßen hinweggerissen wurde und die Rückgewinnung augenblicklich noch unmöglich ist oder als Unmöglichkeit erscheint, muß man ihn durch künstliche Isolatoren ersetzen. Der stärkste unter ihnen ist offensichtlich die rituelle Seite der Religion; gerade in der Diaspora entfaltete und vermehrte das Judentum jenes allumfassende Netz von Zeremonialvorschriften, welche die Gemeinschaftsmitglieder Schritt für Schritt vor allzu intimer Berührung mit dem sie umgebenden Milieu behüten sollten. Der zweite künstliche Isolator war das Ghetto, ein abgesonderter, jüdischer Stadtteil. Es tut mir sehr leid, daß ich hier den naiven Leser, der immer glaubte, daß uns irgend ein Papst oder Kurfürst gewaltsam ins Ghetto einschloß — enttäuschen muß. Freilich sperrte er uns ein, aber — post factum, nach vielen Jahrhunderten. Das Ghetto schufen wir selber, freiwillig, aus demselben Grunde, aus welchem die Europäer in Schanghai sich in einem abgesonderten Stadtteil ansiedeln, um wenigstens hier, in engster Sphäre, nach ihrer Weise zu leben.
Als der dritte künstliche Isolator erwies sich die Oekonomik. Wir alle hörten davon, daß die Absonderung und die Einseitigkeit der jüdischen Oekonomik Folgen des Druckes waren: die Völker, unter denen wir wohnten, ließen uns weder zum Ackerbau noch zu den Zünften, noch zum Staatsdienst zu und aus diesen Gründen widmeten wir uns alle schließlich dem Handel. Es ist die Wahrheit, doch nicht die vollständige Wahrheit. Der „Druck“ spielte hier eine Rolle, aber keineswegs immer in der Form eines bewußten Vetos aus dem Munde des Regierenden oder djes Gesetzgebers; viel bedeutungsvoller war der Druck des Faktums „Diaspora“ an sich.
Die Juden mieden instinktiv wirtschaftliche Funktionen, deren „die Bodenständigen“ sich bemächtigt hatten, einmal aus Angst, daß sie vertrieben oder umgebracht würden, zum anderen aber eben wegen jener Abneigung vor besonders intimem Kontakte. Eine Anspielung hierauf ist bereits in der Bibel zu finden; die Brüder Josefs (der erste „Diaspora“-Versuch) bitten denselben — nach der Ankunft in Aegypten — um Rat, womit sie sich beschäftigen sollten, worauf er sie belehrt: „Saget, daß ihr Hirten seid, denn die Aegypter verabscheuen die Viehzucht.“
In dieser Weise lebte die ethnisch-jüdische Gemeinschaft gegen zwei Jahrtausende in verschiedenen Ecken und Enden der Diaspora — in ewiger Verteidigung ihrer Selbständigkeit; zu diesem Zweck versperrten sie ihren Geist hinter unglückseligen Mauern des Ghettos und der wirtschaftlichen Spezialisierung, diesem Zwecke fast alles zum Opfer bringend, worin bei einem Menschen des Lebens Schwung und Fülle zum Ausdruck gelangen; diese Gemeinschaft hat ihr Dasein zu drei Vierteln amputiert, aber sie bewahrte dank diesem Umstände einen Keim ihres Nationalwesens.
Dergestalt gelangte die jüdische Gemeinschaft an jenen Zeitpunkt, in welchem in Europa der Siegeszug des industriellen Umbruchs begann. Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog er fast überall sein Hauptwerk: die Nivellierung der Stände, die Vermischung der Kasten, die Zerstörung der geschlossenen Gemeinschaften; zwei alte Mauern litten unter dieser Revolution am meisten: die Mauer, die das Dorf umgab, und die Mauer, die das Ghetto umfaßte: „Die Aegypter hörten auf, die Viehzucht zu verabscheuen.“ Die Christen warfen sich massenhaft auf die Gebiete des Wirtschaftslebens, wo früher der Jude (von der Not heraus) „herrschte“. Von seinem Monopol verdrängt — privilegium odiosum — begann der Jude neue Positionen zu suchen; er fand sie zum, Teil, dank der Epoche des Liberalismus, der politischen, Emanzipation, der Aufhebung der Zünfte. Alles wandelte sich, alle künstlichen Isolatoren wurden zerstört, sogar die zeremonielle Seite der Religion hielt dem täglichen Kontakte mit der fremden Gasse nicht stand.
Die jüdische Jugend strömte scharenweise in die fremden Schulen, Eine ganze Generation flüchtete sich zur „Assimilation“. (Damals verstand man noch nicht, daß verdrängte oder bedrückte Völker unter der Maske der Assimilation in der Tat den ersten Schritt zur nationalen Renaissance unternehmen.) Es schien, als ob alles zugrunde
ginge, daß zwanzig Jahrhunderte der Selbstwehr mit einer Kapitulation enden würden.
In jenem Augenblicke eben entstand in unerwarteter und beispielloser Dynamik der politische, aktive, organisierte Zionismus. Weil die künstlichen Isolatoren der nationalen Selbständigkeit sich nicht mehr halten können — muß wieder ein natürlicher Isolator erobert werden: ein nationales Territorium.
Bei diesen, schematischen Geschichtstabriß der Diaspora — gebildet in der Gestalt eines tausendjährigen Zuges durch hundert Länder — von Zion aus nach Zion hin, verfuhr ich sehr ungerecht mit meinem Volke: ich wälzte auf sie fast die ganze Verantwortung für das Ghetto, für die verkrüppelte Oekonomik, für die Absonderung vom christlichen Milieu, Wenn man ein Schema zu schaffen gewillt ist, ist eine solche Ungerechtigkeit unvermeidbar.
Es gibt natürlich eine Reversseite dieses Bildes — eine grauenhafte, schmachvolle Chronik der von der arischen Welt verübten Grausamkeiten und Niederträchtigkeiten. Aber ich glaube und ich rühme mich dieses Glaubens, daß der Hauptkern der historischen Wahrheit eben in meinem Schema steckt; ich glaube (und rühme mich dieses Glaubens), daß unserem zweitausendjährigen Martyrium unsere Selbstwehr vor dem Unterjochtwerden zugrundeliegt. Wenn wir uns ergeben und aufgelöst hätten, wie sich zahllose „Rassen“ spurlos auflösten, hätten die Henker niemand, den sie martern und foltern könnten.
Ebenso vergesse ich nicht die „negativen“ Triebfedern der zionistischen Bewegung: den Antisemitismus, die Pogrome, den wirtschaftlichen Druck. Ich anerkenne deren volle Bedeutung; ich räume ein, daß von den Ausschlägen, ihrer Kräfte auch der Intensitätsgrad „des Auswanderungshungers“ unter den jüdischen Massen abhängig ist. Dieser „Emigrationshunger“ ist offensichtlich ein wichtiges, überzeugendes und anschauliches Argument zugunsten des jüdischen Staates. Das alles ist so sehr von wesentlicher Bedeutung, daß ich eben jetzt der Reihenfolge nach einen besonderen Abschnitt gewissenhaft solchen negativen Motiven der zionistischen Bewegung widmen werde: umsomehr, als gerade gegenwärtig ein heißer Streit mit dem Ausgangspunkte in Polen, der bald wahrscheinlich auch in die Ferne nach West und Ost vordringen wird — ausgefochten wurde, ob eben diese Motive, d. h. verschiedene Formen der Bedrückung, nicht die hauptsächlichste, oder vielleicht auch einzige Entstehungsursache des Zionismus bilden. In diesem Abschnitte wollte ich unterstreichen, daß ich das vermeide: daß die Grundlage des Zionismus unsere hartnäckige Unlust, sogar unsere organische Unfähigkeit bildet, zu kollektiver und permanenter Vereinigung mit irgend einem Sozialgebilde zu gelangen, ausgenommen jenen Sozialorganismus, den wir selber im eigenen Staate schaffen werden.
in: Vladimir Jabotinsky: Der Judenstaat, Wien 1938, S. 7-12.