Von Vladimir Jabotinsky
Die Diaspora drängt uns unaufhörlich hinaus; die Aufhaltung dieses Prozesses ist unmöglich.
Vor einem halben Säkulum, als der politische Zionismus erst im Entstehen begriffen war, als er seine ersten Fehden gegen die Assimilationsideologie ausfocht, behaupteten seine Gegner, daß es eine jüdische Frage eigentlich gar nicht gäbe. Die Juden könnten sich in der Diaspora ebenso günstig „einrichten“, wie alle anderen Stämme; ein Hindernis bilden lediglich menschliche Vorurteile, die bald verschwinden werden. Wo es noch keine Gleichberechtigung gibt, dort wird eine Gleichberechtigung eingeführt werden; und wo noch bei den Volksmassen oder auch in höheren Volksschichten ein instinktiver Antisemitismus vorhanden, ist, wird er allmählich, in Bälde, verschwinden u. s. w. Es ist unnötig, diese Entwicklung in der Jetztzeit, im Jahre 1937 zu begutachten; ich werde nur in Kürze erzählen, wie einige Generationen zionistischer Denker und Forscher auf dem Gebiete der jüdischen Wirklichkeit mit ihr gerungen haben. Am Anfang der Neunzigerjahre des verflossenen Jahrhunderts verfaßte der hebräische Schriftsteller Achad-Haam eine Abhandlung unter dem Titel „Sklaverei in der Freiheit“, in welcher er die Aufmerksamkeit darauf lenkte, wie die Gleichberechtigung, aus der die Juden der westlichen Staaten Nutzen ziehen (oder damals Nutzen zogen), sie keineswegs von der spezifischen Diaspora-Tragödie befreie; daß sie selber diese Tragödie empfinden, selber sie fürchten und selber sich gewissermaßen als ihre „Sklaven“ fühlen.
Etwas später hat Max Nordau diese Anschauung in seinen drei Reden auf den erstem zionistischen Kongressen vertieft und popularisiert. Er hat besonders den Begriff „Judennot“ herausgebildet. Diese Not beruht nicht darauf, daß man etwa jeden Juden bedingungslos überall schlägt und bedrückt. Es gibt zweifellos Länder, wo die Juden leidlich leben und wo es ihnen sogar gut geht. Aber wenn wir sogar dort das innere Selbstgefühl des Juden mit dem Selbstgefühl seines Nachbarn aus derselben Klasse und Sphäre vergleichen, so wird sich immer zeigen, daß beim Juden irgendein „Surplus“ (Ueber-schuß) an Bitternis, des Schmerzes, der Beleidigung oder Angst, oder einfach des Mißbehagens („malaise“) vorhanden ist. Dieser ewige Ueberschuß, das ist eben die „Judennot“. Manchmal wächst er sich zu den Ausmaßen einer Massenkatastrophe aus; manchmal kann man ihn von außen her kaum wahrnehmen, doch er existiert immer, dieser Ueberschuß; — und in ihm ist eben der Fluch der Diaspora enthalten; und nichts wird da helfen, weder die Gleichberechtigung, noch Veränderungen in der Temperatur des allgemeinen Antisemitismus. — In sehr interessanter Weise trat an dieses Problem der weniger bekannte Ber Borochow (ein großes Talent, leider früh verschieden) heran. Gemäß seiner Theorie ist der Kampf um die Gleichberechtigung oder der Kampf gegen den aktiven Antisemitismus einerseits notwendig, andererseits auch keineswegs hoffnungslos; man könnte dabei große konkrete Resultate erzielen, aber das alles sei lediglich eine Normalisierung des Golus.*)
Rechtlosigkeit, Pogrome, sozialer Ostrazismus der Juden — das sind keineswegs notwendige Merkmale des Golus, das sind lediglich Verschärfungen, Paroxismen, Anomalien, man kann und soll sie beseitigen, — so muß sich auch ein an chronischer Bronchitis laborierender Mensch nicht unumgänglich eine Lungenentzündung zuziehen. Der „normale“ Golus ist eben die Diaspora mit Gleichberechtigung, ohne Pogrome und ohne Hetzjagd; aber sogar die normalste Diaspora kann ein nationales „chez soi“ nicht ersetzen.
All diese Erwägungen über den Charakter des Golus durchdringt bei allen Autoren dieselbe Wahrheit: das größte Uebel liegt nicht im bewußten, boshaften Antisemitismus der Menschen (ohne Rücksicht darauf, ob sie Staatsfunktionäre, Journalisten oder Straßenmob sind), das größte Uebel liegt in irgend einem objektiven „Antisemitismus der dinglichen Kräfte“. Ich werde mir erlauben, auf die Schlußzeilen jenes Schemas — das ich im vorhergehenden Abschnitt darlegte — zurückzukommen; zum Zerfall geschlossener Gruppen unter dem Druck der fortschreitenden Industrie, als das Dorf immer mehr zur Stadt zu gravitieren und das Bürgertum, immer mehr in jüdische Wirtschaftsgebiete einzudringen begann. Genau genommen begann das „Hinausstoßen“ der Juden mit diesem Augenblicke, d. h. von diesem Moment an waren die Juden bemüßigt, sich neue Wirtschaftsgebiete zu erschließen. Im Laufe langer Dezennien widmeten sie sich vorwiegend dieser Ausfindigmachung. Es geht darum, daß im Verlaufe des ganzen 19. Jahrhunderts, mit wenigen Unterbrechungen, der Weltbedarf an verschiedenartiger menschlicher Energie das Angebot bedeutend übertraf. Man konnte das auf allen Gebieten beobachten: sogar in den Fabriken, trotz der Vervollkommnung der Maschinen — was scheinbar noch vor hundert Jahren plötzliche Arbeitslosigkeit hätte verursachen sollen. Es kam jedoch (bis jüngsthin) anders; die Produktionskraft der Maschinen nahm zu, arithmetisch fortschreitend, aber dafür, dank der Ausweitung der Absatzmärkte und dem Bevölkerungszuwachs, stieg zur selben Zeit die Nachfrage nach Waren, in geometrischem Anwachsen, so daß der Zufluß der Ankömmlinge aus dem Dorfe schließlich eben von der Maschine verschlungen wurde. Dasselbe mutatis mutandis geschah auch auf den Gebieten des Austausches des Transportes, der Organisation, der freien Berufe; trotz aller Raschheit, mit welcher sich die Kaders der Aspiranten auf Posten im Handel, im Bankfach, in Sekretariats- und Advokaturskanzleien vermehrten, das Tempo der Bedarfsvermehrung für solche Kräfte war immer noch stärker. Deshalb richteten sich auch die Juden leidlich ein; und bis zum Beginn des laufenden Jahrhunderts spielte die Erscheinung der wirtschaftlichen Verdrängung noch keine große faktische Rolle in unserem Leben. Jetzt vollzog sich ein greller Wechsel, beginnend mit den Fabriken; im Laufe des verflossenen Vierteljahrhunderts machte die Maschine sicherlich einen größeren Sprung nach vorwärts, als im Laufe aller Jahrtausende seit den Zeiten des Archimedes: die Maschine hat sich in einen Robot verwandelt. Die Nachfrage nach Menschenmuskeln fällt gewaltig. Monsieur Caillaux zu Paris, einer der weisesten und gebildetsten Zeitgenossen, behauptet, daß es nur ein Mittel gebe, um die Menschen von der Arbeitslosigkeit zu befreien: ein Verbot der weiteren Vervollkommnung der Technik. Ich zweifle, ob dies möglich wäre, ob es helfen würde. Sachkundige behaupten, daß schon jetzt, falls die Weltindustrie zur Gänze hundertprozentig alle Erfindungen, die schon heute patentiert sind und in den Koffern liegen, zur Anwendung brächte, das Industrieproletariat mit einem Schlage fast zur Legende aus der Vergangenheit würde. Das ist offensichtlich eine Uebertreibung, doch die Tendenz zur Liquidation des Industrieproletariats bildet unwiderlegbar einen charakteristischen Zug der Wirtschaftsentfaltung unserer Zeiten. Und was schlimmer ist, die Mechanisierung dringt auch in die Agrarwirtschaft ein, auch das Dorf bedarf fast keines Menschenzuwachses mehr, die Gravitation zur Stadt verstärkt sich noch mehr — und in der Stadt ist kein Arbeitsbedarf vorhanden; nicht infolge der „Krise“, sondern deshalb, weil sogar bei der höchsten Blüte der Erzeugung der Menschenmuskel im Laufe der Zeit immer weniger benötigt wird. Mit anderen Worten: früher schritt das Dorf zur Stadt, um in der Werkstätte zu landen, gegenwärtig greift es die Positionen des Bürgertums an. Der Kampf um „den Platz“ verschärft sich unerhört und verschärft sich mit jedem Tage. In jeder Sekunde muß irgend jemand, für den es keinen Raum gab, hinter das Verdeck fallen. Und ebenso fatal fällt als erstes Opfer stets ein Jude. Ich wiederhole: „fatal“. Dieses Menschenmerkmal, daß man in der Not „immer vorerst das Fremde und nicht das Eigene“ opfert, betrachte ich als ebenso elementaren Bestandteil der Weltordnung, wie den Frost im Winter und die Hitze im Sommer. Es ist gewißlich kein lobenswerter Zug, es ist ein schmachvolles, ein tierisches Merkmal. Aber es existiert; und existiert bei allen — auch bei den Juden und es ist unmöglich, es auszurotten.
Eine der wichtigsten Schlußfolgerungen, aus obigen Erwägungen ist, daß die jüdische Tragödie nicht nur ein jüdisches Problem bildet, sondern auch ein internationales. Wenn es uns materiell schlecht geht, so geht es als Folge davon auch der Gemeinschaft nicht gut, in deren Mitte wir leben. Wenn wir entrechtet sind, so zerstört diese Rechtlosigkeit das ganze Staatssystem. Wenn in den Straßen und in den Salons das Losungswort der rassischen Intoleranz herrscht, dann führt es zur Demoralisation der Gemeinschaft. Man kann auf noch bedrohlichere Perspektiven hinweisen, aber es ist zwecklos. Eines ist klar: falls eines schönen Morgens die Diaspora als Erscheinung plötzlich verschwände und alle Juden durch irgend ein Wunder sich erfolgreich im eigenen Lande einrichten würden, dann würde der Vorteil auf Gegenseitigkeit beruhen. Eine solche Erstellung der Frage stammt von Herzl. Sowohl in seinen Augen — anno 1896 — als auch nach Anschauungen unserer Epoche bedarf es großer Standhaftigkeit, um hieraus konkrete Schlüsse zu ziehen; alle Juden, sogar die eifrigsten Zionisten, sind ungeheuer sensibel gegen alle Anspielungen, daß unser Aufenthalt in der Diaspora für irgend jemand (außer ihnen selbst) unbequem ist.
Wir sprechen und schreiben seit langem darüber, wir betrachten das schon längst als ein apodiktisches, wissenschaftliches Faktum; wir verstehen ausgezeichnet, daß man sich hier keinen Zwang aufzuerlegen braucht, daß man nicht um Entschuldigung zu bitten notwendig habe — das ist völlig natürlich und unvermeidlich; jede soziale Anomalie teilt stets Schläge nach beiden Seiten aus. Nichtsdestoweniger, wenn ein Nichtjude dies wiederholt, fühlen wir uns verletzt. Das ist so leicht begreiflich, daß sogar ein braver Christ bestrebt ist, diese Seite des Problems nicht laut zu berühren; das ist übrigens sehr lobenswert. Es, kommen jedoch Augenblicke, wo man lediglich der ehernen Stimme der Notwendigkeit Rechnung tragen muß, wenn wir auch diese strenge Stimme noch so verabscheuen sollten. Ein solcher Augenblick ist gegenwärtig eingetroffen. Das jüdische Volk in toto und in allen seinen Schichten treibt der Bewegung mit einer beispiellosen Katastrophe zu. Es gibt Länder, wo der Antisemitismus und die Verdrängung der Juden einen offiziellen Teil der Staatsordnung bilden. Es gibt Länder, wo dies inoffiziell geschieht; manchmal unter Begleitung der Straßengewalt, manchmal sogar in zuvorkommender Form. Es sind Länder vorhanden, wo es keine dieser konkreten Folgen gibt, aber wo in den Massen und in der Gemeinschaft offen und rapid dieselben Stimmungen anwachsen, die eben zu den Resultaten in den Ländern der ersten und der zweiten Kategorie geführt haben. Es gibt offensichtlich Menschen, die die Augen schließen und sich mit Hoffnungen trösten, daß sich vielleicht doch alle Wolken irgendwie verziehen werden; das ist unverantwortlicher und unverzeihlicher Leichtsinn. Diese Situation ist für uns unerträglich; aber auch für eine ganze Reihe von Ländern, in welchen sich unsere Tragödie abspielt; diese Situation ist nicht leicht und dabei gefährlich.
Wenn unsere Leiden dortselbst sich noch hinziehen werden, wird es diesen Ländern gleichfalls schlecht ergehen; wenn wir für uns bessere Behausungen finden werden, wird auch ihnen in ihren alten Heimen besser sein. Es ist schon an der Zeit, dies zu bekennen und laut auszusprechen. Eine ganze Reihe von Ländern sollte der Welt verkünden: Zionismus bedeutet: „Res nostra agitur.“
*) Golus oder Galuth, im Hebräischen „Exil“; ich werde diesen Ausdruck und das Wort „Diaspora“ als Synonyme gebrauchen.
in: Vladimir Jabotinsky: Der Judenstaat, Wien 1938, S. 13-17.