Der Weg Israels

Zur Klärung (Sommer 1958)

Von Martin Buber

In einer Rede, die ich Ende April in New York gehalten habe, ist von mir ein mir besonders wichtiger Gegenstand nicht mit der erwünschten Klarheit und Genauigkeit dargelegt worden. Ich fühle mich daher verpflichtet, seine Klärung öffentlich nachzuholen.

Als ich vor 60 Jahren in die zionistische Bewegung eintrat, sah ich mich schon sehr bald genötigt, in dem Streit zwischen der „politischen“ und der „praktischen“ Richtung Stellung zu nehmen. Ich entschied mich ohne Zögern für die letztere und bin ihr treu geblieben, so mannigfaltige Formen sie im Lauf der Zeit auch angenommen hat. Man wird in meinen Schriften von 1901 an und in spezifisch verstärktem Ausdruck von 1917 an die programmatische und konkrete Äußerung davon finden.

Man pflegt die Frage, um die es ging, nicht ernst und tief genug zu verstehen. Es handelte sich im Grunde nicht darum, welche Tätigkeit vordringlicher sei, die Erlangung politischer Zugeständnisse oder die faktische Siedlungsarbeit. Unsere, der „Praktischen“, Tendenz, erst eine Wirklichkeit zu schaffen und dann Rechte für sie anzustreben, entstammte nicht taktischen Erwägungen. Sie entstammte der Einsicht, daß das ungeheure Doppelwerk der vollkommenen Wiedergeburt des jüdischen Volkes und seiner Eingliederung in die vorderasiatische Welt nicht durch eine plötzliche, unzureichend vorbereitete Massensiedlung, sondern nur durch die bereitende Tätigkeit von Generationen im Lande zu schaffen ist. Wir erstrebten keineswegs, wie vordem so viele Chowewe Zion, ein kleines Zentrum, wir wollten ein großes produktives jüdisches Gemeinwesen gründen; aber als den Weg dahin erkannten wir ein mehrere Generationen langes Pioniertum der Arbeit und des Friedens, das mehrere Generationen lange Walten eines selektiven, organischen Entwicklungsprinzips. Das bedeutet erstens, daß eine Arbeitselite von Menschen, die ihre Zukunft und die ihrer Kinder in dem Aufbau eben dieses Landes sehen, in so vielen Generationen diesen verwirklichen sollte, bis der tragfähige Kern eines jüdischen Gemeinwesens im Sinne der vollkommenen Wiedergeburt entstanden wäre; eines Gemeinwesens, das auf eine autonome Verfassung Anspruch hätte und sie demgemäß von der Welt verlangen könnte. Und zweitens bedeutet jenes Entwicklungsprinzip, daß in kooperativem Zusammenleben mit den Nachbarn, in helfender Teilnahme an ihrem Wirtschaftsleben ein Verhältnis der Solidarität ermöglicht werden sollte, aus dem sodann ein umfassendes Zusammenwirken beider Völker hervorginge. Diese zweite Bedeutung des selektiven, organischen Prinzips muß hier, wegen ihrer Wichtigkeit für unseren Gegenstand, etwas genauer erläutert werden.

Manche von uns hatten früh erkannt, daß ein neuer, aufstrebender Faktor im Völkerbestand des Nahen Ostens sich nicht als Enklave der westlichen Welt etablieren und behaupten kann, daß es also eines echten, nicht bloß taktischen Einvernehmens mit den umgebenden Völkerschaften bedarf. Es konnte keineswegs genügen, das Vertrauen der Araber in der Absicht zu erwerben, daß sie später unserem Autonomiebegehren nicht entgegenstehen sollten; nicht scheinbare, sondern wirkliche, objektiv fundierte, umfassende Solidarität war gemeint. Nur sie konnte den von außen kommenden Erschütterungen standhalten, auf die man gefaßt sein mußte. Dazu kam, daß einige von uns vor mehr als 40 Jahren die beginnende Weltkrise erkannten, in der der Nahe Osten immer mehr als ein wesentliches Element sich auswirken mußte: entweder als ein Element großer Konstruktion oder als eins großen Zerfalls. Gingen wir wahrhaft in die Lebenssphäre des Nahen Ostens ein, so konnten wir einen starken Anteil an der Entscheidung dieser Alternative gewinnen.

Die politische Seite dieses Postulats ist von uns da zum Ausdruck gebracht worden, wo darüber zu sprechen war, von mir insbesondere 1921 in dem politischen Ausschuß des Zionistenkongresses, wo ich der von mir betonten Möglichkeit einer Föderierung der arabischen Staaten den Gedanken einer vorderasiatischen Föderation entgegenstellte, an der wir teilzunehmen hätten. Aber die unerläßliche Voraussetzung einer politischen Aktivität in dieser Richtung war eben die Erzeugung eines gemeinsamen Bewußtseins der Solidarität.

In dem Zeitalter der beginnenden Weltkrise hat die Chaluziuth, unser Pioniertum, einen erheblichen Teil des ersten Postulats, der Schaffung des Kerns eines Gemeinwesens, verwirklicht, ohne sie bereits zur Vollendung bringen zu können. Dagegen ist das zweite Postulat, das der Erweckung eines jüdisch-arabischen Solidaritätsbewußtseins, nur fragmentarisch, in sporadischen, lokal begrenzten Unternehmungen guter Nachbarschaft, realisiert worden; weder eine organisierte Arbeit daran, noch auch nur ein praktisches Programm umfassender Kooperation ist entstanden.

In diesem Stande befand sich unser Siedlungswerk, als sein Prinzip, das Prinzip der selektiven, organischen Entwicklung, von den Folgen des grauenhaftesten Ereignisses der modernen Geschichte, der Ausrottung von Millionen Juden durch Adolf Hitler, überrannt wurde. Die gepeinigten, gehetzten Massen drängten nach Palästina, nicht wie die Chaluzim als in das Land der jüdischen Wiedergeburt, für dessen Aufbau kein Opfer zu groß war, sondern – wiewohl die Tradition der messianischen Verheißung in ihnen fortlebte – als in ein Land der Rettung und der Sicherheit. „Wer hätte es über sich gebracht, diesem Ansturm der Heimlosen gegenüber die Fortsetzung der selektiven Methode zu vertreten! Die Massen kamen, und mit ihnen kam die Notwendigkeit politischer Sicherung. Sie kam zu einer Zeit, da das erste Postulat noch keine zureichende Erfüllung gefunden hatte und das zweite nicht über einzelne Versuche hinausgelangt war. Der erste Mangel hat mannigfache Schwierigkeiten erzeugt, aber die Wirkungen des zweiten Mangels waren verhängnisvoll. Da eine jüdischarabische Solidarität weder in der Form von Tatsachen noch auch nur in der eines verkündeten Programms der Kooperation eingeleitet war, empfanden führende Araber die Masseneinwanderung als eine Bedrohung und die zionistische Bewegung als einen „Mietling des Imperialismus“, beides zu Unrecht, beides ohne von uns praktisch darin gestört zu werden. Unser geschichtlicher Wiedereinzug in unser Land ist durch ein falsches Tor erfolgt.

Aber jene Weltstunde, in der das Niederträchtige vor aller Augen das Mächtige geworden war und alles ihm Verhaßte straflos vertilgen zu können schien, hat auch einen unheilvollen inneren Einfluß ausgeübt. Die schädlichste aller Irrlehren, wonach der Weg der Geschichte von der Macht allein bestimmt werde, schlich sich überall in das Denken der Völker und ihrer Regierungen ein, wobei der Glaube an den Geist als unverbindliche Phraseologie beibehalten werden konnte. Was wir heute erleben, die allem Gebot des Geistes widerstrebende allgemeine Akkumulation von Macht der Vernichtung, ist nur durch diese innere Zersetzung möglich geworden, wiewohl seither etliche wieder umgelernt haben. In einem Teil des jüdischen Volkes, das durch jenen Sieg des Untermenschlichen über das Menschliche am grausamsten betroffen worden war, hat die Irrlehre auch dann noch fortgewirkt, als der Untermensch gestürzt war. Und hier, im Judentum, bedeutet sie in einer ganz besonderen Weise die große Untreue. Durch den Geist war dieses Volk, dem unseligsten Schicksal zum Trotz, ungebrochen durch die Zeiten erhalten worden. Mit den Mitteln des Geistes allein hatte die Zionsbewegung ihre Position in Palästina geschaffen und auch schon die ersten Rechtstitel politischer Art für sie errungen. Nur wenn sie den Geist als Führer bewahrte, konnte sie hoffen, Größeres hervorzubringen als einen Staat mehr unter den Staaten der Welt. Wer hier dem Geist untreu wurde, wurde auch einer großen Aufgabe untreu.

Wie tief in einen Teil des Volkes das Übel eingedrungen war, haben wir erst erkannt, als die Tatsache nicht mehr zu übersehen war. Inzwischen war, im Gegensatz zu den Vorschlägen eines binationalen Staates oder eines jüdischen Anteils an einer vorderasiatischen Föderation, die unglückliche Teilung Palästinas erfolgt, die Kluft zwischen den beiden Völkern war weit aufgerissen worden, der Kampf tobte*. Alles ging mit einer furchtbaren Folgerichtigkeit und zugleich mit einer furchtbaren Sinnlosigkeit vor sich. Es ist aber eines Tages geschehen, daß, außerhalb aller geordneten Kriegführung, eine Schar bewaffneter Juden ein arabisches Dorf überfiel und vernichtete. Oft hatten in früheren Zeiten arabische Horden Untaten dieser Art verübt, und meine Seele hatte mit den Opfern geblutet; hier aber ging es um unser eigenes, um mein eigenes Verbrechen, um das Verbrechen des Ju den am Geist. Ich kann auch heute noch nicht daran denken, ohne mich schuldig zu fühlen. Zu schwach ist unser kämpferischer Glaube an den Geist gewesen, um die Ausbreitung und den Ausbruch der dämonischen Irrlehre zu verhindern.

All dies geht die Vergangenheit an, eine nie zu vergessende Vergangenheit. Aber ich muß noch einige Worte über etwas gegenwärtig Gebliebenes, etwas höchst aktuell Gebliebenes sagen, damit deutlicher werde, wo ich nicht stehe und wo ich stehe.

Ich habe die aus dem Krieg hervorgegangene Form des neuen jüdischen Gemeinwesens, den Staat Israel, als den meinen akzeptiert. Ich habe nichts mit jenen Juden gemein, die ihn, die faktische Gestalt der jüdischen Selbständigkeit, bestreiten zu dürfen meinen. Das Gebot, dem Geist zu dienen, ist jetzt von uns in diesem Staat, von ihm aus zu erfüllen. Wer aber dem Geist wahrhaft dienen will, muß all das einst Verfehlte wiedergutzumachen suchen; er muß daran arbeiten, die verschüttete Bahn für ein Einvernehmen mit dem arabischen Volke von neuem freizumachen. Heute erscheint es vielen absurd, jetzt noch – zumal in der gegenwärtigen innerarabischen Situation — an eine jüdische Teilnahme an einer Föderation zu denken; morgen, mit einer Änderung gewisser von uns unabhängiger weltpolitischer Momente, kann diese Möglichkeit in eine höchst positive Beleuchtung rücken. Es gilt, soweit es von uns abhängt, den Boden dafür vorzubereiten. Es kann heute keinen Frieden zwischen Juden und Arabern geben, der nur ein Aufhören des Krieges wäre; es kann nur noch einen Frieden der echten Zusammenarbeit geben. Unter so vielfach erschwerten Umständen ist es noch heute und mehr als je das Gebot des Geistes, die Zusammenarbeit der Völker anzubahnen.

* Ich muß hier eine persönliche Bemerkung einfügen, weil ich in diesem Punkte zwar für viele meiner engeren Gesinnungsfreunde, aber nicht für alle sprechen kann. Ich bin kein radikaler Pazifist, ich glaube nicht daran, daß man überall auf Gewalt mit Gewaltlosigkeit zu antworten habe, ich kenne die Tragödie von Angesicht.