Ber Borochow wurde 1881 in Poltawa (Russland) geboren und interessierte sich bereits in seiner Jugend für den Marxismus. Im Jahre 1900 gründete er in Ekaterinoslaw die erste Organisation der sozialdemokratischen russischen Partei Poale-Zion.
Nachdem er ein Jahr später Zeuge eines antisemitischen Pogroms wurde, organisierte er die erste jüdische Selbstschutz-Organisation in Russland. In den folgenden Jahren wurde er zu einem Protagonisten der sozialistisch-zionistischen Bewegung in Russland. Diese Bewegung spaltete sich in die Fraktionen der Territorialisten und der Sejamisten. 1906 wurden unter Mitwirkung von Borochow die politischen Positionen der „Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Poale-Zion“ entwickelt. Er vertrat hier seine Ideen einer autonomen Klassenbewegung des jüdischen Proletariats. Hieraus entstand sein Buch „Unsere Plattform“, in der er einen proletarischen Zionismus, als Resultat der psychischen Entwicklung des jüdischen Lebens, voraussagte. Hierfür sollte eine Basis für eine unabhängige Betätigung der jüdischen Arbeiterklasse geschaffen werden.
1906 wurde er von der zaristischen Polizei festgenommen und verbrachte fünf Monate in Haft. Nach seiner Haftentlassung begab sich Borochow ins europäische Ausland und gründete den „Weltverband Poale-Zion“, dessen Sekretär er wurde. Mit Kriegsausbruch 1914 entschloss sich Borochow in die USA zu gehen. Hier sprach er sich gegen „sozial-nationalistische Tendenzen“ aus und engagierte sich in der Bewegung für einen Jüdischen Kongress. 1917 kehrte Borochow ins revolutionäre Russland zurück und wurde Deputierter im Jüdischen Rat. Auf zahlreichen Versammlungen stellte er seine Forderungen vor: Bürgerliche und nationale Rechte im eigenen Land, in Korrelation mit einer künftigen Friedenskonferenz; Offizielle jüdische Vertretungen in der internationalen Arena; Völlige rechtliche Gleichstellungen der Juden und Schaffung eines territorialen jüdischen Zentrums in Palästina.
1917 verstarb Ber Borochow mit 36 Jahren nach einer seiner Rundreisen an den Folgen einer schweren Erkältung.
„Die Klasseninteressen und die nationale Frage“
Der Text wurde 1905 von Ber Borochrow in der Zeitschrift „Ievreiskaia Jisn“ („Das jüdische Leben“) veröffentlicht und erschien 1945 in der Schweiz als „Schriftenreihe der Poale – Zion“. Er gilt als einer der Grundlagentexte des so genannten „Poale – Zionismus“ für eine marxistische Auffassung der nationalen Frage. Der Text selbst jedoch enthält kaum direkte Bezüge zu Fragen des Zionismus, einer jüdischen Nation oder eines jüdischen Staates. Er versucht vielmehr die Beziehungen zwischen wirtschaftlichen, sozialen und nationalen Faktoren aus marxistischer Sicht zu analysieren. Hierbei kritisiert er auch andere sozialistische Theoretikern:
„Das Verhältnis der sozialistischen Theoretiker zur nationalen Frage muss tiefer und aufrichtiger werden, man muss verstehen, dass sich das Klassenbewusstsein so lange nicht normal entwickeln kann, als die nationale Frage, in welcher Form sie auch immer existieren möge, noch ungelöst ist.“
Eine Zusammenfassung seiner Positionen liefert Borochow am Ende dieses Textes (Kapitel 12), die hier dokumentiert wird. In dieser findet sich z.B. auch eine Passage zu dem „Problem der Aus- und Einwanderung“, die zumindest indirekt Bezüge zu zionistischen Ideen aufweist.
Dieser 1906 entstandene Text findet sich in einer gekürzten Variante ebenfalls in der „Schriftenreihe der Poale – Zion“. Nach Aussagen des unbekannten Autors, der 1945 das Vorwort für die „Schriftenreihe der Poale – Zion“ schrieb, stellt dieser Text eine Art Ergänzung zum ersten Text dar: „Die zweite Untersuchung, die wir in Anbetracht ihrer Länge etwas zusammenziehen mussten, wendet die in der ersten ausgearbeiteten Theorie auf das jüdische Problem an. Sie erläutert die Auffassung der jüdischen Arbeiterpartei Poale-Zion im Vergleich mit und im Gegensatz zu den anderen jüdischen politischen Bewegungen.“
In diesem Text geht Borochow auf die spezifischen Situationen des „Klassenkampf der jüdischen Arbeiter“ ein. Er schreibt: „… Entweder – oder: entweder muss man die Existenz des Ghetto überhaupt verleugnen, oder man muss seine Existenz und seinen Einfluss auf den Klassenkampf des jüdischen Proletariats in Betracht ziehen; entweder Assimilation oder Nationalismus.“
An anderer Stelle betont er: „Die Tatsache, dass das jüdische Volk kein Territorium besitzt, ist primär Ursache dafür, dass der Arbeitsplatz des jüdischen Arbeiters, wie auch die strategische Basis des kämpfenden jüdischen Proletariats anormal ist.“ Er kritisiert jedoch auch die Vertreter der „Partei der Zionisten – Sozialisten“ mit deutlichen Worten: „Ihr Ausgangspunkt ist die Auswanderung; doch im Prozess der Auswanderung führt der Arbeiter keinen Klassenkampf.“
Deren Opposition, den Sejamisten, wirft er vor sie richtet ihren Blick „nur auf die Galuth, nur auf den minimalsten Punkt des Minimal-Programms – nur auf die Entwicklung der latent nationalen Kräfte des jüdischen Volkes in seinen Wohngebieten (…).“ Die einen hätten eine Zukunft ohne Gegenwart und die anderen eine Gegenwart ohne Zukunft. Die Poale Zion vertreten ein anderes Ideal: „Ebenso wie der Sozialismus durch einen von bewusster, Tätigkeit unabhängigen zwangsläufigen Prozess der Konzentrierung der Produktion verwirklicht wird, beginnen auch jüdischen Wandermassen, sich unabhängig, von jedermanns Willen auf ein bestimmtes Territorium zu konzentrieren.“ Er favorisiert Palästina, da “ sich die eingeborene Bevölkerung noch zu keinem wirtschaftlich geschlossenen Organismus, zu keiner Nation entwickelt hatte, die in nationale Konkurrenz mit dem jüdischen Kapital und mit der jüdischen Arbeitskraft treten würde (…).“ Seinen Text beendet er mit den Worten: „Um den Territorialismus und die nationalpolitische Autonomie zu verwirklichen, geben wir neue Parolen aus; wir bewahren aber das alte, erprobte, einzig richtige Mittel – den Klassenkampf.“