Umwertung aller Werte

Von Achad haAm

Aus dem betäubenden Stimmengewirr, welches im chaotischen Durcheinander unseres öffentlichen Lebens umhertobt, heben sich seit kurzem von Zeit zu Zeit fremdartige Stimmen heraus, von denen besonders eine, neue Worte verkündend, allgemeine Aufmerksamkeit erregt und die seltsamsten Empfindungen weckt.

Der große Haufe hört, ohne etwas zu verstehen, wird einen Augenblick stutzig und — zieht seines Weges. Die wenigen Auserlesenen hören gleichfalls und verstehen zumindest, woher die Stimme kommt; weil sie es aber verstehen, schütteln sie skeptisch den Kopf und ziehen gleichfalls ihres Weges. Nur die Jugend mit ihrem regen und für alles Neue empfänglichen Herzen horcht nach allen Seiten hin auf die neuen Worte, die jene Stimme verkündet, lauscht begierig dem neuen Klange und lässt sich von ihm fortziehen, ohne sich nach der Idee, die in jenen Worten liegt, zu fragen, ohne sich zu überlegen, ob es tatsächlich so unerhört neue Wahrheiten sind, die zu einem derartigen Enthusiasmus berechtigen.

Jene Worte heißen: „Umwertung aller Werte“, und die Idee, — nun, es ist kein Leichtes, sie aus dem umgebenden Nebel herauszuheben und ihr eine scharfe und präzise Fassung zu geben. Wenn wir indes aus der Fülle des Geheimnisvollen, mit dem die Vertreter dieser Idee ihr Geistesprodukt umhüllen, die hier und da auftauchenden verständlichen Äußerungen herausgreifen und zueinanderfügen, dann erhalten wir wohl die Berechtigung, jene Idee etwa folgendermaßen zu formulieren.

Der ganze Geschichtsverlauf des jüdischen Volkes von den Propheten bis auf die Gegenwart herab erscheint ihnen, den Verkündern jener „Worte“, als ein einziger großer Irrtum, der unverzüglich einer radikalen Berichtigung bedarf. Denn während dieses ganzen Zeitraumes stellte das Judentum das geistige abstrakte Ideal über die körperliche materielle Kraft, die „Schrift“ über das „Schwert“, und erdrückte dadurch in den einzelnen Volksgliedern das Streben nach der Durchsetzung ihrer individuellen Kräfte. Sie verdrängte das Leben „in natura“ vor dem Leben „in effigie“, und der reale Jude wurde gewissermaßen das bloße Anhängsel einer abstrakten Moraltheorie. In diesem Zustande kann das jüdische Volk unmöglich länger unter den übrigen Völkern leben oder sich gar eine nationale Existenz auf eigenem Boden gründen. Da nun die Sehnsucht nach einer nationalen Renaissance jetzt wieder erwacht ist, müssen wir daher vor allen Dingen die bei uns herrschenden Moralwerte umwerten, müssen wir den ganzen historischen, uns von den Vätern überkommenen Bau, weil er auf dem Fundamente jenes gefährlichen Irrtums — der Vorherrschaft des Geistes über die Materie und der Unterordnung des individuellen Lebens unter abstrakte Moralgesetze — basiert, erbarmungslos und mit einem Male in Trümmer schlagen und an dessen Stelle von Grund auf einen neuen Bau errichten, auf der Basis der neuen Werte, die dem Materiellen den Vorrang über das Ideale verleihen sollen, die die lebensdurstige Menschennatur von den sie einschnürenden Fesseln befreien und in ihr den Drang wecken sollen nach Durchsetzung ihrer Kräfte und Willensimpulse, nach gewaltsamer Erlangung ihrer Wünsche in schrankenloser Freiheit.

Und in derselben Weise wie die übrigen „neuen Worte“, die lärmend unsere Literatur durchschwirren, ist auch die Losung von der „Umwertung aller Werte“ nicht in unserer eigenen Mitte entstanden und nicht aus den Bedürfnissen unseres eigenen Lebens herausgewachsen, sondern auf „fremdem Gefilde“ fanden unsere Schriftsteller die neue Pflanze fix und fertig vor und lasen sie auf, um damit ihr Volk zu beglücken, ohne vorher zu überlegen, ob und inwiefern der Boden des Judentums für das Wachstum derselben geeignet erscheint.

Friedrich Nietzsche, der Dichterphilosoph, der Mann, welcher Denken und Dichten in sich gleichzeitig vereinigt, war es, der auch unsere Jugend durch seine neue Lehre von der „Umwertung aller Werte“ in Begeisterung versetzte. Seine Theorie vertritt die Anschauung, dass der Zweck des Menschengeschlechts, wie der aller Lebewesen, in der ununterbrochenen Entfaltung und Durchsetzung der ihm von der Natur verliehenen Kräfte besteht, damit der menschliche Arttypus die höchste Stufe erreiche, die er zu erreichen imstande ist. Da nun die Vervollkommnung des Arttypus nur durch den Kampf ums Dasein unter den Individuen der Art möglich ist, wobei der Stärkere immer höher und höher steigt, ohne sich um die Schwächeren zu kümmern, selbst wenn er über deren Köpfe hinweg schreiten und sie mit Füßen treten muss, so ergibt sich daraus, dass es seitens der bisherigen Moral ein großes Missverständnis war, wenn sie als ihre Basis den Fundamentalsatz aufstellte, dass „gut“ dasjenige ist, was den Menschen in ihrer Gesamtheit Glück bringt und das Maß der Schmerzen in der Welt vermindert, „schlecht“ hingegen das, was der Menschheit Unglück bringt und das Maß der Schmerzen vergrößert. Auf dieser Basis sich aufbauend, brachte die Ethik eine völlige Umwälzung hervor und stellte die Ordnung der Dinge auf den Kopf: die oben Befindlichen gerieten nach unten, die unten Befindlichen nach oben. Die vereinzelten Starken, die durch ihre leiblichen und seelischen Vorzüge würdig waren, sich zu einer hohen Stufe zu erheben und dadurch den menschlichen Typus der Vollkommenheit näher zu bringen, wurden der Mehrheit der Schwachen untergeordnet und durften diese nicht mehr, obwohl sie ihrer Entwicklung hinderlich im Wege standen, beiseite schieben, ja sie wurden sogar von Seiten der Moral verpflichtet, den Schwachen zu dienen, ihnen Barmherzigkeit, Unterstützung und Wohltaten zu erweisen, kurz, auf die Entfaltung ihrer eigenen Kräfte und die Erhöhung ihrer individuellen Vorzüge zu verzichten und ihre ganze Überlegenheit dem Haufen der Niedrigerstehenden und Minderwertigen dienstbar zu machen. Die notwendige Folge dieses Zustandes war die, dass der menschliche Typus im allgemeinen, statt nach oben zu streben, um von Generation zu Generation immer stärkere und höhere Exemplare hervorzubringen und dadurch der Vollkommenheit immer näher zu kommen, — umgekehrt immer mehr nach unten sinkt, indem er auch die wenigen Auserlesenen in jeder Generation zu der Niedrigkeit des großen Haufens herabzieht und dadurch sich immer mehr von seiner wahren Bestimmung entfernt. Um daher dem menschlichen Typus die Fähigkeit zur Vervollkommnung wieder zu verleihen, müssen die moralischen Werte gänzlich umgeprägt werden und muss der Begriff „gut“ dieselbe Bedeutung erhalten, die er einst im Altertum hatte, als die griechische und römische Kultur noch nicht durch die jüdische Moral besiegt waren: nämlich „gut“ ist der Starke, der die Kraft zur Erweiterung und Erhaltung seines Lebens und den Willen zur Macht besitzt, ohne sich irgendwie um den Schaden zu kümmern, der durch ihn für den großen Haufen der Schwachen und Minderwertigen entsteht, weil nur er, der Übermensch, allein den Kernpunkt und Endzweck des Menschengeschlechts darstellt, die übrigen aber nur dazu da sind, ihm dienstbar zu sein und die Leiter zu bilden, auf der er in die Höhe steigt und die ihm entsprechende Stufe erklimmt. Nicht etwa so, dass der Übermensch der spezielle Liebling der Natur wäre, der die besondere Vergünstigung genießt, seinen Leidenschaften zu fröhnen und sich der Welt lediglich zu seiner persönlichen Lust zu bedienen, sondern seinen Vorrang verdankt er lediglich dem menschlichen Typus, der durch ihn in die Höhe gehoben und der Vollkommenheit näher gebracht wird. Deswegen bedeutet für den Übermenschen die Entfaltung seiner Kräfte und die Herrschaft über die Welt nicht nur ein Recht, sondern auch eine hohe und harte Pflicht, der er unter Umständen auch sein persönliches Glück opfern muss, wie er ihr das Glück anderer opfert, und in deren Dienst er sich ebenso wenig schonen darf, wie er andere geschont hat. „Trachte ich denn nach Glücke?“ — fragt der Übermensch Zarathustra — „Ich trachte nach meinem Werke„. Denn dieses „Werk“ — die Erhebung des Arttypus in jeder Generation, wenn auch nur in wenigen Exemplaren, über den Haufen der „Vielzuvielen“ hinaus —, dieses Werk ist an und für sich als Endzweck erwünscht, ohne jegliche Rücksicht auf seine Folgen für das Glück oder Leid, den Fortschritt oder Rückschritt der Mehrheit der Menschen. Der moralische und kulturelle Wert einer Epoche ist also nicht mehr, wie man gewöhnlich annimmt, abhängig von dem Grade der Wohlfahrt und Kultur der Mehrheit der in Jener Epoche Lebenden, sondern von der Höhe der Stufe, die der Arttypus in einem einzigen oder in einzelnen über das allgemeine Niveau der großen Mehrheit hinausragenden Exemplaren erreicht hat.

Dies ist der Kardinalgedanke in der Lehre von der „Umwertung aller Werte“ in ihrer ursprünglichen deutschen Fassung (1). Sie will also nicht bloß im einzelnen die Moral umändern — indem das, was bisher als „gut“ galt, nunmehr als „böse“ gewertet werden soll und umgekehrt —, sondern dieselbe in ihrer ganzen Grundlage, in der Aufstellung des Kriteriums für die Unterscheidung von „gut“ und „böse“, umgestalten. Bisher galt als das Kriterium die Verringerung des Schmerzes in der Welt und die Vergrößerung des Glücksquantums in der Menschheit. Alles, was geeignet schien, mehr oder minder zur Erreichung Jenes Zieles beizutragen, sei es direkt oder indirekt, sei es in der Gegenwart oder in naher oder ferner Zukunft —, alles dies galt als „gut“. Was hingegen in irgendwelcher Beziehung die gegenteiligen Folgen erwarten ließ, galt als „böse“. Nunmehr aber vernehmen wir, dass die sittlichen Eigenschaften und Handlungen nicht im Geringsten nach ihren Folgen für die Masse der Menschen gewertet werden sollen. Denn die Entfaltung der individuellen Kraft in den höchsten Exemplaren des Menschengeschlechts und die durch sie bewirkte Erhöhung des Arttypus zu einer über die große Menschenmehrheit hinausragenden Stufe, – dieses ist das „Gute“ an sich, welches seinen Endzweck in sich selbst findet und keinerlei Sanktion durch irgendein andersartiges Kriterium benötigt. Dadurch hat Nietzsche, wie Simmel mit Recht hervorhebt, allen Gegenargumenten, die seine Gegner aus der Logik oder Erfahrung gegen ihn vorbringen konnten von vornherein den Boden entzogen. Denn alle Argumente dieser Art müssen notwendig jenes Kriterium, das er überhaupt nicht anerkennt, zur Voraussetzung haben, indem sie den Schaden aufweisen, den eine solche Anschauung für das Leben der Gesamtmenschheit, für die Ausbreitung der Kultur in ihrer Mitte nach sich ziehen würde, und ähnliche Einwände mehr, wogegen nach der Nietzscheschen Anschauungsweise das ganze Leben der Masse der Menschen samt ihrer ganzen Kultur gegenüber einem einzigen Übermenschen gar nicht ins Gewicht fallen kann.

Jetzt kennen wir nunmehr die Quelle, aus der unsere Schriftsteller den Begriff der Umwertung geschöpft haben, und können sehen, welche Umformung er bei ihnen erhalten hat. Sie fanden auf einem fremden Boden eine neue allgemeine Lehre vor, die tatsächlich geeignet ist, phantasiebegabte Menschen in ihren Bann zu ziehen, und, indem sie sich derselben anschlössen, schufen sie nach diesem Vorbild eine spezielle Lehre, eine Lehre fürs Judentum. An und für sich finde ich in dieser Tatsache nichts Schlimmes. Ähnliche Erscheinungen lassen sich in Fülle aus unserer Vergangenheit nachweisen, von der alexandrinischen Epoche bis auf unsere Zeit herab, und das Judentum wurde hierdurch lediglich durch neue Begriffe und fruchtbare Gedanken bereichert. Aber auch hier ist, wie bei einer jeden Sache, welche besondere Geschicklichkeit erfordert, immer die Hauptbedingung, dass der Meister mit der Beschaffenheit des ihm vorliegenden Stoffes vertraut sein muss und den Stoff zu formen versteht, damit nicht der Stoff über den Meister die Herrschaft gewinnt und unter seiner Hand zu etwas Unbrauchbarem missrät.

Bereits bei einer früheren Gelegenheit äußerte ich mein Mitgefühl mit unseren jungen Schriftstellern, die einen „Riss“ in ihrem Innern empfinden und ihn durch die Einführung „europäischer“ Gedanken in unsere Literatur heilen zu können vermeinen, und hielt ihnen folgendes entgegen: „Die bloße Einführung des fremden Stoffes genügt nicht; der Einführung muss vielmehr eine Assimilierung desselben an unsere nationale Eigenart vorangehen. Wir sehen, zum Beispiel, dass die Ideen Friedrich Nietzsches sich eines Teiles der jüdischen Jugend bemächtigt haben und, indem sie dieselbe in einen Konflikt mit ihrem Judentum hineintreiben, in ihrem Innern einen Riss verursachen. Was soll nun geschehen? Zunächst sollen diese Ideen analysiert und in ihre Bestandteile zerlegt werden, um auf diese Weise die in ihnen allgemein menschlich wirkende Anziehungskraft und ihre auf das Judentum geübte Abstoßungskraft festzustellen und voneinander zu isolieren. Durch eine derartige Analyse wird sich möglicherweise zuletzt herausstellen, dass die beiden Kräfte von zwei verschiedenen Punkten ausgehen, die durchaus nicht notwendig zusammengehören. Während die erste Kraft universaler Natur ist, ist vielleicht die andere lediglich germanischen oder arischen Charakters und hat sich bloß mit jener verbunden, weil sie beide zufällig im Geiste desselben Individuums zusammentrafen, das gleichzeitig Mensch und Germane war. Wenn dem so ist, dann brauchen wir bloß die Form dieser Gedanken zu ändern, den universalen Kern aus der germanischen Schale herauszulösen und ihn anstatt dessen mit der Schale der jüdischen Eigenart zu umkleiden — und die geforderte Assimilierung ist vollbracht. Dann führen wir in unsere Literatur neue, aber nicht fremde Gedanken ein.“ (2)

Wären unsere Nietzescheaner auf die bezeichnete Weise verfahren, dann müsste ihnen klar geworden sein, dass die Lehre ihres Meisters tatsächlich „zwei verschiedene Punkte“, einen allgemeinen menschlichen und einen speziellen arischen, enthält, und dass der erstere nicht bloß in keinem Widerspruch mit dem Judentume steht, sondern im Gegenteil demselben durchaus förderlich erscheint.

Die Umwandlung des moralischen Kriteriums auf dem bezeichneten Wege, — dies ist der menschliche Gesichtspunkt in der Lehre von der „Umwertung aller Werte“. Nicht die Erhöhung der menschlichen Art in ihrer Gesamtheit ist der Endzweck des sittlich Guten, sondern die Höherentwicklung des menschlichen Typus in den höchsten Individuen der Art über die allgemeine Stufe hinaus. Dieser Fundamentalsatz ist, wie gesagt, eine jener „Urtatsachen“, deren Annahme oder Verwerfung lediglich von dem persönlichen Geschmack und den persönlichen Neigungen entschieden wird, die daher von Einwänden, welche ganz andere „Urtatsachen“ zur Voraussetzung haben, in keiner Weise getroffen werden können. Aber die Tatsache an und für sich, dass dieser Fundamentalsatz durch kein äußeres Kriterium geprüft werden kann, — diese Tatsache allein nimmt dem Philosophen die Möglichkeit, in einer greifbaren und allgemein gültigen Form die Beschaffenheit des ersehnten höheren Typus zu präzisieren. Denn da nicht etwa die von ihm ausgehenden Wirkungen auf andere, sondern seine Existenz an und für sich den Endzweck bildet, so fehlt uns jedweder Maßstab, um jene menschlichen Eigenschaften zu bestimmen, deren Entfaltung als Zeichen der Erhöhung des Typus gelten darf, und sie von denen zu trennen, die die Kennzeichen der Minderwertigkeit und der Rückbildung sind; und so wird auch diese Unterscheidung, ebenso wie jener Fundamentalsatz selbst, von unserem ästhetischen Geschmack und unseren sittlichen Neigungen abhängig bleiben. Nietzsche selbst allerdings empfindet eine besondere Verehrung vor der körperlichen Kraft und der äußeren Schönheit und schwärmt sehnsuchtsvoll von der „blonden Bestie“, die, von Kraft und Schönheit strotzend, alles beherrschend und alles ihrem Willen unterwerfend, „nach Beute und Sieg lüstern schweift“. Aber es liegt auf der Hand, dass diese Vorstellung vom Übermenschen sich nicht mit unbedingter Konsequenz aus dem Grundprinzip ergibt. Hier tritt uns der Philosoph nicht mehr als Mensch, sondern als Arier entgegen, der eine besondere Hinneigung zu der körperlichen Kraft und Schönheit empfindet und die Vorstellung von seinem Ideal seinem persönlichen Geschmacke anpasst. Wir sind daher zur Annahme berechtigt, dass, wenn derselbe Nietzsche einen jüdischen Geschmack gehabt hätte, er auch dann das Kriterium für die moralischen Werturteile geändert und den Übermenschen als den absoluten Endzweck hingestellt haben könnte. Aber die charakteristischen Züge des Übermenschen wären dann gänzlich verschieden von den bisherigen ausgefallen, nämlich Durchsetzung der sittlichen Kraft, Zurückdrängung der tierischen Triebe, Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit in Tat und Gedanken und ununterbrochener Kampf gegen Unwahrheit und Ungerechtigkeit, kurz, jenes sittliche Ideal, das uns das Judentum ins Herz gepflanzt hat. Wer kann uns denn den Beweis erbringen, dass die Änderung des Kriteriums notwendig auch eine Änderung des jüdischen Geschmackes und seine Unterdrückung durch den arischen bedingt? dass nicht die sittliche Stärke und die innere Schönheit den Menschen zum Übermenschen machen, sondern einzig und allein die körperliche Kraft und die äußere Schönheit der „blonden Bestie“?

Nun braucht den Kundigen nicht erst gesagt zu werden, dass ein jüdischer Nietzscheanismus in dem angeführten Sinne nicht erst geschaffen werden muss, dass er vielmehr schon seit uralten Zeiten fix und fertig vor uns steht. Nietzsche, der Deutsche, mag zu entschuldigen sein, wenn er den Geist des Judentums verkannte und dasselbe mit einer andern Lehre verwechselte, die aus ihm hervorging, aber bald mit ihm auseinander ging. Seine jüdischen Schüler jedoch wären verpflichtet, zu wissen, dass die Lehre des Judentums sich niemals auf den Grundsatz des Mitleids beschränkte, dass sie i h r e n Übermenschen keineswegs als Anhängsel des großen Haufens betrachtete, dessen Wohlfahrt zu mehren er in erster Reihe berufen wäre. Es ist bekannt, welcher Rang dem „Gerechten“ in unserer Moralliteratur, von dem Talmud und den Midraschim bis auf das Schrifttum des Chassidismus herab, zugeteilt wird, wie oft betont wird, dass nicht er für andere geschaffen, sondern, wie ein sehr charakteristischer Ausspruch lautet, „die ganze Welt lediglich für den Gerechten geschaffen sei“, dass er Selbstzweck ist. Sentenzen der genannten Art finden sich bekanntlich sehr häufig in unserer Literatur, und sie blieben nicht etwa die Anschauungen Vereinzelter, Gedankensplitter von Philosophen, sondern drangen ins Volk und erhielten die Geltung von allgemein anerkannten ethischen Prinzipien.

Ja noch mehr. Wenn wir etwas tiefer dringen, finden wir denselben Gedanken in erweiterter Fassung auch in dem Kern des nationalen Judentums wieder.

Nietzsche selbst beklagt sich in seiner letzten Schrift (dem Antichristen“) über die bisherige Erziehung, dass sie bis jetzt nicht von dem Ziele, Übermenschen hervorzubringen, geleitet war. Wenn nun ein solcher dennoch in Erscheinung trat, so war es bloß „als Glücksfall, niemals aber als gewollt“ (3). Und in der Tat, so leicht es auch sein mag, die Gestalt des Übermenschen in poesiereichen und phantasieerhitzenden Farben zu schildern, so unbedingt notwendig ist es, dass, damit dessen Vorkommen kein Glücksfall, sondern eine reguläre Erscheinung werde, die Lebensbedingungen, in denen er sich befindet, eine bestimmte Disposition dafür haben. Der trockene Felsen gibt kein Wasser, und der Boden der Wüste bringt keine Früchte hervor. Schließlich bleibt der Mensch unter allen Umständen ein gesellschaftliches Wesen, und selbst das Wesen des Übermenschen bleibt gesellschaftlich und kann sich nicht gänzlich von der sittlichen Atmosphäre loslösen, in der er aufwuchs und sich entwickelte. Wenn wir nun anerkennen, dass der letzte Endzweck der Übermensch ist, so müssen wir auch gleichzeitig anerkennen, dass einen wesentlichen Teil dieses Endzwecks das Übervolk bilden muss: dass irgendwo in der Welt ein Volk existiere, dessen Geistesanlagen es in höherem Maße als die übrigen Völker für eine sittliche Entwicklung prädisponiert machen und dessen ganze Lebensführung von einer hohen, über den gewöhnlichen Durchschnittstypus hinausragenden Ethik durchweg bestimmt werde, so dass dieses Volk den fruchtbaren Boden bilde, der von vornherein besonders günstige Wachstumsbedingungen für den Übermenschen besitzt.

Dieser Gedanke entrollt vor unseren Augen ein weites Panorama, innerhalb dessen das Judentum in einem neuen, erhabener Lichte erscheint, und in dessen Gesichtskreis viele Mängel, welche die anderen Völker an uns auszusetzen haben, und welche die jüdischen Apologeten abzuleugnen oder zu entschuldigen suchen, die Eigenschaft besonderer Vorzüge gewinnen, die dem Judentum zum Ruhme gereichen, und die weder der Ableugnung noch der Entschuldigung bedürfen.

Fast allgemein wird die moralische Genialität des jüdischen Volkes anerkannt und dessen Überlegenheit über die anderen Völker auf diesem Gebiete zugestanden (4). Es bleibt sich gleich, auf welchem Wege es zu dieser Überlegenheit gelangte, und unter welchen Umständen diese Fähigkeit in ihm zur Ausbildung kam. Jedenfalls sehen wir, dass schon in alter Zeit das Volk diese Selbsterkenntnis gewonnen hat und sich dieses seines Vorrangs über die umgebenden Völker bewusst geworden ist Diese Erkenntnis kleidete sich — entsprechend dem Geiste jener Zeiten — in den religiösen Glauben, dass es Gott auserwählt habe, „um es über die anderen Völker zu setzen“, nicht, als sei es zur Weltherrschaft berufen, „denn es ist ja das geringste unter allen Völkern“, sondern zur sittlichen Vervollkommnung, „dass es ihm sei ein Volk des Eigentums .. ., und dass es alle seine Gebote befolge“ (5), dass es in sich in jeder Generation den höchsten Moraltypus verkörpere, dass es immerdar das Joch der härtesten sittlichen Pflichten auf dem Nacken trage, nicht etwa in der Absicht, der übrigen Menschheit irgendwie Nutzen oder Nachteil zu bringen, sondern einzig und allein, damit dieser höhere Typus zur Existenz gelange (6). Dieses Bewusstsein seiner ethischen „Auserwähltheit“ trug das Volk alle Generationen hindurch in seinem Herzen und schöpfte in ihm Trost für alle seine Leiden. Es war — von wenigen Ausnahmen abgesehen — niemals bestrebt, durch Assimilierung fremder Volkselemente an Ausdehnung zu gewinnen, nicht, weil das Judentum engherzig ist, wie die Gegner behaupten, oder weil es besonders eines der hauptsächlichsten Kennzeichen des höheren Typus darin besteht: „nie daran denken, unsere Pflichten zu Pflichten für jedermann herabzusetzen; die eigene Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht teilen wollen“ (7). Es muss in der Tat als einzigartige Erscheinung anerkannt werden, dass das Judentum lediglich dadurch seine Bekenner vor den übrigen Menschen „ausgezeichnet“ hat, dass es jenen nur hohe und schwere Pflichten auferlegte, während es diesen das Joch ungemein erleichterte und ihnen den Anteil am zukünftigen Leben zusicherte, bloß als Äquivalent für die Erfüllung der fundamentalsten Moralpflichten (der „sieben noachidischen Gebote“). Erst mit dem 19. Jahrhundert, nachdem die französische Revolution das Panier der Gleichheit und Brüderlichkeit unter allen Menschen erhoben und das Wohl der Allgemeinheit als das allerhöchste ethische Ideal proklamiert hatte, erst jetzt begannen die Vertreter des Judentums sich der Vorstellung von der Auserwähltheit des jüdischen Volkes in ihrer alten Bedeutung zu schämen, da diese Vorstellung mit dem Gedanken der vollkommenen Gleichheit und dem Streben nach dem Wohl der Allgemeinheit im Widerspruch stand. Um nun das Judentum dem neuen Zeitgeiste anzupassen, erfanden sie die bekannte Lehre von der „Mission Israels unter den Nationen“, d. h., sie brachten den Gedanken der nationalen Auserwähltheit mit dem Ideal der allgemeinmenschlichen Gleichheit dadurch in Einklang, dass sie jene als Mittel zu dieser erklärten. Israel ist zwar das auserwählte Volk. Aber wozu ist es auserwählt? Um Glück und Brüderlichkeit unter allen Menschen zu stiften, indem es sie den rechten Lebenswandel lehrt, gemäß der göttlichen Lehre, die ihm zu diesem Zweck offenbart wurde. Nun ist es kaum noch notwendig, die so oft schon vorgebrachten Argumente gegen die Zulässigkeit dieses Ausgleiches hier nochmals zu wiederholen und nachzuweisen, dass er keinerlei reale Tatsachen zur Grundlage hat und ohne tiefinnigen metaphysischen Glauben nicht aufrecht zu halten ist. Jedenfalls aber erblickte das Volk in seiner Gesamtheit seine „Mission“ nur in der Erfüllung seiner Pflichten an und für sich und betrachtete seine Auserwähltheit als Endzweck alles Übrigen, nicht aber als Mittel zur Beglückung der Menschheit. Zwar sprachen die Propheten die Hoffnung aus, dass das Judentum auf den ethischen Zustand auch der übrigen Völker günstig einwirken werde. Aber sie dachten sich diesen Erfolg als ein Resultat, das sich von selbst aus dem Vorhandensein des höheren Moraltypus innerhalb des jüdischen Volkes ergeben wird, nicht aber, dass die Existenz dies jüdischen Volkes nicht Selbstzweck sei, sondern lediglich dem Streben nach der Herbeiführung jenes Erfolges zu dienen habe. Die Völker sind es, die da rufen: „Wohlan, lasset uns hinaufziehen den Berg des Herrn, dass er uns lehre seine Wege, dass wir wandeln in seinen Pfaden!“ (8) — nicht etwa, dass die Juden riefen: „Wohlan, lasset uns hinausziehen zu den Völkern, dass wir sie lehren die Wege des Herrn, dass sie wandeln in seinen Pfaden!“

Dieser Grundgedanke lässt sich aber noch vertiefen und zu einem ganzen System erweitern. Denn auch die tiefe Tragik, die sich in unserm modernen Geistesleben offenbart, ist vielleicht nichts weiter als die Folge des innern Widerspruches zwischen der Auserwähltheit in ihrer potentiellen und ihrer realen Form. Während nämlich einerseits der Glaube an unsere sittliche Veranlagung, durch die wir vor den anderen Völkern die „Auserwählten“ sind, und an unsere nationale Mission, in der Welt der Ethik das „Übervolk“ zu sein, in unserm Innern — wenn auch nur in Form eines instinktiven Gefühls — noch immer lebendig ist, nehmen wir andererseits unwillkürlich wahr, dass seit der Zeit, da wir das Ghetto verließen und uns am Kulturleben der anderen Völker beteiligten, dieser Vorrang nur noch potentiell verbanden ist. Real sind wir aber auch in sittlicher Beziehung den anderen Völkern nicht mehr „über“, und so können wir unsere Mission nicht in Erfüllung bringen, weil wir nicht die Möglichkeit besitzen, unserm Leben eine Gestalt zu geben, die unserer Eigenart konform wäre und nicht von einer fremden Meinung und einem fremden Willen diktiert würde. Wer weiß also, ob nicht unter jenen neuen Zionisten, die mit ihrem Munde für die wirtschaftliche und politische Motivierung des Zionismus eintreten und die nationale „Auserwähltheit“ wie die ethische „Mission“ ungläubig belächeln, — ob es nicht auch unter ihnen viele gibt, die im Innersten ihres Herzens zu der Zionsidee nur durch den erwähnten Widerspruch geführt wurden, der sie unbewusst treibt, ihrem Volke eine feste Stätte zu suchen, damit es noch einmal die Möglichkeit erhält, seine moralischen Anlagen zu entfalten und seine „Mission“ als ein ethisches „Übervolk“ in Erfüllung zu bringen.

Doch das gehört nicht mehr hierher. Ich hatte hier lediglich die Absicht, nachzuweisen, dass die Lehre von der Umwertung aller Werte durchaus geeignet ist, mit der Lehre des Judentums eine tiefe und innige Verbindung einzugehen und dessen Gedankenschatz in erwünschter und seiner Eigenart entsprechender Weise durch „neue, aber nicht fremde Ideen“ zu bereichern, oder, eigentlich gesagt, nicht einmal neue, denn schon vor acht Jahrhunderten lebte auch im jüdischen Volke ein Dichterphilosoph, Jehuda Halevi, der Wesen und Wert der Idee der Auserwähltheit erkannte und sie zum Grundstein seines Systems machte in einer dem obigen ähnlichen Weise, wenn auch in anderem Stile (9).

Was wurde nun aus diesem Gedanken unter der Hand unserer jungen Schriftsteller?

Seine fundamentale Neuheit und Originalität wurde von ihnen beiseite gelassen, und sie entnahmen ihm bloß das „neue Wort“ und das arische Element, welches ihm das persönliche Empfinden seines Schöpfers beigesellt hatte. Und mit diesem wollen sie ihr Volk beglücken und es in seinem Greisenalter umgestalten! Nicht die Befreiung des höheren Typus von seiner Gebundenheit an das Wohl des großen Haufens wurde ihnen zur Hauptsache, sondern die Befreiung des materiellen Lebens von seiner Gebundenheit an ein geistiges Prinzip, das ihm Schranken auferlegt. Eine derartige Anschauung kann aber niemals mit dem Judentum vereinigt werden. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn sie einen „Riss“ in ihrer Seele empfinden und nun zu lärmen beginnen: neue Werte! neue Tafeln! An Stelle der „Schrift“ komme das „Schwert“, an Stelle der Propheten — die blonde Bestie! Besonders nahm dieser Lärm im letzten Jahre überhand, und wir hören tagtäglich den Ruf, dass unsere ganze nationale Welt bis auf den Grund zertrümmert werden müsse, um alles von Grund auf neu zu bauen. Aber man sagt uns nicht, wie man mit einem Streiche die nationale Grundlage eines Jahrtausende alten Volkes in Trümmer schlägt, und wie man einem Volke eine neue Lebensordnung schafft, nachdem man den innersten Kern seines Wesens vernichtet und seinem historischen Lebensgeist den Garaus gemacht hat.

Wir können es begreifen — und auch dulden —, wenn einzelne Glieder des jüdischen Volkes, hingerissen von dem Ideal des Übermenschen in seinem Nietzscheschen Sinne und begeistert von der Predigt Zarathustras, die Propheten Israels verleugnen und ihr individuelles Leben nach diesen „neuen Tafeln“ einzurichten suchen. Aber wir können es nicht begreifen — geschweige denn dulden —, wenn wir die seltsame Erscheinung beobachten, dass diese Stürmer die neue Lehre dem jüdischen Volke aufoktroyieren wollen, um durch sie das Leben der gesamten Nation umzuwandeln, und in dem naiven Glauben befangen sind, dass dieses Volk, dessen ganzer Lebensinhalt fast seit dem Moment, da es auf den Schauplatz der Geschichte trat, gewissermaßen einen ununterbrochenen heftigen Protest seitens der geistigen Stärke gegen die Kraft der Faust und des Schwertes bildet; dessen ganzer Lebensmut seit seinen Uranfängen bis auf die Gegenwart herab lediglich aus dem tiefen Glauben an seine sittliche „Mission“, an seine Pflicht und seine Fähigkeit, dem Ideal der sittlichen Vollkommenheit näher zu kommen, als die übrigen Völker, hervorquillt; — dass dieses Volk imstande sei, nach einer Geschichte von Jahrtausenden mit einem Schlage seine Werte umzuwerten und auf seinen nationalen Vorrang in der Welt der Sittlichkeit zu verzichten, um in der Welt des Schwertes das fünfte Rad am Wagen zu sein; dass es sein großes Heiligtum für den Gott der Gerechtigkeit und Heiligkeit in Trümmer schlagen werde, um an seiner Stelle ein erbärmliches und winziges Altärchen (denn mehr vermag es ja nicht!) dem Götzen der körperlichen Stärke zu errichten.

Es muss hier noch bemerkt werden, dass diese Schriftsteller, die der „Schrift“ und allem, was drum und dran ist, d. h., den von ihr aufgestellten, die Entfesselung des Individualwillens hemmenden Gesetzen den Krieg erklären und des „widerspenstigen“ und „mürrischen“ Geschlechts der Zeit der Wüstenwanderung, das sich weigerte, den „Willen zur Macht“ abstrakten Gesetzen zu unterordnen und die schmackhaften Fleischtöpfe mit ägyptischen Zwiebeln für das harte Joch moralischer Pflichten einzutauschen, in Sehnsucht gedenken, — dass diese Schriftsteller in dieser Beziehung viel weiter gehen, als ihr Meister selber. Nietzsche selbst, trotz seiner besonderen Vorliebe für die Kraft der Faust und die brutale Wirklichkeit des realen Lebens, hat dennoch die Gerechtigkeit für die höchste Vollkommenheit erklärt, die überhaupt auf Erden erreichbar ist. Ja, es fällt ihm sogar schwer, zu glauben, dass es in der Kraft eines Menschen, selbst eines Übermenschen liegen kann, das Gefühl der Feindschaft und der Rache zu überwinden und gleichmäßig gegen Freund und Feind absolut gerecht zu sein. Er findet es daher sehr vorteilhaft, dass die Gerechtigkeit sich in feste, abstrakte Gesetze kleidet, die dem Menschen die Möglichkeit gewähren, die Gerechtigkeit seiner Handlungen am Maßstab des unpersönlichen Gesetzes zu messen, ohne dass er in demselben Augenblick sich den lebendigen Feind vergegenwärtigen müsste, der seine Empfindungen in Aufregung versetzt und seinen Blick durch subjektive Neigungen trübt (10).

An dieser Stelle erinnere ich mich, dass die genannten Schriftsteller speziell meine Wenigkeit öfters einer unverdienten Ehre würdigen und mir zu Danke verpflichtet zu sein vorgeben, weil auch ich in einem meiner Aufsätze Klage darüber führte, dass wir ein „Volk der Schrift“ sind (11). Nur dass ich mich nach ihrer Ansicht zu diesem meinen „Widerspruch“ in Widerspruch setzte, indem ich gleichzeitig für die Bedeutung der „nationalen Güter“ und ihre natürliche Entwicklung eintrat und nicht, wie sie, die Forderung stellte, die „Schrift“ mit Stumpf und Stiel auszurotten. Aber auch hier stürzten sie sich lediglich auf das „neue Wort“ und klammerten sich daran, ohne in dessen innern Sinn einzudringen. Nicht die Existenz der Schrift an und für sich beklagte ich, sondern deren Versteinerung: dass ihre Entwicklung unterbrochen wurde, dass das moralische Gefühl des menschlichen Herzens nicht mehr in ihr waltet, wie es früher im Judentum der Fall war, als noch die „Gottesstimme in der Menschenbrust“ unter der direkten Einwirkung der Lebens- und Naturerscheinungen stand und infolgedessen die „Schrift“ gezwungen war, ihren Inhalt in unmerklicher Weise nach und nach umzugestalten und mit dem sittlichen Bewusstsein des Volkes in Einklang zu bringen. Nicht also der Vorherrschaft des „Schwertes“ über die „Schrift“ sprach ich das Wort, sondern ich trat für den Vorrang der sittlichen Kraft ein, die seit unvordenklichen Zeiten im Bewusstsein unseres Volkes wurzelt und die allein die „Schrift“ erzeugte und allein den Geist der „Schrift“ in allen Epochen gemäß den Bedürfnissen derselben regenerierte. Erst im Laufe der Diaspora-Jahrhunderte, unter dem Druck der Verfolgungen, stumpfte sich das lebendige Empfinden des Herzens ab und das moralische Gefühl wurde in seiner Entwicklung gewissermaßen unterbunden. Es war infolgedessen nicht mehr imstande, den Inhalt der Schrift zu modifizieren, und so verfiel das gesamte Leben des Volkes gänzlich der Herrschaft toter Buchstaben. In Übereinstimmung — und nicht im Widerspruch damit — behauptete ich in jenem Aufsatz und behaupte noch immer, dass es gar nicht der Zertrümmerung und der mit lärmender Emphase proklamierten Umwertung aller Werte bedarf, sondern allein der Zuführung eines „Stromes neuen Lebens“, der sich als „lebendiger Herzensdrang nach nationaler Einheit“, als „ein intensives Streben nach der nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes, nach einer freien, doch seiner Eigenart entsprechenden Entwicklung auf allgemein menschlichen Grundlagen“ kundgeben würde (12). Dieser frische Strom soll das Mittel zur Wiederbelebung der Nation sein und ihr wieder die Fähigkeit zur Entfaltung ihrer sittlichen Kräfte gewähren. Dann wird von selbst auch die Schrift in ihrer Entwicklung fortfahren, als Ergebnis der Forderungen des Volksgeistes und seiner wahrhaften Bedürfnisse, nicht aber infolge des lärmenden Treibens einiger phantasieliebender Jünglinge, die sich in fremden Weinbergen an Herlingen gütlich getan, und nun möchten, dass das ganze Volk dafür büße.

Überhaupt könnte es diesen Schriftstellern nicht schaden, wenn sie sich, bevor sie ihre „niederreißende“ und „aufbauende“ Tätigkeit beginnen, etwas mehr in das Wesen der Geschichte und den Gang ihrer Entwicklung vertiefen würden. Es ist wahr, dass Nietzsche selbst die volle Schale seines Zornes auf die Geschichtsforscher ausgoss, und Darwin und Spencer, die Schöpfer der Evolutionstheorie, für „mittelmäßige Engländer“ erklärte. Aber dies hinderte ihn nicht, selber historische Hypothesen aufzustellen, um den Gang der ethischen Entwicklung zu begreifen, und der Darwinschein Theorie den Grundstein zu seinem neuen System zu entnehmen. Diese Schriftsteller scheinen die Vorstellung zu haben, dass die Moral eines jeden Volkes etwas Äußerliches sei, welches in der Hauptsache mit Absicht und vollem Bewusstsein von einigen Individuen zu einem bestimmten Zweck „gemacht“ würde. Um nun diese Moral umzustoßen, zu zertrümmern und durch eine andere zu ersetzen, ist nach ihrem Dafürhalten nichts weiter nötig, als dass einige andere Individuen auftreten und laut und lärmend die Umwertung der alten Werte verlangen sollen. Eine derartige Anschauung war in früheren Zeiten, im Zeitalter Rousseaus und seiner Nachfolger, noch annehmbar, aber die neuen Schriftsteller unserer Generation, die sich selbst zu den Schriftstellern der „Zukunft“ zählen, sollten doch wissen, dass man keinem Volke eine neue Moral mit Händen schafft, ebenso wenig, wie man ihm eine neue Sprache fabriziert; dass die Gesetze der Moral, in derselben Weise wie die der Sprache, die Frucht des Volksgeistes sind, die im Laufe der Zeit nach und nach langsam heranreift als Ergebnis zahlreicher und verschiedenartiger, sowohl, dauernder wie temporärer Ursachen, nicht aber nach einem bestimmten und im voraus festgesetzten Plane. Deswegen sind sowohl die Moralgesetze wie die Sprachgesetze voll logischer Widerspräche in Form von Regeln und Ausnahmen, und es liegt in keines Menschen Macht, sie entsprechend seinem persönlichen Wunsch und Geschmack niederzureißen und aufzubauen. Sie entwickeln und wandeln sich vielmehr von selbst, zusammen mit der allgemeinen Lage des Volkes, mit dem Zustand seiner Bedürfnisse und seines Geisteslebens. Und wenn die Sprache des Volapük als künstliches und notgedrungenes Verständigungsmittel noch einen gewissen Wert beanspruchen darf, so ist ein Volapük der Moral eine seltsame Erfindung, die weder einem Bedürfnis noch irgendeinem Vorteil entspricht, sondern bloß eine zwecklose Zeitverschwendung bedeutet und lediglich dazu beiträgt, einigen jugendlichen, nach aufregenden Neuigkeiten lüsternen Heißspornen dem Kopf zu verdrehen. Der Erfinder des Volapük, der seine Sprache bei allen Völkern eingeführt zu sehen wünschte, hielt es für notwendig, aus seinem neuen Alphabet den Buchstaben R zu streichen, weil ihn die Chinesen nicht aussprechen können. Dagegen die Erfinder unseres moralischen Volapük kümmern sich nicht im geringsten um die Leistungsfähigkeit ihres Volkes, für welches sie „bauen“ wollen, sondern suchen es gewaltsam mit einer neuen Lehre zu beglücken, die durch und durch seinem ganzen Wesen widerspricht, und halten es nicht einmal für nötig, sich vorerst zu erkundigen und zu überzeugen, ob es überhaupt diese neue Lehre annehmen kann.

„Es ist viel erreicht, wenn der großen Mengen jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass sie nicht an alles rühren dürfe; dass es heilige Erlebnisse gibt, vor denen sie die Schuhe auszuziehen und die unsaubere Hand fernzuhalten hat … Umgekehrt wirkt an den so genannten Gebildeten, den Gläubigen der `modernen Ideen´, vielleicht nichts so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an alles gerührt, geleckt, getastet wird.“

Hart und unhöflich klingen die eben angeführten Worte. Aber ich brauche unsere Nietzscheaner deswegen nicht um Entschuldigung zu bitten. Sie stammen nicht von mir, sondern aus der Feder ihres Meisters Nietzsche war es, der dieses Urteil fällte über diejenigen, die ohne den „Instinkt der Ehrfurcht“ herantreten an — die jüdische Schrift, an die Bibel! „Solche Bücher“ — fügt er ferner hinzu — „solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von außen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von Dauer zu gewinnen, welche nötig sind, sie auszuschöpfen und auszuraten“ (13).

Dies sind die Worte des Meisters, und wenn wir darauf die Reden seiner jüdischen Jünger vernehmen, dann drängt sich uns unwillkürlich der Gedanke auf, ob es denn nicht ratsamer wäre, wenn unsere Jugend sich selbst in den „fremden Garten“ begäbe und die verderblichen Lehren aus ihrem Urquell schöpfte, als dass sie dieselben durch das Medium der jüdischen Sturm- und Drangliteratur empfinge, die in dieser seltsamen Weise zwischen Judentum und Menschentum „Frieden“ zu stiften vermeint. . . .

in: Achad Ha’am: Am Scheideweg, Berlin 1913, Band I, S. 252 – 271

Anmerkungen:
(1) In den Nietzeschen Schriften selbst ist bekanntlich das Verständnis der Gedanken durch den in Übertreibungen und hochpoetischen Ergüssen sich bewegenden Stil ungemein erschwert, und es lassen sich sogar in einzelnen Punkten direkte Widersprüche nachweisen. Die äußerst schwierige Aufgabe, aus dem wirren Material ein geschlossenes und abgerundetes System herzustellen, hat, soweit es überhaupt angeht, der scharfsinnige Georg Simmel in seinem Aufsatz „Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette“ (in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Band 107 (1806), S. 202 fg.) vortrefflich gelöst.
(2) Al Parashat Derachim II, S. 19
(3) Cf. Alois Riehl, Friedrich Nietzsche (Stuttgart 1897), p. 125
(4) Auch Nietzsche gibt dies an mehreren Stellen seiner Schriften zu. Vgl. zum Beispiel „Zur Genealogie der Moral (Leipzig 1894), p. 51
(5) Deuteronomium 26, 19. 7, 7. 26, 18.
(6) Nietzsche sagt an einer Stelle, dass selbst ganze Geschlechter und Stämme unter besonderen Umständen die Stufe des Übermenschen erreichen können. Cf. Riel, ibidem (vgl. p. 75)
(7) Jenseits von Gut und Böse (Leipzig 1894), p. 264
(8) Jesaia 2,3. Micha 4,2.
(9) Vgl. das Buch Kusari (das religionsphilosophische Werk Jehuda Halevis) irrt ersten Abschnitt, in welchem dargelegt wird, dass das „Element des Göttlichen“ sich immer nur in einzelnen hervorragenden, für die Aufnahme desselben besonders disponierten Individuen verkörpert, deren Vorrang auf ihre auserlesensten und dieses Vorzuges würdigsten Nachkommen übergeht. Die diese Auszeichnung genießen, sind die Auslese, der „Kern“ Die übrigen — man möchte sagen die „Vielzuvielen“ — sind bloß die „Schale“, der „Umschweif“, wie Nietzsche sagen würde. Die zwölf Söhne Jakobs waren infolge besonderer Veranlagung sämtlich jenes Vorranges teilhaftig, der sich deswegen in besonders ausgedehntem Male auf das von ihnen abstammende Volk Israel übertrug. Die Juden sind daher das auserwählte Volk. Als solches sind sie das Herz unter den Nationen, welches rascher und feiner empfindet, aber auch in viel höherem Maße Schmerzen und Leiden ausgesetzt ist.
(10) Zur Genealogie der Moral, S. 82-84
(11) S. den Aufsatz „Die Lehre des Herzens“, S. 96
(12) Ibid. S. 105
(13) Jenseits von Gut und Böse. S. 254

Der vorliegende Aufsatz erschien zuerst in der vom Verfasser redigierten Monatsrevue „Haschiloach“ (Band IV, 1898, Heft 2) als Entgegnung auf die nietzscheanischen Tendenzen, die sich seit einigen Jahren in der neuhebräischen Literatur geltend machen und die hauptsächlich an den Namen Dr. M. J. Berdyczewsikis anknüpfen. — Die Übersetzung wurde zuerst in „Ost und West“, Jahrgang 1902, S. 145 ff. unter der Überschrift „Nietzscheanismus und Judentum“ veröffentlicht.