Nicht dies ist der Weg!

Von Achad haAm

Teil I

„Nach vielen Jahrhunderten der Armut und Niedrigkeit von außen und des blinden Glaubens und der Hoffnung auf die Gnade des Himmels von innen, trat in unserm Zeitalter ein neuer folgenschwerer Gedanke in Erscheinung: den Glauben und die Hoffnung vom Himmel herunterzuholen und sie in lebendige, reale Kräfte umzusetzen; auf die Erde die Hoffnung und auf das Volk den Glauben zu gründen . . .

Historische Gedanken dieser Art tauchen urplötzlich, wie von selbst auf, wenn sie ein Zeitbedürfnis sind. Sie ergreifen sofort die Gemüter, die für sie besonders empfänglich sind, und breiten sich von da über das ganze Volk aus, gleich dem Funken, der zuerst die entzündbaren Stoffe erfasst und sich dann über Holz und Stein fortsetzt. Auch unser Gedanke entsprang auf dieselbe Weise, ohne dass wir seinen Urheber angeben könnten, und fand sofort Eingang in die Kreise, die „in der Mitte“ standen, d. h. in denen einerseits der Glaube gelockert und das geduldige Harren auf ein Eingreifen Gottes erschöpft war, die aber andererseits sich ihren Zusammenhang mit ihrem Volke bewahrt und den Anspruch auf seine Sonderexistenz noch nicht aufgegeben hatten. Diese ersten „Nationaljuden“ entfalteten das Banner ihres Volkes und zogen für dasselbe mit Mut und Kraft in den Kampf. Die Worte, die ihnen aus dem Herzen kamen, drangen auch allmählich in die Herzen des übrigen Volkes, und von „rechts“ und „links“ gesellten sich ihnen täglich neue Scharen zu, so dass die Erwartung nahe lag, dass ihre Zahl allmählich auf Tausende und Abertausende steigen würde.

Doch inzwischen war ein tief greifendes Ereignis eingetreten: der Gedanke hatte die Form der „Kolonisation Palästinas“ angenommen und war zur Tat geworden. Ob dieses Wunders staunten in gleicher Weise Freunde wie Feinde. Die Freunde erhoben ein Siegesgeschrei und riefen entzückt: „Ist es denn nicht eine einzigartige Erscheinung, dass ein Gedanke nach so kurzem Dasein bereits imstande ist, sich in der Welt der Wirklichkeit Bahn zu brechen? Beweist dies nicht schlagend, dass es kein Traum war, den wir träumten?“ — Die Feinde aber, die den Gedanken bis dahin geschmäht und verspottet und ihn für eine Utopie und ein Hirngespinst überspannter Phantasten erklärt hatten, begannen jetzt schüchtern einzugestehen, dass er doch gewisse Lebensäußerungen verrät und eine ernste Würdigung verdient.

Von diesem Augenblick an begann für unsern Gedanken eine neue Epoche. Wenn wir seine Geschicke von da an bis auf den heutigen Tag überblicken, gewahren wir wieder eine seltsame und merkwürdige Erscheinung. Während er vorher sieghaft vordrang, und sich immer mehr in allen Schichten des Volkes ausbreitete, so dass seine Anhänger mit freudigem Herzen in die Zukunft blickten und von den glänzendsten Hoffnungen beseelt waren, konnte er jetzt, nach seinem Siege, keine Herzen mehr gewinnen, und selbst seine erklärten Anhänger schienen matt geworden zu sein, und nichts mehr zu wünschen als jenen wenigen, unansehnlichen, bereits gegründeten Kolonien, — dem Rest ihrer stolzen Träume von ehedem — zu einer gesicherten Existenz zu verhelfen. Allein auch dieser bescheidene Wunsch geht ihnen nicht in Erfüllung, und die Streitigkeiten und Zwistigkeiten und die hässlichen Vorfälle, die unausgesetzt die Öffentlichkeit beschäftigen, — alles im Namen und zu Ehren des „erhabenen Gedankens“ — rauben ihnen die Seelenruhe und verursachen ihnen neue Sorgen Tag für Tag . . . Und wer weiß, was das Ende vom Liede sein wird?

Wenn, nach dem Ausspruch eines bekannten Gelehrten, das Herz schmerzlich bewegt wird, da es einen Glauben an Altersschwäche sterben sieht, aus dem die vergangenen Geschlechter Trost geschöpft hatten, – um wie viel heftiger muss der Schmerz sein, wenn ein jugendkräftiger Gedanke am Anfang seiner Entwicklung scheitert, die Hoffnung des gegenwärtigen und die Rettung des kommenden Geschlechts! Wenn wir aber bedenken, dass es derselbe Gedanke ist, der vor unseren Augen unter vielen Völkern so Wunderbares vollbringt, dann erhebt sich vor uns unwillkürlich die alte Frage: worin sind wir von jeder Nation und Nationalität unterschieden? Oder sollten jene unter uns Recht haben, welche behaupten, dass wir längst aufgehört haben, ein Volk zu sein und nur durch die Bande der Religion verbunden sind? Aber die dieses behaupten, können doch nur von sich selbst aussagen, dass sie mit uns tatsächlich nichts mehr gemein haben als die Einheit der Religion und den Hass unserer Feinde. Wir aber, die wir unser jüdisches Volkstum in unserm Herzen empfinden, wir können nur über diejenigen lächeln, die mit Hilfe von Argumenten aus der Außenwelt etwas ableugnen wollen, was wir in unserer Innenwelt unmittelbar empfinden. Warum also, fragen wir, konnte nicht der Regenerationsgedanke auch bei uns Platz greifen und sich weiter entwickeln, wie wir gehofft hatten?

Auf diese Frage geben uns unsere Publizisten zwei verschiedene Antworten. Die einen schieben die Schuld auf die „Chaluka“ und ihre theologischen und journalistischen Vorkämpfer; die anderen wälzen sie auf den „bekannten Wohltäter“ und seine Organe und Dienstbeflissenen in Palästina ab. Beiden gemeinsam ist das Bestreben, die Schuld auf einzelne Personen abzuladen, ohne deren Einmischung nach ihrer Meinung für Israel längst das goldene Zeitalter angebrochen wäre, nur dass sie in der Bezeichnung der Personen, die diese Glücksperiode hintanhalten, auseinander gehen. Indessen können uns solche Antworten nicht befriedigen. Denn wir müssen wieder fragen: Wie können einzelne Privatpersonen, mögen sie sein, wer sie wollen, imstande sein, sich einem ganzen Volke auf seinem Wege hindernd entgegenzustellen? Und was soll man denn von einer „nationalen Belegung“ halten, deren Gelingen von der Barmherzigkeit eines Wohltäters und dem Gebaren seiner Dienstbeflissenen abhängig ist; die nicht einmal gegen die armselige „Chaluka“ aufzukommen vermag, welche mit den letzten Kräften für ihre Existenz kämpft?

Nicht also in vereinzelten Tatsachen, in der Tätigkeit dieser oder jener Person, haben wir die Ursache des Übels zu suchen, sondern wir müssen tiefer greifen, um sie finden zu können. Wenn wir etwas schärfer zusehen, dann werden wir auch, so glaube ich, die wahre Ursache in jenem verfrühten „Siege“ entdecken, der dem Gedanken durch die Schuld seiner Anhänger zuteil geworden ist. Denn indem sie noch vor der Zeit Großes vollbringen wollten, verließen sie die langwierige Bahn der natürlichen Entwicklung und setzten einen neuen zarten Gedanken in die Wirklichkeit um, noch bevor er gereift war, bevor seine Kräfte genügend entwickelt waren. Weil sie die Lösung gewaltsam beschleunigen wollten, darum hat ihr Beginnen keine Basis und ihre Tätigkeit keinen Erfolg.

Dieses Urteil wird zweifellos viele vor den Kopf stoßen. Darum will ich es im Folgenden zu begründen suchen, soweit meine Kraft ausreicht und soweit es die Natur der Sache gestattet.

Jeder Glaube und jede Anschauung, die praktisch verwirklicht werden sollen, müssen sich auf folgende drei Voraussetzungen stützen: 1. Dass die Erreichung eines bestimmten Zweckes ein von uns empfundenes Bedürfnis ist; 2. dass bestimmte Handlungen die Mittel für die Erreichung jenes Zweckes sind; 3. dass diese Handlungen nicht unsere Kräfte übersteigen, und die durch sie verursachte Mühe nicht den Wert des Zweckes für uns aufwiegt. — Die erste Voraussetzung gründet sich auf eine innere Empfindung und bedarf daher keines Beweises. Hingegen basieren die zweite und die dritte Voraussetzung auf der Kenntnis der Daten und Erscheinungen der Außenwelt und bedürfen daher der Zustimmung des Verstandes.

Wenn demnach ein neuer Gedanke, der zu neuen Werken führen soll, in Erscheinung tritt, so kann es wohl geschehen, dass er nur neue Mittel für einen längst ersehnten Zweck ausfindig gemacht hat. Er ist dabei zugleich auch imstande an der Hand triftiger Argumente, sei es theoretischer oder praktischer Natur, den sichern Nachweis zu führen, dass diese Mittel tatsächlich zur Erreichung jenes Zweckes führen und zugleich seinem Werte und unserer Leistungsfähigkeit angemessen sind. Diese Entdeckung fällt einzig und allein in die Sphäre des Verstandes. Daher brauchen die Vorkämpfer jenes Gedankens sich in ihren Argumenten nur an die intelligenten und urteilsfähigen Kreise des Volkes zu wenden; und sobald diese die Berechtigung dieser Entdeckung anerkannt und sie zur Grundlage ihrer praktischen Tätigkeit gemacht haben, dürfen sie ihres Sieges auch in den breiten Volksschichten gewiss sein, die ebenfalls das Gute, das in der neuen Entdeckung liegt, allmählich einsehen müssen. Doch verhält sich die Sache ganz anders, wenn dem Gedanken eine dieser Bedingungen fehlt, d. h. wenn der Zweck, den er unserm praktischen Tun setzt, kein längst ersehnter oder im Verhältnis zu den schwierigen Mitteln ein nicht in genügendem Maße ersehnter ist, oder wenn er nicht durch triftige Argumente den Verstand zwingen kann, die von ihm statuierte Beziehung zwischen den Mitteln und dem Zweck und der für dieselben erforderlichen Kraft und Arbeit als richtig anzuerkennen. In solchem Falle ist nicht der Verstand, sondern das Herz der Mittler zwischen ihm und dem Volke. Denn je mehr in den Herzen die Liebe und die Sehnsucht nach dem Zwecke zunimmt, um so mehr wächst auch nicht nur der Willensimpuls, die Erreichung desselben trotz der großen Mühe anzustreben, sondern nicht minder auch der Glaube des Verstandes an die Möglichkeit einet Erreichung, trotz des Mangels an „triftigen Argumenten“.

Daher wollen die Vertreter eines Gedankens dieser Art am Beginne ihrer Tätigkeit nichts zu tun haben mit den „intelligenten“ Kreisen, für welche die kalte Logik und die kühle Berechnung maßgebend sind; denn von ihnen kann ihnen das Heil nicht kommen. Nur bei denjenigen, die ein empfängliches Herz haben und sich von ihren Gefühlen leiten lassen, — bei diesen pflegen sie vorstellig zu werden und gewöhnlich auch Gehör zu finden. Daher ist es notwendig, dass auch sie, die Vertreter des Gedankens selbst, Menschen von Gefühl seien, die von Natur aus imstande sind, ihr ganzes Seelenleben auf einen einzigen Punkt, einen Gedanken und einen Wunsch, zu konzentrieren, dem sie ihre ganze Zeit und ihre ganze Kraft bis zum letzten Atemzuge widmen. Denn nur eine vollständige, in zielbewusster Tätigkeit sich äußernde Selbstaufopferung ihrerseits, die das Vorhandensein eines unbeschränkten Glaubens an die Wahrheit ihres Gedankens und einer grenzenlosen, Begeisterung für dessen Realisierung in ihrem eigenen Herzen bezeugt, ist das sicherste Mittel, Glauben und Begeisterung auch in den Herzen der anderen zu erwecken, — und nur durch sie, und nicht durch schöne Redensarten, kann der Gedanke im gesamten Volke zu seinem Rechte gelangen.

Lediglich auf diesem Wege, auf dem zuerst die Herzen erobert werden, hat ihr Gedanke, sofern er überhaupt in den Zeitbedürfnissen begründet ist, die Aussicht, sich allmählich auszubreiten und Anhänger zu gewinnen, die ihm mit ganzer Seele ergeben sind. Und wenn auch diese Anhänger, deren Stärke lediglich in ihrem Gefühle besteht, zumeist, trotz ihres guten Willens, außerstande sind, schwierige Unternehmungen, die ein großes Maß von Anstrengung, Einsicht und Erfahrung erfordern, ins Leben zu rufen, so schadet es nichts. Denn im Laufe der Zeit findet der Gedanke, der immer mehr in den breiten Schichten des Volkes Wurzel schlägt und sich in jedes Haus und jede Familie Eingang verschafft, schließlich auch Zutritt in die führenden und maßgebenden Kreise des Volkes, die auch ihrerseits unwillkürlich die Wirkung der neuen Macht, die sie von allen Seiten umringt, zu spüren beginnen. Ihr Widerstand wird immer schwächer; ihr Herz gibt sich schließlich besiegt, und sie stellen sich dann selbst an die Spitze der neuen Bewegung. Dann tritt der Gedanke ans Licht des praktischen Lebens, und mit Macht und Vertrauen, mit Einsicht und Verständnis begeben sich seine Anhänger ans Werk, um ihn in die Wirklichkeit umzusetzen, und leisten manchmal Großes und Wunderbares, trotz der „Intelligenten“ und „Vorsichtigen“, die früher die „Utopisten“ verspottet haben.

Aus der religiösen und geistigen Geschichte der Menschheit ließen sich für das Gesagte viele Belege beibringen, doch müssen wir zu unserm Gegenstand zurückkehren.
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Der Gedanke, von dem wir hier handeln, ist seinem Zwecke nach nicht neu. Allein da seine Mittel schwierig sind, und da er keine „triftigen Argumente“ beibringen kann, die den Verstand zwingen würden, die Wahrheit seiner Feststellungen anzuerkennen, so ist eine Steigerung des Glaubens und Willensimpulses durch die Kraft der Liebe und Sehnsucht nach diesem Zwecke erforderlich. Diese Liebe, d. h. die liebevolle Fürsorge des einzelnen für das Wohlergehen der Gesamtheit, ist zwar unserm Volke nicht fremd. Um jedoch festzustellen, wie weit ihre Fähigkeit ausreicht, den für unsern Gedanken erforderlichen Glauben und Willen zu erzeugen, wollen wir zuerst auf ihre wechselvollen Geschicke in der Vergangenheit und auf ihre Lage in der Gegenwart einen Blick werfen.

In allen Gesetzen und Vorschriften, Segens- und Fluchformeln, die in den fünf Büchern Moses‘ enthalten sind, tritt uns überall nur der eine Zweck entgegen: das Wohlergehen der nationalen Gemeinschaft, während das Glück des einzelnen außer Acht gelassen wird. Jedes jüdische Individuum ist nach dieser Anschauung lediglich ein Glied des jüdischen Volkes, und das Gute, das der Gemeinschaft zuteil wird, ist auch der Lohn für die Leistungen des Individuums. Eine lange Kette zieht sich durch alle Generationen hindurch, von den Zeiten Abrahams, Isaaks und Jakobs bis ans Ende der Tage; das Bündnis, das der Ewige mit den Vätern geschlossen, bewahrt er auch ihren Kindern nach ihnen, und wenn die Väter Schierlinge gegessen haben, müssen die Zähne der Kinder stumpf werden. (1) Denn das Volk bleibt in allen seinen Generationen dasselbe, und die Individuen, die in jeder Generation entstehen und verschwinden, sind wie die Zellen im lebenden Körper, die jeden Tag neu entstehen, ohne im geringsten die gemeinsame Einheitlichkeit des ganzen Körpers anzutasten.

Ob in der Tat das Gefühl der Nationalliebe zu irgendeiner Zeit im gesamten Volke eine so hohe Entwicklung erlangt hat oder aber nur ein sittliches Ideal im Herzen seines hervorragendsten Teiles geblieben ist, lässt sich schwer feststellen. Wohl aber ist es sicher, dass nach der Zerstörung des ersten Tempels, als das jüdische Volk sich plötzlich in einer furchtbaren Situation befand, und die Wohlfahrt der Gesamtheit so zerrüttet war, dass selbst die Besten des Volkes nicht mehr zu hoffen wagten; als die Ältesten Israels vor den Propheten Ezechiel hintraten und sprachen: „wir wollen gleich den Völkern werden, gleich den Geschlechtern der Länder“, (2) „vertrocknet sind unsere Gebeine und vernichtet ist unsere Hoffnung“, (3) — dass diese Zeit es war, in der die Juden besonders zu klagen anfingen über den gerechten Mann, der in seiner Gerechtigkeit zugrunde geht; in der die bekannten Erörterungen über die Theodicee begannen: über die Frage „des Gerechten, dem es schlecht geht“ und „des Bösen, dem es gut geht“, — Erörterungen, die wir im Buche Ezechiel, in Koheleth und in vielen Psalmen finden (nach einigen soll auch das Buch Hiob um diese Zeit entstanden sein) — und in der schließlich viele, denen die gegebenen Antworten nicht genügten, zur Überzeugung gelangten, dass „es eitel sei, Gott zu dienen“, (4) dass die Festhaltung am Judentum ohne Aussicht auf Belohnung zwecklos sei. Fast scheint es, als ob erst dann, da das Wohlergehen der Gesamtheit nicht mehr hinzureißen und zu begeistern vermochte, dem Individuum plötzlich ein Licht aufging, dass es auch außerhalb des Lebens der Gemeinschaft noch ein Sonderleben gibt, welches ihm allein gehört, und dass es auch in diesem einen Anspruch auf Genuss und Glück besitzt, dass wenn es daher gerecht handelt, es auch gerechte Belohnung für sich selbst beanspruchen darf.

Was taten nun die Weisen jener Zeiten? Sie erklärten und lehrten, dass „diese Welt nur die Vorhalle sei für die künftige Welt“, (5) dass das Glück, das der einzelne sucht, ihm zuteil werde erst nach Eintritt in den „Palast“, aber nur unter der Bedingung, dass er sich in der Vorhalle entsprechend vorbereite. Mit anderen Worten: an Stelle des nationalen Zwecks, der keine genügende Wirkungskraft mehr besaß, gaben sie den religiösen Vorschriften einen neuen, individuellen Zweck, der den Zeitbedürfnissen entsprach, und entzogen sie auf diese Weise der Machtsphäre des Nationalgefühls. Trotzdem hörte auch dieses nicht auf, noch lange Zeit hindurch im politischen Leben des Volkes seine Lebens- und Wirkungskraft zu äußern, wie es die Geschichte dieser großen Epoche bis auf die Zeiten des Titus und Hadrian herab bezeugt. Da jedoch das politische Leben von Tag zu Tag immer mehr verkümmerte, wuchs in demselben Verhältnis das religiöse Leben immer stärker empor, und mit ihm zugleich gewann in der Seele der Volksindividuen das individuelle Element immer mehr die Oberhand über das nationale, das schließlich sogar aus seinem letzten Besitztum, aus der Hoffnung auf die künftige Erlösung, hinausgedrängt wurde. Diese Hoffnung, in der die Sehnsucht der Volksseele, die das, was ihr in der Gegenwart abging, in einer fernen Zukunft suchte, ihren Ausdruck fand, verlor im Laufe der Zeit ihre beruhigende Wirkung in ihrer ursprünglichen Fassung, nach welcher „diese Welt von den Tagen des Messias sich lediglich durch die politische Unterdrückung unterscheide“. (6) Denn die Menschen jener Generation fanden keinen Trost mehr an dem Glücke, das ihrem Volke am Ende der Zeiten zuteil werden würde, und das sie selbst nicht mehr erleben würden. Vielmehr verlangte ein jedes Individuum für sich allein seinen Sonderanteil an dem erhofften Gesamtglück, und auch darin kam ihm die Religion entgegen, indem sie die politische Erlösung zu einem Anhängsel der Auferstehung der Toten machte.

So groß war die Wandlung, die sich in der Volksseele vollzogen hatte. Die Nationalliebe war keine reine Liebe mehr, frei von egoistischen Interessen, und das Wohl der Gesamtheit nicht mehr der oberste Zweck, dem die Glieder des Volkes ihre Individualzwecke opferten. Es verhält sich jetzt vielmehr umgekehrt: der Endzweck ist von nun an für jeden einzelnen sein individuelles zeitliches oder ewiges Wohlergehen, während das Wohlergehen der Gesamtheit ihm nur soweit am Herzen liegt, als er selbst einen Anteil an demselben hat. Wie sehr sich im Laufe der Zeit in diesen Beziehungen die Empfindungen geändert haben, können wir am besten daraus ersehen, dass den Tannaim (7) die Worte der Thora: „der Boden, den der Ewige euren Vätern zugeschworen, es ihnen zu geben“ (8) seltsam vorkamen, da ja der Boden nicht ihnen, sondern erst ihren Nachkommen zuteil wurde, und sie glaubten daher, aus diesen Worten schließen zu dürfen, dass bereits die Thora die Wiederbelebung der Toten lehre. (9) Dies beweist uns, dass das tiefe Gefühl der Einheit sämtlicher Generationen in dem Volkskörper, das sich in der ganzen Thora offenbart, zu ihrer Zeit bereits so starke Einbuße erlitten hatte, dass sie das Wörtchen „ihnen“ nicht anders beziehen konnten als auf das individuelle Leben der Väter selbst.

Die nachfolgenden Ereignisse, die furchtbaren Leiden und die ununterbrochenen Wanderungen, die die Sorge eines jeden Juden für sich und seine Familie ins Unendliche steigern mussten, trugen noch mehr dazu bei, das ohnedies geschwächte Nationalgefühl noch mehr zu schwächen, die tiefsten Empfindungen des Herzens im Familienleben, und den Rest der Gefühle im Gemeindeleben, in dem die Bedürfnisse des einzelnen ihre Erfüllung fanden, zu konzentrieren, so dass für das Nationalleben des gesamten Volkes kein Raum mehr übrig blieb. Ja, selbst die wenigen, die noch in ihrem Herzen zeitweise den Drang nach einer Betätigung im Dienste des Volkes verspüren, selbst sie besitzen zumeist nicht mehr die Fähigkeit, sich in der erforderlichen Weise über ihre Individualsphäre zu erheben, den Bedürfnissen des Volkes ihren Eigennutz und Ehrgeiz unterzuordnen, ihnen die Interessen ihrer Familie oder Gemeinde zu opfern. Dieses Gespenst, das Ich des einzelnen Menschen oder der einzelnem Gruppe, spukt seitdem in allen unseren Volksunternehmungen umher und macht der Nationalliebe, die sich zu seltenen Malen offenbart, den Garaus, da es die Übermacht über sie besitzt.
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Zu einem Gefühle dieser Art sind wir also gelangt, und mit seiner Hilfe sollten wir ein festes Vertrauen und einen so starken Willen schaffen, wie sie zu einem großen nationalen Unternehmen erforderlich sind?!

Was hätten wir aber machen sollen?

Auf Grund unserer Ausführungen ist es zweifellos, dass unsere erste Tätigkeit der Wiederbelebung der Herzen gelten musste, dass wir zunächst verpflichtet waren, die Liebe zum Leben der Gesamtheit zu stärken, die Sehnsucht nach ihrem Wohlergehen zu steigern, damit der Wille erwache und die Arbeiter mit Vertrauen ihre Tätigkeit beginnen . . .

Diese Arbeit ist zwar sehr schwierig und zeitraubend, nicht für ein Jahr und nicht für ein Jahrzehnt, auch kann sie nicht, wie oben bemerkt, durch „schöne Redensarten“ geleistet werden, sondern durch alle jene Mittel, durch welche „die Herzen erobert werden“. Es ist daher wohl möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, dass wir auf diese Weise noch zu keinen praktischen Werken in Palästina gelangt wären, aus mangelnder Fähigkeit zu erfolgreichen und aus übermäßiger Ängstlichkeit vor erfolglosen Werken. Allein, anstatt dessen hätten wir uns besondere Mühe gegeben, die erforderlichen Männer zu schaffen, nach und nach die Machtsphäre unseres Gedankens innerhalb des Volkes zu erweitern, bis dass ihm wahre Arbeiter erstehen würden, die in jeder Beziehung geeignet wären, an seiner Verwirklichung tätig zu sein.

Doch die Fahnenträger unseres Gedankens verfuhren anders. Da sie selbst Individuen des jüdischen Volkes waren, deren Nationalismus mit egoistischen Elementen durchsetzt war, konnten sie es nicht übers Herz bringen, eine Saat zu säen, deren Früchte andere genießen sollten, die sie selbst aber nicht mehr erleben würden. Die Tätigkeit für das Volk, um in demselben Arbeiter vorzubereiten, die sich der Tätigkeit für das Land widmeten, genügte ihnen nicht, sondern sie wollten diese selbst und ihre Ergebnisse mit eigenen Augen schauen. Als sie sich aber überzeugten, dass auf ihren ersten Aufruf hin, den sie im Namen des allgemeinen Zwecks erließen, das Volk sich nicht sofort erhob, um die gewünschte Tätigkeit zu beginnen, nahmen sie gleich unseren Weisen in alter Zeit ihre Zuflucht zu einem ändern Zweck, dem individuellen, und begannen im Namen des hungrigen Magens, der stets sich Gehör zu verschaffen vermag, das Volk aufzurütteln. Zu diesem Zwecke begannen sie, gute Nachrichten in die Zeitungen zu lancieren und verlockende „Kalkulationen“ aufzustellen, aus denen mit zweifelloser Deutlichkeit hervorgehen sollte, dass soundso viel Dunam Land, soundso viel Vieh und Geräte um diesen und diesen Preis ausreichen, um in Palästina einer ganzen Familie zu einer auskömmlichen und angenehmen Existenz zu verhelfen, dass daher jeder, der ein gutes Geschäft machen wolle und imstande sei, sich alle die genannten Dinge um den genannten Preis anzuschaffen, nach diesem gesegneten Lande übersiedeln müsse, um sich und seine Familie zu beglücken und nebenbei auch noch seinem Volke einen Dienst zu erweisen. Auf diese Aufforderung hin erhoben sich tatsächlich mancherlei Leute, um nach dem gesegneten Lande auszuwandern und ein glückliches und sorgenfreies Dasein zu beginnen, und die Vertreter des Gedankens sahen zu und strahlten vor Freude, ohne sich den Kopf zu zerbrechen, wer wohl die Auswandernden waren, und aus welchem Grunde sie auswanderten. Diese Leute, die in ihrer Mehrheit gar nicht vorbereitet waren, um für einen allgemeinen Zweck freudig Entbehrungen zu leiden, legten sich, als sie sich nach ihrer Übersiedlung überzeugt hatten, dass sie auf den Leim gegangen waren und sich durch illusorische Nachrichten und Voranschläge hatten täuschen lassen, keinerlei Zwang an, sondern fuhren bis auf den heutigen Tag fort, Unruhe und Verwirrung zu stiften und mit allen zugänglichen Mitteln ihre egoistischen Zwecke zu verfolgen, ohne zwischen gut und böse zu unterscheiden und ohne auf die Würde des Gedankens, der dadurch entweiht wurde, Rücksicht zu nehmen … Die Einzelheiten, die allgemein bekannt sind, können hier übergangen werden.

Wie dürfen wir uns also wundern, dass ein Gedanke von dieser Erhabenheit, der sich in einer Form von dieser Hässlichkeit offenbart, keine Begeisterung mehr zu wecken vermag? dass ein nationaler Bau, der sich auf geschäftliche Berechnung und menschliche Selbstliebe gründet, in Trümmer zerfallen muss, sobald sich das Volk überzeugt, dass die Berechnung verfehlt ist, und seine Selbstliebe es warnt, sich in der ferne zu halten?

Nicht dies ist also der Weg! Die „Trümmer“, die bereits vorhanden sind, dürfen wir nicht im Stiche lassen, sondern müssen nach unseren Kräften auf ihre Umgestaltung und Ausgestaltung bedacht sein. Allein, wir dürfen dabei nicht vergessen, daß nicht von ihnen die Hoffnung auf das Gelingen der ganzen Sache ausgeht, sondern daß das Herz des Volkes die Basis ist, auf der das Land sich aufbauen kann, und das Volk ist ja zerrüttet und verrottet …

Kehren wir also auf den Weg zurück, auf dem wir am Anfang, in der Entstehungszeit des Gedankens standen, und anstatt noch neue „Trümmer“ aufzuhäufen, wollen wir lieber dafür sorgen, daß der Gedanke selbst immer mehr Wurzel schlage und in die Breite wie in die Tiefe dringe, nicht durch Macht und nicht durch Gewalt, sondern durch den Geist; dann wird auch‘ der Tag kommen, an dem unsere Hände Erfolgreiches leisten . . .

„Ich seh‘ es, doch nicht jetzt,
Ich schau‘ es, doch nicht nah‘.“ (10)

4. März 1889.

Anmerkungen:
(1) Vgl. Ezechiel 18, 2.
(2) Ezechiel 20, 32.
(3) Ibidem 37, 11.
(4) Maleachi 3, 14.
(5) Sprüche der Väter IV, 13.
(6) Babylonischer Talmud Traktat Berachoth 34 b und öfters
(7) So werden die jüdischen Gelehrten während der ersten zwei nachchristlichen Jahrhunderte genannt.
(8) Deuteronium 11, 21.
(9) Sifre (Tannaitischer Kommentar zur Numeri und Deuteronium) zur Stelle
(10) Numeri 24, 17.

Teil II

„Vertiefen wir uns nicht zu seht in theoretische und abstrakte Auseinandersetzungen, lassen wir unsere Hände nicht im praktischen Tun erschlaffen, drängen wir nicht die Zeit und das Ende, steigern wir die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande —, dann wird uns der Gott Zions als Helfer erstehen.“

Mit diesen Worten schließt die ausführliche Kritik, die gegen meinen vorstehenden Aufsatz im „Hameliz“ erschien. Aus den zitierten Sätzen könnte der Leser schließen, dass der Rat, den i c h den „Chowewe Zion“ erteilte, in der Aufforderung bestand, dass sie sich ausschließlich in theoretische Auseinandersetzungen vertiefen und jedes praktische Tun aufgeben sollen, dass sie das Ende drängen und die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande nicht steigern sollen. Wer aber meinen Aufsatz mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat, dem brauche ich nicht zu sagen, dass, was die beiden letzten Punkte betrifft, ich das genaue Gegenteil verlangt habe: dass wir das Ende nicht drängen sollen, indem wir mit Hilfe der Selbstliebe Dinge zu verwirklichen suchen, die noch nicht reif genug sind, um durch den Gedanken selbst realisiert zu werden; dass, solange die „Zionsliebe“ kein lebendiges und durchdringendes Gefühl im Herzen des Volkes geworden ist, die Basis mangelt, auf der sich das Land aufbauen kann; dass wir daher mit dem Aufgebot aller Kräfte bemüht sein müssen, die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande soweit wie möglich zu steigern. Was jedoch die Aufforderung betrifft, sich in theoretische Auseinandersetzungen zu vertiefen und das praktische Tun aufzugeben, so mag wohl sein, dass ich mich etwas zu kurz gefasst habe und daher missverstanden worden bin. Obgleich ich auch ausdrücklich hervorhob, dass wir nur durch eine zielbewusste Tätigkeit und nicht durch bloße „schöne Redensarten“ hoffen dürfen, die Herzen zu gewinnen und die Antipathien zu überwinden, hätte ich vielleicht doch noch hinzufügen sollen, was eigentlich sich vom selbst aus dem Zusammenhang ergibt, dass solange der Gedanke selbst zu einer Verwirklichung nicht reif ist, der Zweck unserer ganzen Tätigkeit, die jetzt in den Händen einiger weniger Männer ruht, nur darin bestehen muss, die Herzen für unsere Sache zu gewinnen. Nur von diesem Standpunkte aus müssen wir alles, was innerhalb und außerhalb Palästinas geschieht, beurteilen, und deswegen darf uns jetzt nicht die Quantität des Geleisteten, sondern die Qualität desselben die Hauptsache sein. Unsere Tätigkeit darf sich daher nicht auf die Ausgestaltung der Kolonien allein beschränken, sondern viele und mannigfache Wege sind es, die zum Herzen des Volkes führen, und unsere Pflicht ist es, sie alle zu betreten.

Es ist daher ganz überflüssig, wenn mir mein Kritiker in einer langen Auseinandersetzung zu beweisen sucht, dass die Vertreter des Gedankens nicht berechtigt waren, „mit ihren praktischen Werken zu warten, bis sie der jüdischen Volksmasse ein neues Herz schufen, das national empfinden könnte“ Saß bei uns Juden Theorie und Praxis durcheinander gehen und dass jeder Gedanke bei uns nach Verwirklichung drängt Wie hätte also der Kolonisationsgedanke, die jüdische Volksmasse ohne praktische Tat gewinnen können?“ All dies hat mit meinen Ausführungen nichts zu schaffen; denn auch ich hatte nicht an die Vertreter des Gedanken, das Ansinnen gestellt „mit den praktische Werken zu warten„, sondern im Gegenteil alles Mögliche zu tun, um die nationale Liebe zum Lande unserer Väter zu erwecken, und es unterliegt keinem Zweifel, dass die Bearbeitung des heiligen Bodens durch die Vertreter des Gedankens selbst, die mit dem Schweiß ihres Antlitzes und dem Blute ihres Herzens bestrebt waren, ein Muster für andere zu werden, ebenfalls zu der „zielbewussten Tätigkeit“ gehören würde, die besonders geeignet wäre, auf das Volk zu wirken. Aber kann die Kolonisation in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu dieser Tätigkeit gezählt werden? Mein Kritiker gibt ja selbst zu, dass „die Vertreter des Gedankens nicht selbst das Werk schufen“, sondern „zu dem Volke in allen Tonarten redeten„, und dass das, was sie redeten, lediglich geeignet war, die Glückssucher und Abenteurer aufzustacheln, nach Palästina auszuwandern und ihrerseits das Werk zu schaffen. Diese Leutchen siedelten auch in der Tat über, und taten, was sie taten, und erlitten, was sie erlitten, und das Kolonisationswerk wurde zu dem, was es jetzt ist … Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Gedanke in seiner Wirkungskraft auf die Volksseele noch um mehrere Grade zurückging, und dass kein jüdisches Herz mehr warm wird beim Anblick der jüdischen Bauern, die die Pflugschar führen auf dem Boden unserer Väter, wie in den Tagen Davids und Salomos. Denn sowohl die Arbeit wie die Arbeiter sind nicht dazu geeignet, das Herz der Nation zu erwärmen, welches vor Elend und Alter erstarrt ist.
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Allein mein Kritiker geht mit mir auch im Wesen der Sache auseinander, und stellt die Behauptung auf dass es uns mit allen möglichen Mitteln in der Welt nicht gelingen wird, im Herzen unseres Volkes ein intensives Nationalgefühl zu erzeugen. Denn seitdem wir als Nation existieren, „ist dem Geiste unseres Volkes das allgemeine Nationalgefühl fremd geblieben, und die Einzelglieder des Volkes sind mehr auf ihre eigenen Interessen und ihren persönlichen Vorteil bedacht“. Deswegen werden unsere Versuche, gegen den Geist des Volkes und seine natürliche Veranlagung anzukämpfen, gänzlich fruchtlos bleiben, denn „gegen die natürliche Veranlagung eines Volkes ist kein Kraut gewachsen“. Aus diesem Grunde haben die „Zionsfreunde“ nicht aus freien Stücken, sondern, der Not gehorchend, den Weg der Selbstliebe gewählt, weil es keinen anderen Weg gebe. „Die Sprache des Nationalgefühls wird von der jüdischen Volksmasse nicht genügend verstanden; bemühen wir uns daher, dass die realisierten Werke zu ihr in einer verständlichen Sprache reden, in der Sprache des persönlichen Vorteils, dann wird wenigstens, was das Gefühl nicht vermocht hat, die Spekulation vollbringen.“

Es ist mir, offen gestanden, unerfindlich, wie „die Sprache des persönlichen Vorteils“, die Sprache des Kampfes ums Dasein, die sich jedem einzelnen Menschen gegenüber einer besonderen Ausdrucksweise bedient, die ihm allein eigentümlich ist und sich seiner Lage und seinen Wünschen anpasst, so dass der eine den andern nicht versteht -, wie diese Sprache an Stelle des allgemeinen Gefühls treten kann, das alle Herzen in einem Streben und einem Wunsch zusammenschließt? Selbst diejenigen Denker, welche sich als Utilitaristen bekennen und in dem Streben nach dem persönlichen Vorteil den Ursprung aller sittlichen und sozialen Neigungen erblicken, wollen damit nur die erste Ursache dieser Neigungen und die Art ihrer Entstehung und Entwicklung aufzeigen, um denjenigen entgegenzutreten, die diesen Neigungen einen metaphysischen Ursprung zuschreiben wollen. Aber darin sind alle einig, dass der persönliche Vorteil für sich allein keine Grundlage abgeben kann für eine geordnete Gesellschaft oder für eine große gemeinsame Arbeit.

Doch lassen wir für einen Augenblick seinen Standpunkt gelten. Hören wir, was uns die Sprache des persönlichen Vorteils in dieser Sache nach seiner eigenen Darstellung sagt. „Dem Geiste unseres Volkes,“ sagt er, „ist das Nationalgefühl fremd. Möge ihn daher die Kalkulation der Duname davon überzeugen, dass der fleißige und friedliche Mensch im Heiligen Lande finden kann, was er sucht, wenn er körperliche Kraft und materielle Mittel besitzt.“ Er gibt also zu, dass nur der Mensch, der materielle Mittel und zugleich körperliche Kraft besitzt, sowie auch fleißig und friedlich ist, im Heiligen Lande finden kann, was er sucht, d. h. seinen persönlichen Vorteil. Doch abgesehen davon, dass es sehr schwer hält, diese Bedingungen bei einem Juden, der materielle Mittel besitzt, zu finden — bei einem Juden nämlich, der früher gewohnt war, sich von der Luft zu ernähren, und in allem, was seinen Ehrgeiz betrifft, äußerst empfindsam ist —, wird auch ein solcher Mensch im Heiligen Lande in Wirklichkeit nicht leicht finden können, was er sucht. Denn nicht nur Brot für seinen Hunger und ein Kleid für seine Blöße sucht der Besitzende, sondern auch alle Genüsse und Vergnügungen, an die er früher gewohnt war. Würde er daher seinen persönlichen Vorteil befragen, so würde ihm dieser sicher die Antwort geben, dass es töricht ist, sein Geld für ein Stück Land in Palästina auszugeben, das im besten Falle harte Arbeit verlangt, ohne auch nur die Hälfte seiner Ansprüche zu befriedigen. Dass dieses Urteil richtig ist, bezeugt der Kritiker von selbst, indem er erzählt, dass „die Bewegung sich damals (am Beginne der Kolonisation) hauptsächlich aus den Mittellosen rekrutierte, die durch die Spenden der Reichen zu einer Existenz zu gelangen hofften, während diese selbst sich fern hielten“. „Im Winter des Jahres 1882 ging der erste Delegat nach Palästina, ausgestattet mit einer Vollmacht vieler Bürger, um ein Stück Land in Palästina für sie zu kaufen. Der Delegat erstand den Boden von Rischon l‘ Zion, doch seine Auftraggeber traten von ihrer Absicht zurück.“ „Von denjenigen, die in der Kolonie Parzellen gekauft hatten, siedelten nur die Mittellosen über, während die Wohlhabenden zu Hause blieben.“ „Das Endresultat der ganzen Bewegung war, dass in Palästina, mit Ausnahme einiger weniger, nur mittellose Proletarier geblieben sind.“ — Also hat uns die Erfahrung gezeigt, dass diejenigen, die über materielle Mittel verfügen, sofern sie keine andere Sprache als die des persönlichen Vorteils verstehen, nicht geneigt sind, nach Palästina zu gehen, um dort zu finden, „was sie suchen“; denn sie suchen mehr, als was sie, dort finden Können. Wen soll also die Kalkulation der Duname überzeugen, und wen soll die Sprache des persönlichen Vorteils nach Palästina locken, wenn derjenige, der auswandern kann, nicht will, und derjenige, der es will, nicht kann?

Auf meine Frage, die ich; in meinem ersten Artikel gestellt hatte, warum nämlich der Gedanke im Volke an Sympathien verlor, erwidert der Kritiker seufzend: „Da sieht man das ungeduldige Judenvolk. Mit dem Momente, da es merkte, dass die Ausgestaltung der gegründeten Kolonien viele Opfer an Zeit und Geld erfordert, da wurde es sofort mutlos. Achtzehn Jahrhunderte hindurch geduldeten wir uns und waren nicht im geringsten auf die Besiedlung des Landes und die Lösung der Judennot bedacht; jetzt aber, da wir im Laufe der sechs Jahre die Kolonien nicht ausgestalten konnten, wollen wir sofort die Flinte ins Korn werfen. Ist es kein ungeduldiges Volk?“ — Er übersieht aber, dass das, was er auf Rechnung der Ungeduld setzt, in der Tat nur eine notwendige Folge seines Systems des persönlichen Vorteils bildet. Achtzehn Jahrhunderte hindurch waren wir nicht auf die Besiedlung des Landes bedacht, weil keiner von uns daraus einen persönlichen Vorteil für sich erhoffte. In den letzten Jahren waren wir aber sehr wohl auf die Besiedlung des Landes bedacht, weil durch die „Nachrichten und Kalkulationen“ in uns die Hoffnung auf einen persönlichen Vorteil erweckt wurde. Jetzt aber, da wir uns überzeugt haben, dass die Ausgestaltung der gegründeten Kolonien viele Opfer an Zeit und Geld erfordert, jetzt stellt sich heraus, dass vom Standpunkt des persönlichen Vorteils aus die Sache für uns nicht lohnend ist. Daher wollen wir mit Recht die Flinte ins Korn werfen, und die Kolonisation in Palästina ist zu einer Armenbüchse geworden, aus der einige Hundert „mittelloser Proletarier“ mit knapper Not ihre Existenz ziehen . . .
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So ist also die Sprache des persönlichen Vorteils beschaffen. Wäre es meinem Opponenten in der Tat gelungen, mit zwingenden Beweisen sein hartes Urteil zu belegen, dass das Nationalgefühl im jüdischen Volke weder existiert hat, noch existieren wird, und dass die einzelnen Individuen nicht im Stande sind, sich über „ihre eigenen Interessen und ihren persönlichen Vorteil“ zu erheben, dann, ja dann . . . finis Poloniae! Dann haben wir keinen Anteil unter den Völkern und keinen Anspruch auf das Land . . . Doch zu unserm Glück sind seine Beweise nicht so gefährlich, wie sie scheinen.

Überhaupt sind ja die ethnologischen Forschungen über die Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker zumeist nur imposante Hypothesen, die an einem Haare hängen, ohne feste wissenschaftliche Begründung. Ein Gelehrter hat gelegentlich den Versuch gemacht, die Äußerungen verschiedener Autoritäten über die Eigentümlichkeiten der Araber zu sammeln, und es stellte sich ihm nun folgendes heraus: die einen behaupten, dass der Araber ein praktischer Mensch sei, der sich nur mit realen Dingen abgebe, und dass er eine sehr schwache Einbildungskraft besitze, während andere der Ansicht sind, dass sowohl die Araber wie die Hebräer eine sehr starke Einbildungskraft haben, und dass bei den ersteren die Einbildung stets den Verstand besiege. Demgegenüber hält es Sprenger für ausgemacht, dass die Herrschaft der Einbildung über den Verstand eine dem arabischen Geiste durchaus zuwiderlaufende Eigenschaft sei, und nach seiner Ansicht ist es eine allgemein bekannte Tatsache, dass der Geist der Semiten überhaupt objektiv veranlagt sei. Lassen dagegen und nach ihm Renan halten es für eine ebenso allgemein anerkannte Tatsache, dass die Grundeigentümlichkeit des semitischen Geistes in der Subjektivität bestehe. (1)

Wenn es sich also in dieser Weise mit den Eigentümlichkeiten der Araber verhält, eines Volkes, das auf seiner Scholle blieb und von einem Exil nichts kostete, wer darf es dann wagen, die Eigentümlichkeiten eines Volkes wie des unsrigen zu präzisieren, das bald zwei Jahrtausende unter den verschiedensten Völkern zerstreut und zersplittert ist? Wo gäbe es einen Gelehrten, der imstande wäre, eine genaue Scheidegrenze zu ziehen zwischen den Eigentümlichkeiten, die uns von Anbeginn unserer Geschichte angeboren sind, und denen, die sich in uns durch die Lebensbedingungen der Diaspora herausbildeten, die Wandlungen, die beide von Generation zu Generation und von Land zu Land erlitten, nacheinander aufzuzählen und von vornherein festzustellen, was sich in unseren Eigentümlichkeiten durch veränderte Lebensbedingungen ändern kann und was sich nicht ändern kann? — Mein Kritiker urteilt mit so unfehlbarer Sicherheit über die Veranlagung des jüdischen Volkes, als wäre sie zu jeder Zeit und in jedem Orte fest und unveränderlich, während ein hervorragender zeitgenössischer Gelehrter gerade uns aus allen übrigen Völkern herausgehoben hat, um durch uns die Wahrheit seiner Behauptung zu belegen, dass die nationalen Eigentümlichkeiten mehr von den Lebensbedingungen und der Gesellschaftsordnung, als von der Vererbung abhängen, indem er gerade bei unserm Volke die Tatsache konstatiert, dass seine Eigentümlichkeiten in verschiedenen Ländern verschieden seien und zu verschiedenen Zeiten verändert erscheinen, alles entsprechend den vorhandenen Lebensbedingungen und dem Geiste des Volkes, unter dem wir leben. (2)
Ich will daher nicht im einzelnen auf die verschiedenen Punkte der von meinem Opponenten aufgestellten Lehre über die Eigentümlichkeiten des jüdischen Volkes eingehen. Ich werde mich bloß auf Jene gefährliche „Eigentümlichkeit“ beschränken, die uns der Verfasser zuschreibt, nämlich den Mangel des Nationalgefühls in uns von Natur aus.

Ich hatte in meinem vorhergehenden Aufsatze dargelegt, dass aus dem Umstande, dass die gesamte mosaische Lehre auf dem Wohlergehen der Volksgemeinschaft beruht — so sehr, dass sie nicht einmal das Bedürfnis empfand, sich des Glaubens an die jenseitige Vergeltung (der in Ägypten schon in sehr alter Zeit bekannt war) zu bedienen, um auch das Individuum zu befriedigen —, dass wir aus diesem Umstande den Schluss ziehen dürfen, dass zu jener Zeit ein intensives Nationalgefühl im Herzen des ganzen Volkes oder des hervorragendsten Teiles desselben vorhanden war und dass nur historische Ursachen es waren, die dieses Gefühl in späterer Zeit schwächten, dass uns also nichts in der Annahme hindert, dass man mit entsprechenden Mitteln unserm Volke dasjenige wiedererobern kann, was es schon in alter Zeit besessen hatte.

Hierauf wendet der Kritiker ein: „Wenn die Thora ihr Augenmerk nur auf das Gesamtwohl richtet, so geschieht es nicht, weil zu irgendeiner Zeit der Geist des Individualismus in unserm Volke unwirksam war. sondern, weil die Thora praktisch ist und sich der Wirklichkeit anpasst. Wir sehen, dass der einzelne Mensch allen möglichen Zufällen und Unglücksfällen ausgesetzt ist. Wie könnte ihm daher die Thora, die sonst so praktisch verfährt, das individuelle Glück verheißen, das ein Ding der Unmöglichkeit ist?“

Bei Gott! Ich habe mir redliche Mühe gegeben, diese Worte zu begreifen, aber es war leider vergeblich Wenn die Thora sich in der Tat der Wirklichkeit anpasst, und das individuelle Glück des Menschen im Diesseits ein Ding der Unmöglichkeit ist, das Nationalgefühl aber gleich nicht vorhanden war und das Gesamtwohl der Nation beim Volke keine starke Geltung hatte, – wie durfte sich dann die Thora mit der Verheißung eines derartigen Lohnes begnügen, dessen Wirkung auf die Volksindividuen nicht hinreichend groß war dass sie seinetwegen sich guter Taten befleißigten, während sie doch sehr wohl tun konnte, was andere Religionen vorher und nachher taten und was sie selbst nach vielen Generationen als es die Zeitumstände forderten, tat, nämlich dem einzelnen Individuum die Belohnung seiner Taten im jenseits in Aussicht zu stellen?

Doch in alle diese Widersprüche ließ sich der Verfasser nur verwickeln, weil er bei Professor Chwolson die Behauptung fand, dass alle Semiten von Natur aus Individualisten seien, dass wir daher zu keiner Zeit dem jüdischen Volke ein Nationalgefühl zuschreiben dürfen. – Nun haben wir oben gesehen, wie wenig man sich in solchen Dingen auf Äußerungen von Autoritäten verlassen darf. Wenn wir jedoch die Worte, die der Kritiker aus Chwolson anführt, genauer ansehen, müssen wir uns noch mehr über ihn wundern, dass er in ihnen einen genügenden Grund zu seinem so harten Urteil gefunden hat. „Der nationale Zusammenhang“, sagt Chwolson (3), „war bei den Semiten immer ein lockerer, nur der Stamm hielt einigermaßen zusammen, aber nur so lange er noch klein war; ward er groß“ teilte er sich in zwei oder mehrere kleine Stämme, die unabhängig voneinander lebten,“ und diese Erscheinung setzt er auf Rechnung des Individualismus, der sich besonders unter den Semiten geltend mache. Doch möchte ich gerne wissen, wodurch sich seiner Natur nach der „nationale Zusammenhang“ von dem Gefühl der Liebe und der Zusammengehörigkeit eines einzigen Stammes unterscheidet. Wenn der Individualismus — und keine äußeren Ursachen — schuld daran hat, dass der Zusammenhang zwischen den einzelnen israelitischen Stämmen ein lockerer war, wie kam es, dass trotzdem jeder Stamm für sich noch einigermaßen zusammenhielt? Denn wer in seinem Herzen das Bedürfnis und die Möglichkeit empfindet, seinen persönlichen Vorteil dem Gesamtwohl der Gemeinschaft, zu der er sich rechnet, und sei es auch ein kleiner unansehnlicher Stamm, unterzuordnen, der hat ja eo ipso die Grenze des Individualismus überschritten und seine Fähigkeit bewiesen, einen „nationalen Zusammenhang“ zu empfinden, wenn sich keine äußeren Hindernisse in den Weg stellen, und es dürfte kaum ein anderer Unterschied bestehen zwischen dem Gefühl, das der Franzose gegen seine Nation, und dem Gefühl, das der Montenegriner gegen seinen Stamm empfindet, als in der Quantität seines Objekts, aber nicht in seiner ursprünglichen Beschaffenheit. Daher sehen wir auch zu allen Zeiten, dass, sobald die Lebensbedingungen günstig sind, sich die Stammesliebe allmählich zur Nationalliebe erweitert. In sehr alter Zeit waren die Griechen in kleine Stämme zersplittert, die sich fortwährend gegenseitig bekämpften, und erst in späterer Zeit gelangten sie zum Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit. Im Mittelalter waren die italienischen Städte getrennt und miteinander verfeindet, und doch eigneten sich schließlich die Italiener ein starkes Nationalgefühl an. Und um ein Beispiel aus unserer eigenen, Zeit anzuführen, wem ist es unbekannt, was die Deutschen vor wenigen Jahrzehnten waren? „Wir haben die Zeit noch in frischer Erinnerung, — sagt ein berühmter deutscher Gelehrter, — wo man uns nicht ohne Grund den Vorwurf machen konnte, dass es keinem andern großen Kulturvolke jemals in dem Grade, wie dem unsrigen, an einem kräftigen und gesunden Nationalgefühl gefehlt habe.“ (4) Und was sehen wir bei ihnen jetzt? Kurz und gut, wer die Behauptung aufstellt, dass das Nationalgefühl den Semiten im allgemeinen und dem jüdischen Volke im besonderen unzugänglich sei — ein Gefühl, von dem, nach der Ansicht eines berühmten Naturforschers, einige Spuren sich sogar bei den Tieren nachweisen lassen (5) —, der ist verpflichtet, zwingendere Beweise zu erbringen.

Bevor jedoch solche Beweise erbracht werden, „lassen wir unsere Hände nicht im praktischen Tun erschlaffen, drängen wir nicht die Zeit und das Ende, steigern wir die Liebe zu unserm Volke und die Sehnsucht nach unserm Vaterlande, dann wird uns der Gott Zions als Helfer erstehen“.

13. Mai 1889.

Anmerkungen:
(1) Vgl. A. Müller, Zeitschrift für Völkerpsychologie XIV, S. 435.
(2) Vgl. Henry George, Progress and Poverty, p. 352.
(3) Die semitischen Völker, Berlin 1872, S. 42.]
(4) Ed. Zeller, Vorträge und Abhandlungen, II, S. 434.
(5) Du Bois-Reymond, Reden I, S. 309.

Der Text wurde in deutscher Sprache gedruckt im Jüdischen Verlag, Berlin 1913
Erschien zuerst im hebräischen Tageblatt „Hameliz“ in der Nummer vom 15. März 1889