Tschechinnen im Umfeld anderer Nationalitäten

Von Vaclava Kutter Bubnova
[Tschechische Häftlinge im KZ Ravensbrück]

Die tschechischen Häftlinge im Konzentrationslager Ravensbrück waren trotz des gemeinsamen Wohnens auf einem tschechischen Block, der gleichen kulturellen Interessen und der gleichen Sprache keine streng geschlossene Gruppe, wie dies beispielsweise bei den Französinnen der Fall war.376 Sie kamen täglich mit Frauen anderer Nationalitäten in Kontakt. Um die eigene Überlebenschance im Lager zu erhöhen und um dieselben Interessen gegenüber den SS-Mitgliedern vertreten zu können, möglicherweise auch aufgrund der vorherrschenden internationalen Solidarität, war die Zusammenarbeit mit ihnen unumgänglich.

Widerstand und Solidarität

Nach Strebel war Solidarität eine Hilfeleistung von materieller, körperlicher und geistiger Natur, die für die Frauen überlebensnotwendig war. Dabei machte es keinen Unterschied, ob es sich um eine kollektive oder individuelle Hilfeleistung handelte.377 Da es von der SS aus verboten war anderen zu helfen, kann die Solidarität unter den Häftlingen auch als eine Form von Widerstand betrachtet werden. Nach Marszalek war Widerstand „jede Tätigkeit, die darauf abzielte, das Leben, die körperliche und seelische Gesundheit von Mithäftlingen zu retten.“378 Anhand dieser beiden Definitionen wird klar, dass im Konzentrationslager die beiden Handlungen sehr eng miteinander verbunden waren und eine Trennung heutzutage sehr problematisch ist, will man das Thema in seinem gesamten Umfang behandeln.

Für das Konzentrationslager Ravensbrück konnte bis heute kein bewaffneter Widerstand oder auch nur ein Versuch dessen nachgewiesen werden. Dasselbe gilt auch für die meisten anderen Lager. Trotzdem wird in Ravensbrück zwischen zwei verschiedenen Arten des Widerstandes, nämlich dem offenen und den verdecktem, unterschieden.379 Als offener Widerstand wird beispielsweise offener Protest, kollektive Arbeitsverweigerung oder Prämien- und Gutscheinverweigerung definiert. Ein wichtiges Merkmal der drei Beispiele ist, dass diese Art von Widerstand stets von einer größeren Gruppe von Frauen ausging, da nur so der Initiator unbekannt bleiben konnte, und die Strafen, zumindest in einem ersten Moment, eher gering ausfielen. Den offenen Widerstand übten am häufigsten die Bibelforscherinnen und die Kriegsgefangenen der Roten Armee aus, weil sie jeweils sehr geschlossene und organisierte Gruppen waren.380 Auch tschechische Häftlinge verweigerten die Annahme bei den ersten Prämienausgaben, die für ein erhöhtes Arbeitspensum sorgen sollten. Sie lehnten diese Prämien, die im Krankenrevier den Häftlingsärztinnen und Krankenschwestern angeboten wurden, mit der Begründung ab, dass sie nicht freiwillig arbeiteten, sondern dazu gezwungen würden. Nach diesem Vorfall wurden die meisten Häftlinge aus dem Krankenrevier versetzt, und so arbeitete beispielsweise die tschechische Ärztin Ilza Dolansá nach ihrer Versetzung als Näherin.381

Beim verdeckten Widerstand konnte jede Frau mitmachen. Hierzu waren keine Gruppen nötig, da jede Frau selbst entscheiden konnte, ob sie mitmachen wollte, und wenn ja, in welchem Umfang. Zum verdeckten Widerstand zählten individuelle Arbeitsverweigerung, Sabotage, Informationsversorgung innerhalb des Lagers, künstlerische Tätigkeiten und zuletzt die Flucht. 382 Im Gegensatz zur Arbeitsverweigerung konnten die Frauen bei der Sabotage mit ein wenig Glück davon ausgehen, nicht bestraft zu werden. Deshalb entschieden sich viele Tschechinnen für diese Art von Widerstand. So sollten sie beispielsweise Pelzschuhe nähen, doch um diese unbrauchbar zu machen, veränderten sie die Schnitte derart, dass die Schuhe viel zu klein waren. Nachdem dies entdeckt worden war, wurden die Frauen aber nicht bestraft, weil der Fehler bei den Schnittmustern lag und die Häftlinge dafür nicht verantwortlich waren.383 Die Häftlinge versuchten u.a. auch langsam zu arbeiten, was zumeist zu einer körperlichen Strafe durch eine Aufseherin führte. Widerstand leisteten die Frauen beispielsweise auch, indem sie in dem Arbeitskommando, das kleine Nähzeuge für Soldaten vorbereitete, kleine anti-nationalsozialistische Nachrichten beilegten.384

Im Gegensatz zu den Formen des Widerstands, die sich gegen die SS-Mitglieder richteten, ging die Solidarität auf die Bedürfnisse der Häftlinge ein. In den nächsten zwei Unterkapiteln werden der Handlungsspielraum und die Formen der Solidarität mit einigen Beispielen vorgestellt. Trotz dieser gegenseitigen Hilfeleistungen lebten die Frauen im Konzentrationslager in einem ständigen Überlebenskampf und litten unter großem psychischen und physischen Stress. Deshalb funktionierten hier die früher geltenden sozialen Regeln nur begrenzt, und viele Frauen begannen im Lager einen Kampf „Eine gegen alle“ zu führen.385

Spielräume für solidarisches Handeln

Der Handlungsspielraum für Solidarität wuchs parallel zu den sich verschlechternden Lebensbedingungen im Lager, die mit der Überfüllung und der „nicht ausreichenden“ Kontrolle seitens der SS zusammenhingen. Die Wirksamkeit und die praktische Anwendung der Hilfe wurden allerdings stets geringer, weil die Frauen immer weniger Mittel dafür besaßen und der Kreis der Hilfsbedürftigen immer größer wurde. Solidarität wurde entweder von einzelnen Personen oder von Gruppen ausgeübt, wobei im Konzentrationslager Ravensbrück die Gruppensolidarität vorherrschend war.386 Sie funktionierte vor allem bei den Gruppierungen, die auf mindestens eine Gemeinsamkeit aus der Zeit vor ihrer Inhaftierung zurückgreifen konnten, wie zum Beispiel auf gleiches politisches Interesse, militärische Ziele oder die gemeinsame Angehörigkeit zu einer Nation.387 Die Frauen, die trotz aller drohenden Strafen helfen wollten, mussten sich zum einen in einem körperlich und geistig guten Zustand befinden und zum anderen gewisse Lebensumstände im Lager vorfinden.

Um selbst überleben und dabei noch anderen helfen zu können, bedurfte es eines großen Überlebenswillens, der Freundschaft oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe und einer festen religiösen bzw. politischen Überzeugung.388 Im Gegensatz zu den Männern spielte bei den Frauen auch die äußere Erscheinung eine wichtige Rolle. Soweit es möglich war, bemühten sich die Frauen daher um einen sauberen Körper, Haare und Kleidung, da dies ein bedeutendes Symbol des Lebens darstellte. Dagegen war ein ungepflegter Häftling ein Beweis für dessen innere Aufgabe, wodurch der SS ein Grund zur Selektion gegeben war. „[…] Mir war völlig bewusst, dass der Kampf um die einfache Sauberkeit von Körper und Kleidung auch ein Teil des Kampfes gegen den verhassten Feind war, der uns als Menschen vernichten wollte […]. Alle Frauen im Lager wußten ja, dass es zu den wichtigsten Voraussetzungen des Überlebens gehörte, seelisch standhaft zu bleiben, und dies fand auch darin Ausdruck, wie man sich kleidete.“389

Nicht jede Frau im Lager konnte helfen, wenn man Solidarität nur als materielle Hilfe betrachtet, weil viele Häftlinge über zu wenig eigene Mittel verfügten. Dies änderte sich im Oktober 1942, als in Ravensbrück der Empfang von Lebensmittelpaketen erlaubt wurde, wovon gerade die tschechischen Frauen sehr profitierten.390 Viele der Inhaftierten hatten noch Familienangehörige zu Hause, die ihnen zusätzliches Essen zuschickten. Nicht alle Häftlinge im Lager hatten die gleichen Rechte, so wurde beispielsweise den Nacht-und-Nebel-Häftlingen und den Kriegsgefangenen untersagt, Lebensmittelsendungen zu empfangen.391 Diese Pakete wurden bei den Tschechinnen oft unter mehreren Frauen aufgeteilt, die eine feste Gruppe bildeten. In Ausnahmenfällen, wie beispielsweise an Weihnachten, wurden die Pakete unter allen auf dem Block, die kein eigenes Paket bekommen hatten, verteilt.392 „Das Päckchen war natürlich für uns fünf. Ich bekam immer kleine Päckchen, aber von guter Qualität, […] Milka bekam hauptsächlich viel Kuchen und hausgemachtes Gebäck, Mařenka ein gutes Brot. Mit all diesen Sachen wirtschaftete unsere kleine Mařenka Kachnička gerecht .“393 Natürlich gab es auch unter den Tschechinnen Frauen, die ihre Pakete nicht teilen wollten, alles alleine aßen und die Lagerverpflegung zum Tausch mit anderen im Lager nutzten. Sie bekamen dafür saubere oder bessere Kleidung, Seife oder warmes Wasser und wurden von den Mithäftlingen aus der Lagergesellschaft und von jeglicher Hilfe ausgeschlossen.394

Solidarität stellte nicht nur eine materielle, sondern auch eine mentale Unterstützung für andere dar. Ein passendes Wort von einem Mithäftling in einer angespannten Situation konnte den Überlebenswillen stärken und dadurch genauso wie mit einem Stück Brot in materieller Hinsicht helfen. Viele tschechische Häftlinge erwähnen in ihren Erinnerungen an das Lager neben der Aufnahmeprozedur und den ersten Wochen, als sie sich dort einleben mussten, die Frauen Milena Jesenská und Jožka Jabůrková. Diese beiden besuchten alle neu angekommenen Tschechinnen im Quarantänenblock, in dem sie für die ersten drei Wochen untergebracht waren, sprachen ihnen Mut zu und gaben erste Überlebenstipps für die Zeit im Lager.395

Die letzte Möglichkeit der Solidaritätsausübung konnte nur von einem bestimmten Kreis von Häftlingen geleistet werden. Die Funktionshäftlinge waren aufgrund ihrer Arbeitseinteilung eher in der Lage zu helfen als alle anderen. So konnten beispielsweise die Frauen, die in der Schreibstube arbeiteten, den Arbeitseinsatz einzelner Häftlinge bis zu einem bestimmten Grad beeinflussen. Dies bedeutete, dass die am meisten gefährdeten oder geschwächten Frauen eine leichtere Tätigkeit zugewiesen bekamen oder in die verschiedensten Außenlager verlegt wurden.396 Ein weiteres Beispiel für diese Form der Solidarität waren die Frauen, die im Waschraum arbeiteten. Trotz des Verbots und der hohen Strafen, die auf einen Verrat folgen würden, wuschen sie täglich die Kleider ihrer Mitgefangenen. Außerdem wurden Kleidungsstücke, Seife, Zahnbürsten, Besteck und Schüsseln aus der Effektenkammer organisiert, da die Frauen bei einem Verlust streng bestraft worden wären.397 Die Funktionshäftlinge besaßen somit den größten Spielraum anderen zu helfen. Doch trotz der Überfüllung des Lagers in den letzten Monaten vor der Befreiung waren es die SS-Leute, welche die Möglichkeiten zu helfen begrenzten.398

Unabhängig vom Revier, unterstützten die Frauen hauptsächlich ihre Freundinnen oder Bekannten, die sie entweder erst im Lager kennengelernt haben oder die sie bereits aus der Zeit vor der Einlieferung kannten. Eine Ausnahme bildete die Lagerweite Unterstützung der Kinder, denen allen ohne Unterschied geholfen wurde. Im Konzentrationslager Ravensbrück waren mindestens 881 Kinder im Alter zwischen zwei und 16 Jahren untergebracht, wie aus den Zugangslisten zu entnehmen ist. Sie kamen entweder mit ihren Müttern in das Lager oder alleine, wenn die Mutter auf dem Transport gestorben war.399 Die Waisen wurden dann von fremden Frauen im Lager aufgenommen, und diese kümmerten sich um sie, als wären es ihre eigenen Kinder. Sie passten auf sie auf, und sehr oft entwickelten sich daraus feste Beziehungen, die der Verbindung zwischen einer leiblichen Mutter und ihrem Kind sehr ähnlich waren.400 Nach dem Krieg kehrten mehrere Kinder mit den Tschechinnen in deren Heimat zurück, und ein Teil von ihnen blieb auch dort.401 Im Lager wurde versucht ihnen zu helfen, um die Lebensbedingungen für sie etwas erträglicher zu machen. Die Kinder mussten nämlich bereits ab dem vierten Lebensjahr mit den Erwachsenen Appellstehen und wurden ab dem zwölften Lebensjahr zum Arbeiten eingesetzt.402 Die Frauen sammelten Essen für sie, strickten Socken und kleine Pullover in ihrer Freizeit, was zwar nicht erlaubt war, aber von der SS geduldet wurde,403 und organisierten für sie zu Weihnachten 1944 sogar ein Kasperletheater. „Die Tschechinnen haben Puppenköpfe gebastelt, die Polinnen haben sie bemalt und die Kleider dazu genäht, aus der Schneiderei haben wir Abfälle organisiert.“404 Für die Kleinsten haben sich die Frauen genauso zusammengeschlossen wie die Häftlingsärztinnen und Häftlingskrankenschwestern für die Kranken im Revier.

Beispiel: Das Krankenrevier

Das Krankenrevier war ein Ort des Sterbens, des Tötens, der Selektionen und der medizinischen Versuche. Es war aber auch ein Ort, an dem die Häftlinge ihre Solidarität dem anderen gegenüber ausüben konnten.405 Ebenso wie der Rest des Lagers wurde das Krankenrevier aufgrund der zunehmenden Häftlingszahlen und dem Einsatz ihrer Arbeitskraft in den Betrieben weiter entwickelt, erweitert und teilweise modernisiert, sodass man heute zwei Phasen unterscheiden muss. Das Revier I, von 1939–1942, und das Revier II, von 1943–1945.406 Das Revier I bestand aus zwei H-förmigen, miteinander verbundenen Baracken. Im Inneren befanden sich mehrere Zimmer für das Personal, eine Schreibstube, eine Apotheke, ein Untersuchungsraum und fünf Krankenzimmer.407 Nach der Aussage von Dr. Maria von Grabská arbeiteten dort nur zwei Ärzte und Krankenschwestern, die entweder der SS unterstellt oder staatlich geprüfte Krankenschwestern waren. Häftlinge übten im Revier eher administrative Tätigkeiten aus.408 Die Aufgabe der Ärzte bestand nicht nur in der Behandlung der Häftlinge, sondern sie waren auch für das SS-Personal, für die Wachmannschaften und für die Aufseherinnen zuständig, wobei diese Gruppen für sie mit Sicherheit mehr Prioritäten besaßen als die Häftlinge.409 Zu dieser Zeit hatten die Insassen sehr wahrscheinlich noch kaum Möglichkeiten anderen zu helfen. Diese Situation änderte sich zum einen 1942, als mehrere polnische Frauen für die Arbeit im Revier I aufgenommen wurden, und zum anderen hauptsächlich 1943, als Dr. Treit die Stelle des Oberarztes übernahm und alle Aufgaben auf die Häftlinge, die nach ihren Qualifikationen ausgesucht wurden, übertrug. Im Jahr 1944 arbeiteten vier deutsche, drei tschechische, 15 polnische, acht französische und vier oder fünf russische Ärztinnen im Revier.410

Ab dem Jahr 1943 verfügte das Krankenrevier über einen Operationssaal mit Röntgenapparat, den eine tschechische Ärztin namens Mláda Taufrová, bediente, über ein Labor und mehrere kleine „Ordinationen“, wie zum Beispiel Abteilungen für Gynäkologie, HNO, Chirurgie und Innere Medizin. Hier arbeitete die Tschechin Zdena Nedvědová.411 Da auch unter diesen Bedingungen eine legale Hilfe für die Häftlinge kaum möglich war, weil zu wenig Medikamente zur Verfügung standen und alle medizinischen Maßnahmen von der Oberschwester genehmigt werden mussten, versuchten die Häftlinge sich auf andere Weise zu helfen.412 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, an dieser Stelle alle illegalen Taten der Solidarität im Krankenrevier anzuführen, weshalb hier nur eine kleine Anzahl von Beispielen genannt werden kann, die unmittelbar mit den tschechischen Häftlingen in Verbindung stehen.

Hanka Housková, eine Dolmetscherin und Krankenschwester im Revier, erzählte, wie die Hilfeleistungen für die Häftlinge funktionierten. „[…] Dies musste alles koordiniert werden, mit den Stubenältesten, mit den Blockältesten, mit dem Revier und der Kommandantur, denn überall haben Häftlinge gearbeitet. Das war fantastisch, wie diese Kette funktionierte.“413 Aus diesem Bericht geht eindeutig hervor, dass alles, was im Krankenrevier passierte, hauptsächlich aus dem Mut der Funktionshäftlinge resultierte. Sie versuchten, auf verschiedene Arten zu helfen. Eine Möglichkeit die Frauen von der Arbeit zu befreien und ihnen die Chance zu geben, sich ein bisschen auszuruhen oder sie vor einem Transport zu retten, war die Aufnahme in das Krankenrevier. Das war aber nicht so einfach, weil der Häftling mindestens 39,3 °C Fieber haben musste, um für eine Untersuchung zu einem Arzt zugelassen zu werden.414 An dieser Stelle griff nun Hanka Housková in das Geschehen ein. Sie sollte die Beschwerden der Kranken übersetzen, wobei sie allerdings oft genau die Symptome aufzählte, die im Vorfeld mit Dr. Zdenka Nedvědová abgesprochen worden waren. Danach musste sie Fieber messen, wozu sie ein zweites Fieberthermometer benutzte, das immer auf 39,3 °C eingestellt war. Daraufhin kam der Häftling dann zu Dr. Zdenka Nedvědová, die eine Diagnose stellte, welche genau den vorher beschriebenen Symptomen entsprach. Zum Schluss musste der Oberarzt die Diagnose bestätigen, was er jedoch immer tat, da er sich die kranken Frauen nicht einmal ansah.415 Auf diese Weise wurden sogar mehrere Frauen vor einem Transport gerettet, denn die SS-Leute durften ohne die Erlaubnis des Oberarztes keinen Häftling aus dem Krankenrevier abholen.416

Eine andere Tschechin, die im Krankenrevier in der Schreibstube arbeitete, wo sie die Laborergebnisse bezüglich Geschlechtskrankheiten der neu angekommenen Frauen verwaltete, war Milena Jesenská. Sie versuchte, die Ergebnisse zu fälschen, weil kranke Frauen besonders gefährdet waren, für medizinische Versuche ausgewählt oder getötet zu werden.417 Auch Věra Picková fälschte Blutproben, weil alle Frauen auf Geschlechtskrankheiten untersucht werden mussten, bevor sie aus dem Konzentrationslager entlassen wurden. 418

Zusätzlich wurden Medikamente illegal für die kranken Frauen organisiert, weil die offiziell ausgegebenen Mengen nicht ausreichten. In der Revierapotheke arbeitete eine Tschechin namens Božena Sirotková, die stets versuchte, bei der Medikamentenausgabe mehr rauszugeben, als von der Oberschwester erlaubt war. Medikamente konnten auch aus dem Bad organisiert werden, da die neu angekommenen Häftlinge nach der Aufnahmeprozedur alles abgeben mussten, was sie bei sich hatten, häufig waren auch Medikamente darunter. Danach wurde versucht, die Medikamente unbeobachtet in das Krankenrevier zu bringen.419

Viele ältere Frauen und besonders Frauen aus Lidice lehnten von sich aus eine Behandlung im Revier ab, weil sie zu viel Angst hatten, dort getötet zu werden. Ältere Frauen, die keinen festen Arbeitseinsatz hatten, bemühten sich so wenig als möglich aufzufallen, weil bei einer Selektion gerade die Frauen mit grauen Haaren und angeschwollenen Beinen ausgewählt wurden. Die Frauen aus Lidice waren aber ebenso eine gefährdete Gruppe, da nicht einmal die Lagerleitung genau wusste, was mit ihnen geschehen sollte. Diese Frauen wurden von Frau Zdenka Nedvědová und Hanka Housková in der Mittagszeit oder in der Freistunde auf ihren Blöcken behandelt.420 Um die Frauen, die für einen Transport bestimmt waren, zu retten, wurden ihre Nummern mit denen von Verstorbenen vertauscht oder ihre Namen vorsichtig aus den Transportlisten radiert. Hanka Housková nennt in ihrem Bericht die Tschechin Katrin Smrkovskou, welche die Namen für die Todestransporte fälschte.421

Die Hilfe, die im Krankenrevier von den Häftlingsärztinnen verschiedener Nationen geleistet wurde, war nicht nur für eine Gruppe von Häftlingen bestimmt. Es wurde jedem geholfen, der Hilfe benötigte, ohne dabei jemanden wegen seines Haftgrundes oder seiner Nationalität zu bevorzugen. So beschreibt Zdenka Nedvědová die damals herrschende Lagersituation.422 Was aber in keinem Fall verschwiegen werden sollte, ist die Tatsache, dass nicht allen geholfen werden konnte. Musste unter den Hilfsbedürftigen eine Wahl getroffen werden, so kam die Hilfe bevorzugt den Mitgliedern der eigenen Nation oder den eigenen Freunden zugute.423

Tschechinnen in Erinnerungen anderer Gefangener

Das Konzentrationslager Ravensbrück war von Anfang an ein internationales Lager. In ihm waren Frauen aus vielen verschiedenen Ländern inhaftiert, die gegen das nationalsozialistische Regime kämpften oder von den Nationalsozialisten als Mitglieder einer minderwertigen Rasse eingestuft worden waren. Sie stammten aus den verschiedensten sozialen Schichten, hatten einen unterschiedlichen Bildungsgrad, übten vor der Verhaftung verschiedene Berufe aus, hatten unterschiedliche politische Meinungen und sprachen selten eine gemeinsame Sprache. Es bedurfte nur weniger der oben genannten Merkmale, um die Entstehung einer Freundschaft im Lager zu beeinflussen und manchmal sogar zu verhindern. War es überhaupt möglich, im Lager eine freundschaftliche Beziehung oder einen Kontakt zwischen zwei Frauen aus zwei Nationen herzustellen, oder galt dies nur für Frauen aus dem gleichen Land? Die Frauen im Lager wurden von der SS in verschiedene Kategorien eingeteilt, beispielsweise nach dem Haftgrund, nach der Länge der Haft oder nach Nationszugehörigkeit. Die SS verfolgte damit das Ziel, die Kontaktaufnahme unter den Gruppen zu erschweren und die Zusammenarbeit im Lager zu verhindern.424

Um genau das Gegenteil zu erreichen, schufen die Gruppen eine Art Selbstorganisation, um sich durch eine gegenseitige Zusammenarbeit helfen und unterstützen zu können. An der Spitze der Lagerhiearchie, die von der SS bestimmt wurde, standen die deutschen „politischen“ und „kriminellen“ Häftlinge, am unteren Ende befanden sich hingegen die wegen ihrer Rasse Verfolgten, nämlich die Juden, Sinti und Roma. Im Bereich dazwischen änderte sich die Stellung der nach Haftgrund und Nationalität unterteilten Gruppen je nach Kriegssituation. Mit der Ankunft der Frauen aus den neu besetzten Gebieten rückten die „Althäftlinge“ auf der Skala nach oben.425 Aufgrund der Tatsache, dass die ersten tschechischen Häftlinge mit Kriegsbeginn in das Lager eingewiesen worden waren, viele deutsch sprachen426 und in der Rassentheorie nicht als Untermenschen galten, „sondern als Angehörige einer benachbarten Bevölkerung, die man zeitweise sogar eindeutschen wollte,“427 standen sie auf dieser Skala relativ weit oben, was ihnen die Möglichkeit gab, als Funktionshäftlinge zu arbeiten und dabei Kontakte zu anderen Gruppen aufzunehmen.428

Es waren vor allem die Tschechinnen, die dieses Prinzip der Selbstorganisation verfolgten. Eine herausragende Rolle nahm dabei Jožka Jabůrková ein,429 die als Erste eine illegale kommunistische Organisation gründete und auch leitete. In dieser Organisation hatte jede Nationalität ihre Vertreter und es wurden alle wichtigen Fragen besprochen.430 Nach dem Tod von Jožka Jabůrková traten zwei deutsche Kommunistinnen an ihre Stelle. Die polnischen Häftlinge bildeten einen eigenen Freundeskreis, weil sie die größte Nationalitätengruppe im Lager waren, ebenso wie die Bibelforscherinnen und die Kriegsgefangenen der Roten Armee. Es handelte sich hier um eine sehr geschlossene, größtenteils homogene Gruppe von Frauen, die bereits vor der Einlieferung in das Lager dieselben Interessen hatten wie beispielsweise gemeinsame politische oder religiöse Ziele und Überzeugungen.431 Ausschlaggebend für eine solche Gruppenbildung war die gemeinsame Sprache, weil die Frauen oft zusammen auf einem Block untergebracht waren und keine Verständigungsprobleme hatten.432 Bis heute erinnern sich mehrere tschechische Frauen an ihre Kameradinnen aus dem Lager, weil viele Freundschaften auch noch nach der Befreiung erhalten blieben.433 Stellten Frauen in einem Arbeitskommando eine Minderheit dar oder waren ganz alleine, dann schlossen auch sie Bekanntschaften mit ausländischen Frauen und lernten entweder deren Sprache oder verständigten sich auf deutsch. An eine solche Bekanntschaft mit Polinnen erinnert sich Frau Skleničková. Sie arbeitete in der Häftlingsküche, wo sie die einzige Frau aus Tschechien war, und da die meisten Frauen aus Polen kamen, lernte sie relativ schnell polnisch.434

Freundschaften zwischen verschiedenen Nationalitäten waren keine Besonderheit, wobei diese nicht von großen Gruppen geschlossen wurden, sondern als „private Angelegenheit“ galten und meist nur aus einer kleinen Gruppe von zwei oder drei Frauen bestanden. Viele von ihnen brachten nach der Befreiung kleine Adressbücher mit nach Hause, in denen Adressen und Namen von Frauen aus ganz Europa verzeichnet waren, die sie während ihrer Inhaftierung kennengelernt hatten.435

Die tschechischen Häftlinge wurden als sehr freundlich und kameradschaftlich beschrieben, 436 was auch wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ihnen in der Not die Hilfe von anderen Nationalitäten nicht untersagt wurde. Hierfür gibt es ein Beispiel aus den Erzählungen von Hanka Housková. Sie arbeitete über drei Jahre im Krankenrevier, und während dieser Zeit wurde sie nie krank, bis zum Februar 1945. „[…] in der allerschlimmsten Zeit bekam ich eine eitrige Angina.[…] Nach dieser Angina habe ich Endokarditis bekommen, da war ich am Sterben.“437 Um Hanka Housková behandeln zu können, war es notwendig, Zuckerspritzen zu organisieren, die zu dieser Zeit selbst in der SS-Apotheke nicht mehr vorrätig waren. Zur selben Zeit bekamen aber schon manche Häftlinge, unter ihnen die Norwegerinnen, Rotkreuzpakete mit Glukoseampullen. „Dann kamen die Norwegerinnen mit ihren Glukoseampullen, eine nach der anderen. So bin ich gerettet worden.“438

Des Weiteren wurden die tschechischen Häftlinge als Frauen mit großem Interesse an Kultur und politischer Bildung bezeichnet,439 und beides wurde, wie bereits erwähnt, im Lager auch in größerem Umfang praktiziert. Unvergessen blieb auch das Engagement der Tschechinnen im Krankenrevier. „[…] ein Maximum an Aufmerksamkeit zu widmen, ein freundliches Lächeln zu schenken, geschickt und zartfühlend zuzugreifen … – dies alles brachte Zdenka fertig, die jeder in Ravensbrück beim Vornamen kannte und von der keiner wußte, wie sie mit Familiennamen hieß.“440 Sie hieß Zdenka Nedvědová-Nejedlá und bekam den Spitznamen „Die Sonne des Lagers.“441

In ihren Erinnerungen beschreiben viele ehemalige weibliche Häftlinge zum Themen „Solidarität und Hilfe im Lager“ häufig allein die positiveren Erfahrungen, da sie die negativen in vielen Fällen bewusst oder unbewusst verdrängt oder gar vergessen haben.442 Trotzdem müssen hier auch die schlechtesten Erinnerungen an die Tschechinnen miteinbezogen werden. Frau Germaine Tillion erinnerte sich beispielsweise an einige tschechische Blockältesten, die im Lager nur für sich selbst arbeiteten und anderen nicht halfen. Ganz besonders blieb ihr die Blockälteste aus dem Block 31 in Erinnerung, die ihr Verhalten nach dem Evangelium von Lukas ausrichtete. „Denn wer da hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, von dem wird genommen auch das, was er meint zu haben.“443

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es viel gegenseitige Hilfe unter den Häftlingen gegeben hat, diese durfte jedoch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, da die Hilfsmittel begrenzt waren und ein jeder um sein eigenes Überleben kämpfen musste.

Anmerkungen:
376 Die Österreicherin Helene Potetz führte dieses im Interview am 12. Februar 1976, zitiert nach Hermann Langbein: … nicht wie die Schafe zur Schlachtbank. Widerstand in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern 1938–1945, Frankfurt am Main 1980, S. 175.
377 Bernhard Strebel: „Sabotage ist wie Wein.“ Selbstbehauptung, Solidarität und Widerstand im FKL Ravensbrück, in: Füllberg-Stolberg u.a. (Hrsg.), Frauen, S. 167–192, hier S. 170.
378 Jozef Marszalek: Majdanek. Konzentrationslager Lublin, Warszawa 1984, S. 147.
379 Strebel, Sabotage, S. 171.
380 Ebd., S. 171f.
381 Kladivová/Krutinová, Der Frieden, S. 188.
382 Strebel, Sabotage, S. 173–178.
383 Ebd., S. 174.
384 Krutinová, Wir fahren, S. 43.
385 Sofsky, Die Ordnung, S. 320.
386 Strebel, Sabotage, S. 170.
387 Sofsky, Die Ordnung, S. 148.
388 Strebel, Sabotage, S. 168f.
389 Diesen Artikel schrieb eine nach Auschwitz deportierte Frau, zitiert nach Janet Anschütz/Kerstin Meier/Sonja Obajdin: „… dieses leere Gefühl, und die Blicke der anderen …“ Sexuelle Gewalt gegen Frauen, in: Füllberg-Stolberg u.a. (Hrsg.), Frauen, S. 123–133, hier S. 132.
390 Strebel, Die Lagergemeinschaft, in: Füllberg-Stolberg u.a. (Hrsg.), Frauen, S. 79–87, hier S. 82.
391 Ebd., S. 82.
392 Diese Verteilung geschah am 24.12.1944, ein Bericht von Květoslava Klicmanová. Klicmanová, Ausgewählte Erinnerungen, S. 36.
393 Nedvědová-Nejedlá, Ihre Erinnerungen, S. 22.
394 Kladivová/Krutinová, Der Frieden, S. 178.
395 Hanka Housková, Interview am 27.2.1992 in Prag mit Loretta Walz; Věra Hozáková, Interview am 28.4.2001 in Ravensbrück mit Loretta Walz; Haunerová, Ankunft, S. 86.
396 Kladivová/Krutinová, Der Frieden, S. 180.
397 Ebd., S. 178.
398 Strebel, Das KZ, S. 239.
399 Britta Pawelka: Als Häftling geboren – Kinder in Ravensbrück, in: Füllberg-Stolberg u.a. (Hrsg.), Frauen, S. 157–165, hier S. 161.
400 Strebel, Das KZ, S. 170.
401 Kladivová/Krutinová, Der Frieden, S. 178.
402 Strebel, Das KZ, S. 170.
403 Dagmar Hájková/Hanka Housková: Děti [Kinder], in: Hájková (Hrsg.), Ravensbrück, S. 132–142, hier S. 136f.
404 Bericht von Hermine Jursa, zitiert nach Strebel, Sabotage, S. 187.
405 Strebel, Das KZ, S. 242; Hájková/Housková, Das Lager, S. 41–50; Zpráva o revíru koncentračního tábora pro ženy Rawensbrück [Ein Bericht über das Krankenrevier im Konzentrationslager für Frauen Ravensbrück], Hamburg 1945, OVS/KT–OVS, Karton 53/35, SZAP.
406 Strebel, Das KZ, S. 249–251.
407 Doris Masse, Plan des Krankenreviers, zitiert nach Strebel, Das KZ, S. 249f.
408 Ein Bericht über das Krankenrevier im Konzentrationslager für Frauen Ravensbrück.
409 Strebel, Das KZ, S. 242f.
410 Ein Bericht über das Krankenrevier im Konzentrationslager für Frauen Ravensbrück.
411 Hájková/Housková, Das Lager, S. 49f.
412 Zpráva o revíru koncentračního tábora pro ženy Rawensbrück [Ein Bericht über das Krankenrevier im Konzentrationslager für Frauen Ravensbrück.
413 Hanka Housková, zitiert nach Loretta Walz: „Und dann kommst du dahin an einem schönen Sommertag“. Die Frauen von Ravensbrück, München 2005, S. 183.
414 Hanka Housková, Interview am 27.2.1992, mit Loretta Walz.
415 Hanka Housková und Zdenka Nejedla zitiert nach Walz, „Und dann kommst du dahin an einem schönen Sommertag,“ S. 183f.
416 Hanka Housková, Interview am 27.2.1992 mit Loretta Walz.
417 Wágnerová, Milena Jesenská. Alle meine Artikel, S. 177f.
418 Věra Picková, zitiert nach Walz: „Und dann kommst du dahin an einem schönen Sommertag,“ S. 177f.
419 Nedvědová-Nejedlá, Ihre Erinnerungen, S. 24.
420 Nedvědová-Nejedlá, Ihre Erinnerungen, S. 21 und 27; Christa Schulz: Hanka Housková, Oranienburg 1995, S. 13.
421 Bericht von Antonia Bruha, zitiert nach Heike/Strebel: Häftlingsselbstverwaltung, S. 94; Hanka Housková, Interview am 27.2.1992 mit Loretta Walz; Elling, Frauen, S. 40.
422 Nedvědová-Nejedlá, Ihre Erinnerungen, S. 24; Buber-Neumann, Milena, S. 173. Milena Jesenská half vielen sogenannten Asozialhäftlingen; Hanka Housková, Interview am 27.2.1992 mit Loretta Walz.
423 Irma Trksak, zitiert nach Strebel, Die Lagergesellschaft, S. 86.
424 Dienstvorschrift FKL Ravensbrück, S. 16f, zitiert nach Strebel, Das KZ, S. 240.
425 Strebel, Die Lagergemeinschaft, S. 80.
426 Strebel, Das KZ, S. 238. Er schließt es aus dem Blockbuch von Block 1 für den Zeitraum 1940–1943, weil hier nur Funktionshäftlinge untergebracht waren, unter ihnen viele Tschechinnen. DÖW, Akt 162, ARa.
427 Sofsky, Die Ordnung, S. 140.
428 Strebel, Die Lagergemeinschaft, S. 80.
429 Jožka Jabůrková starb am 31. Juli 1942 im Bunker des Lagers. Holečková, Die Tschechinnen, S. 220.
430 Ebd.
431 Strebel, Die Lagergesellschaft, S. 83.
432 Sofsky, Die Ordnung, S. 182.
433 Panyová, Anna, S. 81; Hozáková, Und es war doch, S. 41f.; Hrubá, [Ohne Titel], S. 53.
434 Skleničková, Als Junge, S. 72.
435 Mehrere Exemplare brachten Frauen aus Lidice nach Hause und liegen im Archiv des Museums Lidice.
436 Helga Schwarz/Gerda Szepansky (Hrsg.): Frauen-KZ Ravensbrück … Und dennoch blühten Blumen, Dokumente, Berichte, Gedichte und Zeichnungen vom Lageralltag, Potsdam/Großbeeren 2000, S. 36.
437 Hanka Housková, zitiert nach Walz, „Und dann kommst du dahin an einem schönen Sommertag“, S. 185.
438 Ebd.
439 Tillion, Frauenkonzentrationslager, S. 219.
440 Ebd., S. 220.
441 Nedvědová, Ihre Erinnerungen, S. 25.
442 Strnadová, Ravensbrück, S. 59.
443 Das Evangelium, zitiert nach Tillion, Frauenkonzentrationslager, S. 220.