Sexualpolitik des Faschismus

Über den Text

Rundbriefe der Zeitung des … der Roten Falken Oesterreichs
Mai 1937, 10 Groschen

Sexualpolitik des Faschismus

In Oesterreich wurde vor kurzem der Paragraf 144 verschärft. Abtreibung wird noch schwerer bestraft und die Zahl der Frauen, die die Abtreibung, ohne zum Pfuscher zu gehen, vornehmen lassen können, noch mehr eingeschränkt.

Diese Erschwerung kommt
trotz Kinderelend, trotz der immer mehr steigenden Verwahrlosung der Kinder, trotz Massenarbeitslosigkeit auch unter den Schulentlassenen nicht zufällig. Der faschistische Staat hat eigentlich schon eine riesige Armee von Arbeitslosen als Reserve für den Krieg. Kann er eine grössere Kinderzahl brauchen, wenn er zu schwach ist, um die furchtbare Not dieser Generation zu XXXXXXXXXXXXXXX

Wir müssen versuchen, die Massnahmen des Faschismus auch unter einem anderen Gesichtswinkel zu verstehen. Es geht ihm nicht nur um eine grosse Kinderzahl. Der tiefere Sinn des verschärften Abtreibungsparagrafen ist ein ganz anderer. Er hängt mit einigen ähnlichen Massnahmen zusammen.

Die koedukative Erziehung, also die gemeinsame Erziehung der Geschlechter wird überall verboten und stark eingeschränkt. Das freie gemeinsame Wandern von Burschen und Mädeln ist verpönt. Nacktbadende auf den Inseln der Donau werden von der Polizei wie Verbrecher verfolgt. Der Vertrieb von Schutzmitteln durch Automaten, die Reklame für diese Mittel wurde verboten. Die Kinderfreibäder dürfen von Buben und Mädeln nur an verschiedenen Tagen besucht werden. Die klerikale Ehegesetzgebung wurde verschärft und man hat sogar einzelne nackte Denkmäler angezogen. Sexuelle Verbote auf allen Linien und zur gleichen Zeit.

Diese Verbote sind aber nur wirksam, wenn die Menschen sie in ihr Inneres als selbstverständliche Gebote aufnehmen. Deswegen von Kind auf verstärkte religiöse Erziehung. Deswegen der ungesetzliche Kampf gegen konfessionslose Kinder. Deswegen der Zwang zum Besuch des Gottesdienstes. Deswegen wird der Mittel- und Hochschulunterricht für Mädchen erschwert und eingeschränkt. Deswegen soll es in der Bildung zwischen Mann und Frau wieder einen riesigen Unterschied geben. Der Bildungsunterschied soll den Anschein erwecken, dass Man und Frau nicht gleichberechtigt sein können. Einst sangen wir in der freien Jugendbewegung: „Mann und Weib und Weib und Mann, Sind nicht Wasser mehr und Feuer. Um die Leiber schlingt ein neuer Friede sich. Wir blicken freier Mann und Weib uns fürder an.“

Damit soll jetzt Schluss sein zwischen Mann und Frau, zwischen Bursch und Mädel soll eine tiefe Kluft aufgerissen werden. Warum das alles? Warum sehen sie Sittlichkeit, was uns Angst, Lebensunlust, Kraftlosigkeit bringt? Warum statt Lebensglück sinnlose Askese?

Der Mensch kommt von Natur aus mit zwei wichtigen Lebenstrieben ausgestattet auf die Welt; Nahrungstrieb und Sexualtrieb. Der Nahrungstrieb ist unwandelbar. Wenn er nicht befriedigt wird, geht der Mensch zugrunde. Der Sexualtrieb aber, die lebensspendende, schöpferische Kraft im Menschen, ist von eigentümlich wandelbarer Natur. Er ist unzerstörbar, immer von gleicher unhemmbarer Kraft, aber er kann sich von seinem Ziel abwenden und anderen Leistunden zugewendet werden. Unsere mächtige, wundervolle Kultur, die im Kapitalismus nur einer dünnen Schicht zugute kommt, wurde erkauft, nicht nur durch Verzicht auf materielle Güter, sondern auch durch Triebverzicht. Die grossen sozialen Einrichtungen, vor allem die Familie können nur bestehen durch Triebeinschränkungen, durch sexuelle Verbote. Diese Einschränkungen, in einer gesunden Gesellschaft notwendig und schöpferisch, werden heute, in Zeiten der Gefährdung des kapitalistischen Systems ins Unnatürliche, Ungesunde, Untragbare gesteigert. Der Kapitalismus muss die Rebellion im Innern verhindern und braucht nach aussen kriegsbereite Menschen. Menschen, die auf sexuelles Glück verzichten, die sich immer wieder einprägen: Sünde, Unmoral, Verletzung der göttlichen Gebote, Unsittlichkeit – müssen den grössten Teil ihrer seelischen Kräfte verwenden, um ihre gesunden, natürlichen, glückbringenden Regungen niederzuhalten.

Ihre Enerie geht verloren im Kampf mit sich selber. Sie können aber ihre Wünsche und Triebe nicht dauernd bändigen. Immer wieder kommen neue, verbotene Regungen an die Oberfläche. Die Erziehung durch unvernünftige Eltern, durch die Kirche, durch die autoritäre Schule, durch die faschistischen, militärischen „Jugendführer“ kann nur erreichen, dass die Menschen einen Teil ihrer ewigen, durchbrechenden Triebe zu ihrem verbietenden, versagendem Herrn, zu ihrem strafenden Wächter machen. Die innerliche anerzogene „Moral“ sorgt viel besser für die Einhaltung der faschistischen Gebote, als Befehle und Verbote von aussen. Jetzt bleibt keine Kraft mehr übrig für den Kampf um bessere Lebensbedingungen. Im Gegenteil: das ewige Vorbild für die verbietende Instanz in unserem Innern, der riesige Vater Staat, personifiziert durch den „Führer“, der noch grössere und noch weniger kontrollierbare Gott-Vater soll besonders verehrt und seine Gebote befolgt werden. Die blinde Anerkennung des Führers, des Chefs im Betrieb, des Kommandanten in der Armee ist die Folge der Angst vor dem mächtigen Verbieter in unserem Innern. Je mehr unser Gewissen uns versagt, verbietet, je mehr wir uns vor ihm fürchten, desto mehr Energie opfern wir auch denen, die heute herrschen und deren einziges Ziel die Verhinderung der Rebellion und die Vorbereitung des Krieges ist.

Sexuell glücklichere Menschen, sexuell befreite Menschen, Menschen ohne ungesunde Selbstvorwürfe für natürliches Verlangen können nicht Faschisten sein. Jetzt wird es verständlich, warum die befreite Frau immer in der ersten Reihe der Revolution steht. Jetzt verstehen wir, warum sich die Befreiungsbewegung der Frau immer mit der Befreiungsbewegung der Arbeiter verbinden muss.

Nur Menschen mit gesunder Moral, die schon dieser Welt glücklich sein wollen, haben genügend Kräfte frei, für den revolutionären Kampf.

Sexualverbote, Sexualversagung, innerliche Sexualverneinung – das bedeutet Denkhemmung, Angst, Autoritätsglaube, Religiosität, Kriegsbegeisterung, Kampf gegen die Revulotion.
Sexualfreiheit, bedeutet Bereitschaft zum Lernen, Denkfähigkeit, Glücksfähigkeit, Verachtung der Autorität, Mut, Glaube an die Revolution.

Sexualfreiheit heisst aber nicht Verantwortungslosigkeit. Sexualfreiheit heisst bewusstes, natürliches, befriedigendes Zusammenleben von Mann und Frau, von Bursch und Mädel. Jeder hat die Verantwortung für das Glück, für die persönliche Entwicklung des Partners. Diese Verantwortung aber können nur wissende, innerlich befreite Menschen auf sich nehmen und tragen.

Wie verstehen, warum wir unsere Jugend freier erziehen, warum wir für die Koedukation sind, für sexuelle Aufklärung und sexuelle Erziehung, gegen die „Gesetze“ der Faschisten.“

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