Zionismus oder der Kampf um die nationale Wiedergeburt

Von Julius H. Schoeps
[aus: Zionismus. Texte zu seiner Entwicklung, Dreieich, Wiesbaden 1983, hrsg. v. Julius H. Schoeps]

Ideologische Strömungen im Zionismus

Heftige innerzionistische Auseinandersetzungen über Ziele und Wege des Zionismus kennzeichnen die nachherzlsche Periode. Obgleich in der grundsätzlichen Auffassung mehr oder weniger einig, dass die Judenfrage gelöst werden müsse, gab es ideologische Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisationen über Strategie und Taktik zukünftiger zionistischer Politik. So sind in dieser Zeit zwei wichtige ideologische Tendenzen feststellbar, einerseits die auf Herzl zurückgehende Tendenz des Primates der politisch-territorialen Lösung, andererseits die auf Chibbath Zion und Achad Jaam zurückgehende Tendenz nach unmittelbarer Verknüpfung mit Palästina, die sich in praktischer Arbeit im Lande ohne vorherige politische Sicherung ausdrücken sollte. Von dieser deutlichen Auseinandersetzung zwischen politisch-diplomatischem und praktischem Zionismus abgesehen, ist für den Betrachter die Vielfalt der ideologischen Gruppierungen innerhalb der Bewegung aber äußerst verwirrend, vor allem, weil der Eindruck erweckt wird, als ob diese Gruppierungen sich unablässig gespalten und kaleidoskopartig immer wieder neu formiert haben. Die Gründe hierfür sind vermutlich in der Erklärung zu suchen, dass diejenigen Juden, die sich zur zionistischen Idee bekannten, aus den verschiedensten Gesellschaftsordnungen und Kulturbereichen kamen. Die Schwierigkeiten, die sich hieraus ergaben und noch ergeben, liegen auf der Hand. Ohne hier nun auf die Geschichte und Organisation der zionistischen Bewegung im einzelnen eingehen zu wollen, soll trotzdem versucht werden, die vier ideologischen Hauptrichtungen zu skizzieren, wie sie sich innerhalb der Bewegung in den Sozialistischen Parteien, den Zentrumsparteien, den Religiösen Parteien und den Rechtsparteien darstellen.[25]

Sozialistische Parteien

Im Zionismus haben sozialistische Gedankengänge schon früh eine große Rolle gespielt, wenngleich sich zionistisch-sozialistische Gruppierungen aus ideologischen Gründen nur langsam entwickeln konnten.[26] Hemmend wirkte sich vor allem aus, dass nichtjüdische Sozialisten den Zionismus als besondere Erscheinungsform des Nationalismus ablehnten, obwohl vor 1914 viele sozialistische Theoretiker trotz des prinzipiellen Internationalismus nationalen Bestrebungen durchaus positiv gegenüberstanden. So meinte Engels, eine internationale Bewegung des Proletariats sei überhaupt nur zwischen selbständigen Nationen möglich. Kautsky, Lenin, Stalin und andere Sozialisten, die sich mit der nationalen Frage befassten, forderten das Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen, wobei sie jedoch widersprüchlicherweise die „Judenfrage“ ausklammerten, wenn sie von der sozialistischen Politik der Selbstbestimmung sprachen. In der Regel wurde aber von dem Axiom ausgegangen, dass im privatkapitalistischen System die wahren Interessengegensätze ausschließlich aus der durch die objektive Interessenlage bedingten Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie herrühren. Aus dieser Theorie ergab sich fast zwangsläufig die Folgerung, dass nationale Bestrebungen nicht der objektiven Interessenlage der Mehrheit der Bevölkerungen entsprechen, sondern vornehmlich dazu dienen, das kapitalistische Ausbeutersystem aufrechtzuerhalten und die Massen von ihren wahren Interessen und dem Kampf hierfür abzulenken. Das Programm der nationalen Selbstbestimmung, wie es der Zionismus vertrat, wurde deshalb von den meisten nichtjüdischen Sozialisten als eine Gefährdung des Internationalismus angesehen, was letzten Endes in ihren Augen einen Schritt zurück bedeuten musste auf dem Wege zu der erstrebten sozialistischen Revolution.

Dass der Zionismus ein Nationalismus im herkömmlichen Sinn sei, wurde von den sozialistischen Zionisten bestritten, insofern sie darauf hinwiesen, dass die „Judenfrage“ keine rein nationale, sondern gleichzeitig eine soziale Frage sei. Ähnlich den Austromarxisten Karl Renner und Otto Breuer vertraten sie die Auffassung, dass der Kampf der geschichtslosen und unterdrückten Nationen wesentlich ein sozialer Kampf sei, der den Zionismus als nationale Emanzipationsbewegung rechtfertige. Insbesondere Ber Brochow versuchte die jüdische Nationalbewegung mit dem marxistischen Sozialismus einschließlich der Klassenkampf-Doktrin zu erklären. Entsprechen diesen Vorstellungen trat die Arbeiterpartei Poale Zion, deren marxistische Ideen noch heute in den Parteien Mapai und Mapam in Israel fortleben, für die Schaffung eines Territoriums in Palästina auf dem Wege der Kolonisation ein. Würden dann noch die entsprechenden Arbeitsplätze geschaffen, so die Ideologie des Poale-Zionismus, dann könne zum Klassenkampf übergegangen und ein jüdisch-sozialistisches Gemeinwesen geschaffen werden. Mit anderen Worten: Nationale und soziale Befreiung sollte in zwei aufeinanderfolgenden Etappen erfolgen, wobei die nationalen Fragen Vorrang haben und der Klassenkampf zurückzustellen sei zugunsten der nationalen Befreiung und der Normalisierung der Produktionsbedingungen.

In der jüdischen Arbeitbewegung kamen jedoch nicht nur die marxistischen Ideen der Poale Zion zum Zuge, sondern es sind auch sozial-revolutionäre Einflüsse der russischen Narodniki-Bewegung festzustellen, die vor allem in der von Hapoel Hazair beeinflussten Zeire Zion („Jugend Zion“) zum Tragen kamen. Im Gegensatz zu der marxistischen Poale Zion, die eine Erlösung des jüdischen Proletariats durch die sozialistische Revolution erhoffte, verwarf man hier den Klassenkampfgedanken und den Begriff „Proletariat gleich Lohnarbeit“ zugunsten eines „volkssozialistischen“ Programms, in dem gefordert wurde, die jüdische sozialistische Bewegung müsse sich auf die ganze arbeitende Schicht im jüdischen Volk stützen bzw. das Volk erst zu einem Leben der Arbeit erziehen.[27] Starke Einflüsse auf diesen „Volkssozialismus“ und die auf dieser Theorie entstehende Chaluz-Bewegung hatten hier die Ideen Nacham Syrkins, der in seinen Schriften weniger den objektiven Produktionsbedingungen als dem menschlichen Willen die entscheidenden Möglichkeiten zuwies, die gesellschaftlichen Strukturen zu formen.[28] Ähnlich argumentierte auch Aron David Gordon, der beeinflusst von den Ideen russischer Sozialrevolutionäre und Tolstois Idealisierung des bäuerlichen Lebens die Auffassung vertrat, das jüdische Volk, das im Galut ein parasitäres Leben führe, könne nur dadurch befreit werden, dass es durch das Mittel der Arbeit wieder in direkte Berührung mit dem Boden und der Natur komme. Mit dieser metaphysischen Begründung der zionistischen Arbeiterbewegung, in der sich Sozialismus und Nationalismus in eigentümlicher Weise mischten, hat Gordon eine Lehre von der „Religion der Arbeit“ geschaffen, die noch heute in weiten Kreisen Israels als Ideologie, Dogma und Norm gilt.

Gleichgültig welcher Strömung innerhalb des sozialistischen Zionismus mehr Gewicht zugemessen wird, ob Hapoel Hazair oder Poale Zion, die verschiedenen Einflüsse sind zu einer weitgehend einheitlichen Arbeiterbewegung zusammengeflossen. Manche Gruppen, wie der linke Flügel der Poale Zion, der aus der Zionistischen Organisation in Lenins Dritte Internationale drängte, standen zwar in Opposition zu der Einheit der jüdischen Arbeiterparteien, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass die zionistische Politik entscheidend von sozialistischen Vorstellungen geprägt worden ist.

Zentrumsparteien

Der Begriff „Zentrumsparteien“ kann für eine Strömung innerhalb der zionistischen Bewegung angewandt werden, die wir unter der Bezeichnung „Allgemeiner Zionismus“ kennen. Wichtig ist die Betrachtung dieser Hauptströmung innerhalb der zionistischen Bewegung deshalb, weil sie das Produkt einer längeren Entwicklung vor und während der Mandatszeit darstellt. Ursprünglich beherrschte der diplomatisch-politische Zionsmus Herzls die Zionistische Organisation. Als aber die Führungsgremien die Aussichtslosigkeit einer palästinensischen Charterpolitik erkannten, begann sich, nicht zuletzt unter der Wirkung und Lehre von Achad Haam und Martin Buber, eine Neuorientierung zionistischer Politik zu vollziehen. Nach einer Reihe von Jahren voll erbitterter Kämpfe gelangte der Klärungsprozess zu einem gewissen Abschluss, und es konnte sich auf dem X. Zionistenkongress 1911 der „Synthetische Zionismus“ Weizmanns durchsetzen, der in der Zukunft wesentlicher Bestandteil zionistischer Ideologie werden sollte.

Die Vertreter des Allgemeinen Zionismus waren lange die bedeutendsten Gruppierungen im Weltzionismus. Sie zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie die Judenfrage durch die gleichzeitige Verwirklichung dreier eng miteinander verbundener Forderungen zu lösen suchten: Palästina, Nationalautonomie, Gleichberechtigung. Als nationale Juden „haben wir das Recht“, so schrieb Nachum Goldmann, „gleich allen Völkern aufzutreten, unser Schicksal autonom zu gestalten. […] Zentrum und Basis unseres Volkstums ist unser altes Land. Daher fordern wir Palästina“. Aber ebenso findet die Existenzform der Diaspora, in der vielleicht für immer die Majorität des jüdischen Volkes leben wird, bei den Vertretern des Allgemeinen Zionismus Anerkennung. „Wir bejahen sie und wollen auch hier als Volk leben. Daher verlangen wir nationale Autonomie.“ Endlich: „Überall sind wir Glieder der einzelnen Staaten; wir bejahen diese Tatsache; wir bekennen uns zu den Staatsgemeinschaften und fühlen uns als ihre vollwertigen Glieder. Daher fordern wir volle Gleichberechtigung.“[29]

Religiöse Parteien

Obgleich die messianische Zionssehnsucht als wesentlicher Bestandteil der jüdischen Religion anzusehen ist, war das Echo unter den gesetzestreuen Juden auf die Aufforderung Herzls zur „Heimkehr zum Judentum“ und zur „Rückkehr ins Judenland“ unterschiedlich. Das Spektrum der Äußerungen reichte von einhelliger Ablehnung bis zur vorsichtigen oder begeisterten Zustimmung. Manchen orthodoxen Juden erschienen die zionistischen Bestrebungen als unvereinbar mit den religiösen Vorstellungen des Judentums. Von anderen hingegen wurde der Zionismus nicht als Widerspruch empfunden, insofern sie die Judenheit als eine nationalreligiöse Gemeinschaft empfanden und sich vom Zionismus die Vollziehung der talmudischen Forderung erhofften, unbehindert durch assimilatorische Strömungen und eine thorafremde Kulturwelt in Palästina ein jüdisches Leben streng nach den Gesetzen führen zu können.

Um die Erfüllung des Baseler Programms mit den Vorschriften der Thora sicherzustellen, wurde von einer Anzahl überlieferungstreuer Juden im Jahre 1902 der Sisrachi (merkas ruchani – geistiges Zentrum) gegründet. „In unserem Programm“, so bestimmte es der erste Delegiertentag des Verbandes, „ist für keinerlei Arbeiten und Unternehmungen Platz, die nicht eine unmittelbare Beziehung zum politischen und praktischen Zionismus haben. Jedoch obliegt es den örtlichen Gruppen, sich mit kultureller Arbeit zu befassen nach Maßgabe unserer heiligen Religion und Thora.“[30] Diese programmatische Forderung entsprach in der historischen Fortsetzung der bereits im 19. Jahrhundert. von den Rabbinern Hirsch-Kalischer, Elia Gutmacher, Samuel Mohilever und anderen geäußerten Überzeugung, eine nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes könne nur unter Berücksichtigung der religiösen Überlieferungen angestrebt werden. Wie immer der Misrachi zu politischen Forderungen des Zionismus im einzelnen stehen mochte – er erblickte im zionistischen Programm eine Lösung der politisch-wirtschaftlichen und kulturell-religiösen Judennot. Kurz gesagt: Von dieser Voraussetzung aus war für den Misrachi die Möglichkeit gegeben, als Sonderverband der Zionistischen Organisation mit den übrigen Zionisten aller Schattierungen zusammenzuarbeiten.

Die Auseinandersetzungen um die „Kulturfrage“ sollten aber auch an der Misrachi nicht spurlos vorübergehen. Als auf dem 10. Zionistenkongress im Sommer 1911 in Basel die Forderung, Kulturfragen und Kulturarbeiten wie bisher den einzelnen Fraktionen zu überlassen, von den Delegierten abgelehnt wurde, spaltete sich die Organisation. Ein Teil der Misrachi formierte sich außerhalb der zionistischen Bewegung und ging mit bisher noch nicht organisierten orthodoxen Juden in der Agudas Jsroel (Bund Israels) auf, um ihre absolute Unabhängigkeit von jedem anderen Willen außer der Thora zu manifestieren. Religionsgemeinschaft und nationale Einheit waren ihrer Auffassung nach diametral voneinander geschieden. Und sie hielten es für ausgeschlossen, einer Vereinigung beizutreten, die sich nicht voll der Thora verpflichtet fühlte. Aber wenn ihre Glaubensvorstellungen ihnen auch verboten, einen jüdischen weltlichen Staat anzustreben, so bleib doch immerhin das talmudische Gebot, in Palästina zu leben. Und obgleich während der Mandatszeit und bis zur Staatsgründung antinational und antizionistisch, so hat die Weltorganisation der Agudas Jisroel durch Organisation der Einwanderung und Ansiedlung von orthodoxen Juden in Palästina doch einen wesentlichen Teil zur späteren Staatsgründung beigetragen.

Misrachi und Agudas haben zu allen Zeiten, die einen in der Zionistischen Organisation, die anderen im heutigen Staat Israel, die schwersten Probleme aufgeworfen. Beiden Richtungen ging stets die Religion vor der nationalen Idee. Ihre Vorstellungen von einem Aufbau des jüdischen Gemeinwesens auf traditionell-gesetzestreuer Religionsanschauung laufen auf einen rein theokratischen Staat hinaus, was bis zum heutigen Tage das politische Leben in Israel belastet und die Gefahr eines Kulturkampfes in sich birgt.

Rechtsparteien

Innerhalb der Zionistischen Organisation bildete sich neben den bereits skizzierten Richtungen auch ein revisionistischer Flügel, der sich im April 1925 unter der Führung Vladimir Jabotinskys in Opposition gegen die herrschende zionistische Richtung Weizmanns konstituierte. Der Name Zionisten-Revisionismus erklärt sich durch die Tendenz der Gruppe, die zionistische Politik der Nachkriegszeit zu „revidieren“ im Sinne der Rückkehr zu der Herzlschen Idee des Judenstaates. Entsprechend dieser Zielsetzung nannte Jabotinksy in offensichtlicher Anlehnung an Herzls programmatische Schrift sein 1938 veröffentlichtes Buch „Der Judenstaat“.

Die Revisionisten bezichtigten die Leitung der Zionistischen Organisation, vor allem Chaim Weizmann, einer inneren Abkehr von den überkommenen zionistischen Idealen. Die Vorwürfe gipfelten in der Anschuldigung, die Zionistische Organisation verfolge eine falsche Politik, insbesondere auf dem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Sektor. Bevor eine solche Arbeit in Palästina in Angriff genommen werden könne, das war die einhellige Auffassung unter den Revisionisten, müssten erst politische Machtmittel geschaffen werden. Darunter verstanden sie die Schaffung einer jüdischen Legion und das Einwirken auf die Mandatsmacht, die Einwanderung und Kolonisation tatkräftig zu fördern, insbesondere durch Übersiedelung und entsprechende legislative und administrative Maßnahmen in Palästina. Um diese beiden Forderungen durchzusetzen, bedürfe es einer energischen jüdischen Politik, einer „politischen Offensive“, so argumentieren sie, die alle Macht des jüdischen Volkes einsetze. Als ersten Schritt, dieses Ziel zu erreichen, hielten sie es deshalb für notwendig, die offizielle Sprachregelung zu bekämpfen, wonach der Zionismus ein Nationalheim und keinen jüdischen Staat fordere. Aus diesem Grund verstand die Revisionistische Partei zu allen Zeiten die Balfour-Erklärung als Verpflichtung zur Schaffung eines Staates. Dies sei ihr einziger Sinn gewesen und „jede Zielsetzung, die etwas anderes erstrebt“, so wurde von ihnen formuliert, „lehnen wir ab“.[31]

Der von Jabotinsky und seinen Anhängern vertretene Revisionismus verstand sich selbst nicht als der Niederschlag einer reaktionären Ideologie, wie seine Gegner behaupteten, sondern als legitimer Verwalter der Zionistischen Idee. Selbst wenn man heute gewillt ist, unter Berücksichtigung der damaligen jüdischen Situation gegenüber manchen Erscheinungen der revisionistischen Ideologie nachsichtig zu sein, so sind doch die Vorwürfe ihrer Gegner nicht zu unterschätzen. Immerhin haben die Revisionisten das Primat einer unbedingten Machtpolitik vertreten, was ihnen zwangsläufig die Anschuldigung eingebracht hat, faschistische oder halb-faschistische Gedankengänge zu vertreten. Ihr Großraumdenken, das zu dem Vorsatz führte, Palästina beiderseits des Jordans militärisch erobern zu wollen, war jedenfalls nicht dazu angetan, diese Anschuldigung zu entkräften. Hinzu kam, dass die Revisionisten in scharfem Gegensatz zur jüdischen Arbeiterschaft standen, insofern sie ein Programm für den wirtschaftlichen Aufbau Palästinas entwickelten, in dem das Prinzip der privatkapitalistischen Wirtschaft und das Prinzip der Ablehnung eines jeden Klassenkampfes wesentliche Hauptbestandteile waren. Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die Revisionisten nur eine Minderheit waren, so haben sie dennoch die zionistische Bewegung nachhaltig beeinflusst. Einige Programmpunkte der revisionistischen Ideologie wurden im Laufe der Jahre Allgemeingut. Und manches, was an der heutigen israelischen Politik Kopfzerbrechen bereitet, hat im revisionistischen Selbstverständnis seine Wurzeln.

Zionismus und Assimilation

Die häufig geäußerte Annahme, die Juden hätten fast zwangsläufig den Zionismus als nationale Emanzipationsbewegung begrüßen müssen, unterschätzt zumeist den Stellenwert der Assimilation und Emanzipation in der historischen Entwicklung. Gabriel Riesser, einer der entschiedensten Vorkämpfer der vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden in Deutschland, schrieb bereits 1831 in einer Streitschrift: „Wir sind nicht eingewandert, wir sind eingeboren, und weil wir es sind, haben wir keinen Anspruch anderswo auf Heimat; wir sind entweder Deutsche, oder wir sind heimatlos.“[32] Dieser Ausspruch Riessers entspricht der Einstellung der meisten Juden, die sich in Deutschland verwurzelt fühlten und sich um die Emanzipation bemühten. Wie die historische Entwicklung beweist, wurde zwar die staatsbürgerliche Gleichstellung schrittweise erreicht, die Assimilation ist aber nirgendwo in diesem Sinne geglückt, dass der Jude als solcher in der deutschen Umwelt restlos untergegangen wäre. In vereinzelten Fällen mag Taufe und Mischehe zu einem solchen Ergebnis geführt haben, im allgemeinen blieb aber der durch viele Jahrhunderte gebildete und ererbte jüdische Wesenskern bei aller Anpassung des äußeren Leben und der geistigen Einstellung erhalten. Dass ein vollständiges Aufgehen im Deutschtum nicht erreicht wurde, ist wohl hauptsächlich damit zu begründen, dass die Juden zwar durchaus zur Assimilation bereit waren, jedoch nicht unter der Bedingung der völligen Aufgabe ihres Jude-Seins, was letzten Endes von der Umwelt als unvereinbar mit der deutschen Nationalität ausgelegt wurde. Dichter wie Heinrich Heine und Jakob Wassermann haben in ihren Schriften Zeugnis abgelegt von der aus diesem Zwiespalt resultierenden inneren Unsicherheit vieler Juden. Selbst Walther Rathenau, von der Möglichkeit der Symbiose zwischen Deutschtum und Judentum zutiefst überzeugt, wurde „ein beklommenes Gefühl der Einengung und Verlassenheit […] nicht los“[33] und fühlte sich immer von neuem schmerzlich daran erinnert, „dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“[34]

Emanzipation und Assimilation haben jenen Typus des entwurzelten Juden geschaffen, der nirgends zugehörig, sich einer ständigen Identitätskrise befand. Ob es nun die Entscheidung für den Zionismus oder für das Deutschtum war, beide Einstellungen waren jeweils Ausdruck einer notwendigen persönlichen Entscheidung, die von subjektiven Überzeugungen, Erfahrungen und Empfindungen motiviert wurde. Es ist deshalb durchaus verständlich, dass diejenigen Juden, die sich zur Assimilation und für das Deutschtum entschieden, sich durch eine besondere Art gesellschaftlichen und politischen Wohlverhaltens auszeichnen wollten. Das konnte sich in einem mitunter übertrieben und demonstrativ zu Schau getragenen Patriotismus, getreu Rathenaus Vorschlag äußern: „Wer sein Vaterland liebt, der darf und soll ein wenig Chauvinist sein.“[35] Oder es konnte häufig zu der politischen Tendenz führen, die jüdische Gemeinschaft überhaupt zu verleugnen. In der Regel wollten aber die Juden, auch wenn sie sich zu Deutschland bekannten, wie es Jakob Toury treffend zum Ausdruck gebracht hat, „ihr jüdisches Stammes- oder religiöses Empfinden respektiert wissen, selbst wenn sie persönlich sich dessen nur noch schwach bewusst waren.“[36]

Eine Gründung wie der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der als ein Abwehrinstrument gegen den Antisemitismus 1893 ins Leben gerufen worden war, hatte zwar zu einem Erstarken des jüdischen Gruppenbewusstseins um die Jahrhundertwende beigetragen, stand jedoch, als Herzls Judenstaatsgedanke aufkam, diesem ablehnend gegenüber. Das Assimilationsjudentum sah im Zionismus eine rückläufige Bewegung, die die Entwicklung des Judentums zu einer freien, allweltlichen, rein universal-religiösen Gemeinschaft aufhalte. Gleichzeitig wurde im Zionismus eine Gefahr für die staatsbürgerliche Stellung der in Deutschland lebenden Juden erblickt, die seit der Emanzipation gerade durch Aufgabe der nationalen Hoffnungen des Judentums errungen worden war.„Der [zionistische] Standpunkt“, so formulierte es Ludwig Holländer, „schlägt nicht nur unsere innerste Überzeugung geradezu ins Gesicht, sondern widerspricht auch vollkommen unseren Wünschen und unseren Hoffnungen. Er ist uns so fremd wie möglich“[37] Noch deutlicher wird die ablehnende Haltung des Assimilationsjudentums an Vereinigungen, wie dem „Verband nationaldeutscher Juden“ oder dem „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“, in denen sich zunehmend national-deutsch-konservative Juden organisiert hatten, die nicht daran dachten, Zionisten zu werden, sondern sowohl Deutsche wie Juden sein und bleiben wollten. In diesen Verbänden wurde keinerlei historische oder kulturelle Gemeinsamkeit mit den Millionen Juden außerhalb Deutschlands anerkannt. Die Vorstellung, die Juden seien eine Nation unter anderen, stieß bei den nationaldeutschen Juden auf Ablehnung. „Jüdisch-national ist derjenige Jude“, so formulierte der Berliner Rechtsanwalt Max Naumann, „der mit jedem anderen Gliede des über die Welt zerstreuten jüdischen Stammes sich durch unlösliche Bande des Blutes verknüpft fühlt, der innerhalb der Gesamtheit der Menschen den engeren Kreis der Stammesgenossen als Gefühlsgemeinschaft der Kultur eine Nationalität ableitet.“[38] Diesen Anschauungen entsprechend wurden die deutschen Zionisten vom Verband der nationaldeutschen Juden aufgefordert, „entweder auszuwandern oder als Fremde sich so zu verhalten wie jeder Ausländer.“[39]

Die Vereinbarkeit der jüdisch-nationalen Heimstätte in Palästina mit der Zugehörigkeit zum Wohnvaterland ist nicht nur von den nationaldeutsch-konservativen Juden, sondern auch von vielen Zionisten als logische Unmöglichkeit angesehen worden. Jakob Klatzkin argumentierte in diesem Sinne, indem er auf die Unmöglichkeit hinwies, als Jude in der Diaspora zu leben und zu wirken. Entsprechend dieser Einstellung wurde auf dem Posener Delegiertentag 1912 gegen erbitterten Widerstand der Beschluss durchgesetzt, dass jeder deutsche Zionist die Übersiedlung nach Palästina in sein Lebensprogramm aufzunehmen habe.[40] Und es war ebenfalls kein Widerspruch in dieser Einstellung, wenn manche Zionisten forderten, die Juden sollten sich der Teilnahme an den Wahlen zu öffentlichen Körperschaften ihrer Wirtsvölker enthalten oder nur höchstens sich daran zu beteiligen, soweit jüdische Interessen zu vertreten wären.[41] Wenn auch die meisten Zionisten nicht so radikal wie Klatzkin in ihrer Forderung an das Diaspora-Judentum waren, so sind sie sich doch mit ihm in der Auffassung einig, dass der Jude nur in Palästina ein „würdiges, freies und schöpferisches Leben“ erwarten kann. Der hier zugrundliegende Nations- und Gemeinschaftsbegriff, der Judentum und Deutschtum voneinander ausschloss, hat zu mancherlei geistreichen und tiefsinnigen Überlegungen Anlass gegeben. Die Gedankengänge Martin Bubers, Max Brods, Gustav Landauers und vieler anderer sind noch heute überzeugend und lehrreich,[42] nicht zuletzt deshalb, weil sie beweisen, dass innerhalb der zionistischen Organisation tiefgehende Unterschiede in den Grundanschauungen über die Beziehungen zwischen Nation, Individuum und Menschheit vorhanden waren.

Der ohne Zweifel vorhandene völkische Anspruch des Zionismus brachte die Nationaljuden in eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den antisemitischen deutsch-völkischen Theoretikern. Vor allem als der Nationalsozialismus in Deutschland aufkam, hatten die Zionisten großen Zulauf, denn ihre „völkische“ Interpretation des Judentums entsprach dem herrschenden „Zeitgeist“. Die nach den Nürnberger Gesetzen ausgegebene zionistische Devise:„Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“[43] musste das deutschgesinnte Judentum in völlige Ratlosigkeit versetzen und ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen. Diese Devise entsprach schließlich der Forderung der deutschen Machthaber nach Dissimilation der beiden „Völker“. So paradox es klingen mag, aber Nationalsozialisten und Zionisten haben sich hier in der Auffassung entgegengearbeitet, das Deutschtum der Juden sei als etwas Widernatürliches zu betrachten oder allenfalls als ein Irrtum, der schleunigst korrigiert werden müsse.

Der Fortgang der Geschichte hat zwar die zionistische Position in vieler Hinsicht bestätigt. Ob aber der zionistische Anspruch, nur ein nationaler jüdischer Staat könne die Erfüllung des Judentums darstellen, nicht auf Kosten der assimilationswilligen Juden gegangen ist, mag als Frage dahingestellt bleiben. Die hierzu geführten Auseinandersetzungen, die die innerjüdische Diskussion in den frühen 30er Jahren bestimmt haben, sind heute kaum mehr nachzuvollziehen oder stoßen auf völliges Unverständnis. Fest steht aber, dass die meisten deutschen Juden in ihrem Selbstverständnis den Prozess der Assimilation abgeschlossen hatten. Die Bereitschaft, sich zu integrieren, war vorhanden. Das nationalsozialistische Deutschland hat diese Bereitschaft nicht akzeptiert – sie wird sich in dieser Vorbehaltlosigkeit so schnell nicht mehr wiederholen.

Zionismus und Araberfrage

Es ist geradezu unverständlich, dass in den Anfängen der zionistischen Ideologie der Araberfrage fast kaum Bedeutung zugemessen wurde. Theoretisch hätten sich die zionistischen Pioniere der Frühzeit mit den in Palästina lebenden Arabern arrangieren können, jedoch nur, das muss einschränkend gesagt werden, wenn sie die Notwendigkeit des Ausgleichs wirklich eingesehen hätten. Viele Unstimmigkeiten wären dadurch vermieden und manche Probleme, die heute den israelisch-arabischen Konflikt als unlösbar erscheinen lassen, aus der Welt geschafft worden. Die zumeist aus Europa stammende zionistische Führung war jedoch, das wird in den gegenwärtigen Diskussionen leider allzu oft übersehen, von der illusionären Vorstellung bestimmt, in einem politischen Vakuum zu agieren. Bezeichnend ist der Ausspruch, den Max Nordau angeblich gegenüber Herzl 1897 getan haben soll: „In Palästina gibt es ja Araber! Das wusste ich nicht! Wir begehen also ein Unrecht!“[44] Die Geschichte mag erfunden sein, doch kennzeichnet sie im Kern die Einstellung der zionistischen Führung, die Palästina für ein leeres Land hielt, das nur darauf wartet, von jüdischen Siedlern kolonisiert und kultiviert zu werden. Die Möglichkeit einer einheimischen Opposition wurde völlig übersehen. In den Schriften von Hess, Kalischer, Pinsker, Herzl und anderen ist nur wenig über die palästinensischen Araber zu finden. Und wenn einmal von ihnen die Rede ist, dann nicht von ihren historischen Ansprüchen und ihrem Lebensrecht in Palästina. Nicht zu Unrecht hat deshalb Nahum Goldmann in seinen Erinnerungen geschrieben, dass es „einer der großen historischen Denkfehler des Zionismus“ gewesen sein, „dass er den arabischen Aspekt bei der Gründung des jüdischen Heimatlandes nicht ernsthaft genug zur Kenntnis genommen“[45] habe.

Im Großen und ganzen spiegelt dieser Mangel an Voraussicht geradezu den Geist der Zeit. Herzl und seine Freunde waren sich in den Anfängen der zionistischen Bewegung überhaupt nicht bewusst, dass die Leidtragenden der von ihnen anvisierten Politik die palästinensischen Araber sein würden. Ihre Einstellung gegenüber den Arabern war insoweit eindeutig, als sie nur in jüdisch-zionistischen Perspektiven dachten. Ihr Denken entsprach schließlich auch der weitverbreiteten Auffassung um die Jahrhundertwende in Europa, dass der Kolonialismus ein notwendiger Schritt sei, um den Völkern Asiens und Afrikas die „Errungenschaften der europäischen Zivilisation“ näher zu bringen. Das Sendungsbewusstsein der Zionisten wird deutlich an einem Satz Herzls, der für viele andere stehen darf und in seinem „Judenstaat“ nachzulesen ist: „Für Europa würden wir dort (Palästina) ein Stück des Walles gegen Asien bilden; wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“[46] Ohne Zweifel spiegelt ein solcher Ausspruch, der in Schriften, Tagebüchern und Reden auch anderer führender Zionisten in abgewandelter Form immer wieder zu finden ist, indifferente Einstellungen der zionistischen Ideologie gegenüber dem Araberproblem wider. Wie immer dem gewesen sein mochte, Amos Elon urteilt gerecht, wenn er die Haltung der führenden Zionisten in der Frühzeit als eine „Mischung von Naivität, Wunschdenken, patriarchalischem Wohlwollen und Ignoranz“[47] bezeichnet.

Vor dem ersten Weltkrieg gab es nur wenige Stimmen, die davor warnten, die Araber als unmündig zu missachten oder wie Barbaren zu behandeln. Vermittelnde Vorschläge von Männern wie dem Philosophen Achad Haam oder dem Lehrer und Schriftsteller Jizchak Epstein stießen auf taube Ohren. Voll und ganz in Anspruch genommen von dem Vorhaben, in einem unwirtlichen und fremden landstrich Fuß zu fassen, betrachteten die Zionisten der ersten Stunde die arabische Frage als eine Frage von geringerer Wichtigkeit und hofften, dass das Problem, indem sie es ignorierten, sich von selbst lösen würde. Anstatt Überlegungen anzustellen, wie es gelingen könnte, mit den Arabern zu einer Verständigung zu kommen, hörten sie lieber auf jene Männer, die wie Israel Zangwill kategorisch forderten: „Gebt das Land ohne Volk einem Volk ohne Land.“[48] Auch die wenigen arabisch-zionistischen Ausgleichsversuche vor dem ersten Weltkrieg waren zum Scheitern verurteilt, nicht so sehr weil die Araber einer Verständigung entgegenstanden, sondern weil die Zionisten den zukünftigen politischen Stellenwert der arabischen Nationalbewegung unterschätzten und darüber hinaus auch nicht bereit waren, Konzessionen gegenüber den nationalen Aspirationen der palästinensischen Araber zu machen.[49]

Zu der indifferenten Haltung der Zionisten gegenüber der Araberfrage kam noch hinzu, dass alle Fortschritte im Aufbau der „Nationalen Heimstätte“ die soziale und kulturelle Kluft zwischen Arabern und Juden weiter vertiefte.[50] Schon deshalb musste eine mögliche Verständigung in weite Ferne rücken. Die Vorstellung, die jüdische Kolonisation in Palästina würde den Arabern zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen, wie sie von Max J. Bodenheimer auf dem VII. Zionisten-Kongress in einer Rede[51] vertreten wurde, war insofern illusorisch, als bereits auf dem V. Kongress 1901 die Eliminierung arabischer Arbeitskräfte aus jüdischen Unternehmen und Besitzungen beschlossen worden war. Dieser Beschluss, der zurückging auf die von Gordon beeinflusste Losung „Avoda Ivrit“ (Jüdische Arbeit), zielte auf die Einrichtung eines völlig separaten wirtschaftlichen Sektors für die Neueinwanderer ab. Weitsichtige Persönlichkeiten, wie Arthur Ruppin, warnten vor dieser eingeschlagenen Entwicklung, doch fanden ihre Einwände keinerlei Widerhall. Menachim Ussischkin – er war derjenige, der Herzls Niederlage in der Uganda-Frage verursacht hatte – brachte den vorherrschenden Standpunkt 1905 in einer Broschüre mit dem Titel „Unser Programm“ deutlich zum Ausdruck. Ussischkin schrieb hier: Um einen „Judenstaat in Palästina“ zu schaffen, ist es notwendig, „dass der ganze Boden Palästinas oder wenigstens sein größter Teil jüdisches Eigentum werde“. Um dieses Ziel zu erreichen hielt Ussischkin es unter anderem „ein für allemal notwendig, die arabischen Arbeiter durch Juden zu ersetzen.“[52]

Selbst die jüdische Arbeiterbewegung war nicht bereit, ihre national-jüdischen Interessen der Klassensolidarität unterzuordnen. Ihre Vertreter waren überzeugt, dass die Geschichte sie von jeder Schuld freisprechen würde, zumal sie keinem Araber sein Land wegnehmen, sondern nur „ihr historisches Geburtsrecht durch den Schweiß auf ihrer Stirn wiederverdienen“ wollten. Rückblickend erscheint diese Politik der „Avoda Ivrit“ die entscheidende zionistische Maßnahme vor der Staatsgründung gewesen zu sein, schließlich war diese Frage der Beschäftigung jüdischer Arbeitskräfte mehr als alles andere, mehr als die internationale Politik verantwortlich für das Entstehen eines tiefen Abgrundes zwischen Arabern und Juden in Palästina.

Sicherlich haben aber auch Balfour-Erklärung und englisches Palästina-Mandat das Ihre dazu beigetragen, den Konflikt zu institutionalisieren, und im weiteren mitgeholfen, dass beide Volksgruppen sich immer stärker auseinanderentwickelt haben. Erst als die Araber sich gegen die Nationlheimpolitik der Engländer, die sie von ihrem Selbstverständnis her als eine bewusste koloniale Beherrschungstechnik ansehen mussten, zur Wehr setzten und jüdische Siedlungen überfielen, begannen viele Zionisten langsam zu begreifen, was eigentlich auf dem Spiele stand. Auf dem XII. Zionisten-Kongress warnten viele Stimmen, dass der totale Krieg unvermeidlich sein würde, falls die Zionisten nicht energische Anstrengungen in Richtung auf eine friedliche Lösung hin machten.[53] Arthur Ruppin zog aus der aufkeimenden Erkenntnis die Konsequenz, wenn er in seinem Tagebuch resignierend bemerkte: „Ein jüdischer Staat von einer Million oder sogar einigen Millionen (in fünfzig Jahren) wird nichts anderes sein als eine neues Montenegro oder ein neues Litauen. Es gibt schon genug Staaten auf der Welt.“[54]

Auf Anregung von Arthur Ruppin wurde 1926 der „Brith Schalom“ (Friedensbund) gegründet, dem führende Intellektuelle und Professoren der Hebräischen Universität beitraten. Aufgabe von „Brith Schalom“ sollte es sein, „das Problem der jüdisch-arabischen Beziehungen [zu] erforschen und auf Mittel und Wege [zu] sinnen, das Verhältnis der beiden Völker zu verbessern.“[55] Vorschläge wurden erarbeitet, die die ökonomische und kulturelle Kooperation bis in die Einzelheiten festlegten. Grundsätzlich sollte die arabische Volksgruppe in ihren nationalen und bürgerlichen Rechten den Juden gleichgestellt werden. Das entsprach den Vorstellungen Ruppins, der sich eine Verständigung mit den Arabern durch eine binationale Staatenlösung versprach. Zeitweise befürwortete auch Ben Gurion den binationalen Staat. Weizmann schrieb, dass seine eigenen Ansichten denen von „Brith Schalom“ nahe stünden, dass aber eine „lange Erziehungsperiode nötig sein würde, ehe sich die Zionisten mit der Realität abfinden würden.“[56] Nach den Worten Arthur Ruppins sollten „Juden und Araber Seite an Seite als zwei gleichberechtigte Volksgruppen leben können.“ Ausdrücklich negierte Ruppin während des XVI. Zionisten-Kongresses in Zürich jedweden Herrschaftsanspruch der Juden in Palästina. „Wir wollen uns freihalten von dem Irrtum, der ein Jahrhundert hindurch Europa beherrschte und zu der Katastrophe des Weltkrieges führte, dass in diesem Staate nur eine Nationalität herrschen kann […] Wir wollen den Chauvinismus, den wir bei anderen Völkern hassen, auch bei uns selbst bekämpfen.“[57]

Die Idee des Zwei-Nationalitätenstaates konnte sich jedoch nicht gegen die Opposition der Mehrheit in der zionistischen Organisation und gegen die Vorstellungen der Araber durchsetzen. Der Historiker Aharon Cohen konstatiert zu Recht, dass diese Idee „wenig mehr als fromme Wünsche waren, die nicht in die praktische Politik überführt wurden.“[58] Vor allem die Zionisten-Revisionisten waren nicht gewillt, von ihrer proklamierten Politik der Macht und Stärke abzugehen. Für sie war, wie es in der Zielsetzung der Gruppierung 1925 festgelegt worden war, „der Zustand des Minoritätseins […] das Grundübel der jüdischen Situation. Politische, wirtschaftliche geistige Judennot kann nur gelöst werden in einem Staat mit eigener Obrigkeit. […] Mehrheit ist die Grundvoraussetzung, Primat jeder zionistischen Aktion. Mehrheit und Judenstaat sind für uns identisch. All unsere Arbeit und unser ganzes Streben muss darauf gerichtet sein, diesen eigenen Staat in kürzester Zeit zu schaffen.“[59] Ähnlich argumentierten aber auch andere Gruppen innerhalb der zionistischen Organisation. So forderte ein Vertreter der Misrachi auf dem XVI. Kongress, die Zionisten sollten aufhören, den Arabern ständig „Liebeserklärungen zu machen“. Vorhaltungen, dass ein solches Ziel zu einer Verschärfung des arabisch-jüdischen Gegensatzes führen würde, wurden von diesen Gruppen als nicht stichhaltig zurückgewiesen mit der Begründung: Ohnehin werde sich kein arabischer Führer mit einer binationalen Lösung einverstanden erklären.

Trotz der auf dem Zionisten-Kongress von 1921, 1925 und 1929 abgegebenen Versprechen, dass die jüdischen Einwanderer mit ihrem arabischen Mitbürgern friedlich zusammenleben wollten, zeigt die historische Entwicklung, dass es den zionistischen Politikern nicht gelang, mit den palästinensischen Arabern ins Einvernehmen zu kommen. Ob das nun auf die allzu starre Haltung mancher Zionisten zurückzuführen oder der unflexiblen Einstellung der arabischen Führer zuzuschreiben ist, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist nur, dass ein gut Teil der Schuld der englischen Mandatsmacht anzulasten ist, die zwar vier Untersuchungsausschüsse in den Jahren 1920, 1921 und 1937 einsetzte, aber es aus vielerlei Gründen nicht verstand, einen Ausgleich der Interessen herbeizuführen.

Für die Juden wurden freilich all diese Problemstellungen nebensächlich als in Deutschland die Nationalsozialisten zur Macht kamen. Die zionistische Idee erhielt durch die in Mitteleuropa entfesselte Pogromstimmung den endgültigen und entscheidenden Auftrieb. Das Nationalgefühl flammte auf, und gegen den Widerstand der englischen Mandatsmacht wurde die illegale Einwanderung nach Palästina forciert. Um eine sofortige Zufluchtsstätte vor den Nazi-Henkern zu schaffen, erschien verständlicherweise Palästina als einer der wenigen möglichen Auswege. Eine friedliche Koexistenz zwischen Arabern und Juden musste unter diesen Umständen völlig illusorisch werden, da die Zionisten unter dem Zwang der historischen Ereignisse nicht mehr bereit sein konnten, auf die Rechte der palästinensischen Araber Rücksicht zu nehmen, und ihr Standpunkt verhärtete sich immer mehr, was Palästina betraf, je mehr sie von der großangelegten Aktion der Judenvernichtung erfuhren. Aus der heutigen Perspektive muss jedoch festgestellt werden: So tragisch das Schicksal des europäischen Judentums auch gewesen ist, so kann doch nicht übersehen werden, dass auch die arabische Bevölkerung Palästinas zum leidtragenden Teil einer historischen Entwicklung geworden ist, für die sie weder direkt noch indirekt irgendeine Schuld oder Verantwortung trägt.

Zionismus in der Gegenwart

Bis zur Gründung des Staates Israel im Frühjahr 1948 war der „Kampf um die nationale Wiedergeburt“ integraler Bestandteil der zionistischen Ideologie. Dieser ursprüngliche Antrieb verkümmerte allerdings schnell, zumal der Aufstieg des neuentstandenen Staates Hand in Hand mit dem Verfall der zionistischen Idee einherging. Deutlich wurde dieses Dilemma auf dem Zionistenkongress, der als erster seit der Staatsgründung 1951 in Jerusalem zusammentrat, als es hier den Delegierten des Kongresses nicht gelang, die Ziele des Zionismus neu zu definieren. Die israelischen Vertreter versuchten den Zionismus im Sinne eines totalitären Nationalismus auf die Negation der Diaspora festzulegen. Denn, so lautete das immer wieder geäußerte Argument, „Für die meisten Juden bedeutet Israel Zion. […] Israel ist die jüdische Heimat.“[60] Entsprechend diesem Selbstverständnis, das die Identität jüdischer und zionistischer Interessen voraussetzte, wurde das Diasporajudentum von den in Israel lebenden Zionisten aufgefordert, nach Israel einzuwandern, da nur dort ein wirklich jüdisches Leben möglich sei. Dem stand die Auffassung jener Juden gegenüber, die zwar gewillt waren, Israel moralisch und finanziell zu unterstützen, jedoch nicht bereit waren, ihre jeweilige Heimat zu verlassen. Die von dem Kongresspräsidenten Nachum Goldmann geforderte Verklammerung von Staat und Diaspora in der zionistischen Organisation musste an diesen gegensätzlichen Auffassungen scheitern. Die Israelis wollten von ihrer eben erlangten Souveränität keine Abstriche machen, die Juden der Diaspora waren aus Furcht vor einer doppelten Loyalität nicht bereit, einem solchen Vorschlag zuzustimmen. Das „Jerusalemer Programm“, das nach heftigen Auseinandersetzungen ausgearbeitet wurde, konnte deshalb nicht mehr als ein widersprüchlicher Kompromiss sein, wenn es die Stärkung des Staates Israel, die Sammlung der Verstreuten und die Stärkung der Einheit des jüdischen Volkes als Ziele der zionistischen Organisation proklamierte. Die Diskrepanz im Verhältnis und in den Beziehungen zwischen Israel und der Judenheit in der Diaspora konnte dieses Programm jedenfalls nicht aufheben. Auch die folgenden Kongresse brachten keine Lösung hinsichtlich des Identitätsproblems („Wer ist ein Jude?“), obgleich es immerhin auf dem Kongress 1868 in Jerusalem erreicht wurde, durch Anknüpfung an die Ideen Achad Haams und Martin Bubers von Erez Israel als geistigem und kulturellem Zentrum, die totalitäre und nationalistische Verdammung der Diaspora zu überwinden.

Von diesen innerjüdischen Problemen abgesehen, ist grundsätzlicher und darüber hinaus die Frage zu prüfen, ob mit der Gründung des Staates Israel der Zionismus überhaupt noch eine Berechtigung hat. Für die unter denkbar ungünstigen Umständen in den Ostblockstaaten und in einigen Ländern Südamerikas lebenden Juden birgt der zionistische Gedanke zweifellos noch einige Anziehungskraft. Die Nachrichten über die Lage der Juden in dessen Ländern scheinen dies jedenfalls zu bestätigen. Ob aber der Zionismus in Israel noch eine notwendige Funktion erfüllt, muss bezweifelt werden. Das auf dem Baseler Kongress 1897 formulierte Ziel: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ ist letzten Endes mit der Schaffung des Staates Israel mehr als erreicht worden. Auch wenn eine nationale Bewegung wie der Zionismus zu ihrer Zeit historische Berechtigung beanspruchen konnte, so kann und darf sie nicht die Bedingungen ihres Entstehens überdauern. Für den Zionismus muss sonst der Vorwurf gelten, der in Diskussionen immer wieder als Argument gegen ihn gebraucht wird: Jeder Nationalismus neige dazu, wenn die Unabhängigkeit gewonnen ist, seinen revolutionären Aspekt fast völlig abzulegen und sich zu einer rückwärtsgewandten Ideologie zu verändern. Und weiter: Wenn ein Staat nur auf ein Ziel ausgerichtet ist, läuft dieser Staat Gefahr, absolut zu werden. – Das sind Argumente, die nachdenklich stimmen und nicht ohne weiteres beiseite geschoben werden können.

Ein anderer Aspekt, der berücksichtigt werden muss, ist der, dass in der gegenwärtigen Situation des Nah-Ost-Konflikts der Zionismus immer wieder als isoliertes und spezifisches Phänomen betrachtet wird. Ein solcher Ausgangspunkt wird freilich den wirklichen Problemen in keiner Weise gerecht. Dass an der gegenwärtigen israelischen Politik Kritik angemeldet werden kann, steht außer Zweifel. Doch darf das dann nicht dazu führen, dass der Zionismus in Bausch und Bogen verurteilt wird. Um zu einer vernünftigen Grundlage für eine Diskussion zu kommen, muss eingesehen werden, dass es hier nicht nur um Israel und nicht nur um den Zionismus, sondern auch um die sog. „Judenfrage“ geht. Das Nah-Ost-Problem ist nur im Zusammenhang mit dem historischen Judenschicksal zu sehen. Dagegen zu behaupten, wozu viele Linke neigen, die „Judenfrage“ werde in einer „menschlich“ emanzipierten Gesellschaft verschwinden, entspricht der Logik einer jeden Utopie. Die Forderung, Israel solle „die Lösung des Nah-Ost-Problems aus nachöstlicher Perspektive anvisieren, statt sich nach wie vor als Sammelpunkt für alle über die Welt verstreut lebenden Menschen anzubieten.“[61] übersieht, dass Israel zum „schicksalsgewollten Sammelplatz“ zwangsläufig mythologisiert worden ist, weil jahrtausendealte Diskriminierungen, Verfolgungen und Pogrome den Juden gar keinen anderen Ausweg mehr ließen.

Neben der arabischen Welt wird neuerdings auch von manchen Gruppierungen in westlichen Staaten, die sich als links oder progressiv verstehen, der Zionismus und Israel als kolonialistische Unternehmung angesehen.[62] Immer wieder ist heute die Gleichung zu hören: Zionismus ist Imperialismus ist gleich Faschismus. Ein solcher Vorwurf ist aber schwer nachzuvollziehen und wird den Realitäten kaum gerecht. Imperialistische und militaristische Tendenzen sind heute zwar in der zionistischen Staatsideologie Israels durchaus festzustellen, doch sind sie nicht immanent im Zionismus angelegt. Das heißt: Die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Arabern hat mit dem Konflikt zwischen westlich imperialistischem Herrschaftsanspruch über andere Völker und antiimperialistischer „Befreiungsbewegung“ nichts zu tun. Es heißt weiterhin: Der jüdische Staat ist nicht aufgrund imperialistischer Interessen entstanden, sondern weil die Juden durch die Feindseligkeit der „Wirtsvölker“ gezwungen waren, sich einen eigenen Staat zu errichten. Dass der leidtragende Teil dieses historischen Prozesses die arabische Bevölkerung Palästinas gewesen ist, soll und kann hier nicht bestritten werden. Mit einer solchen ideologisch bestimmten Argumentation im israelisch-arabischen Konflikt ist jedenfalls nicht weiterzukommen, sie verschleiert mehr, als dass sie hilft, die wirklichen Probleme aufzudecken. Offensichtlich hängt alles, wie es Heinz Wagner zum Ausdruck gebracht hat, vom Begriffsverständnis ab. In der Auseinandersetzung definiert jede Seite die Begriffe so, dass sie das Ergebnis vorwegnimmt, d.h. die Definition enthält Begriffselemente, die sich am israelischen Staat finden oder nicht.[63] Mit anderen Worten: Je nach dem eigenen ideologischen Standort wird Partei bezogen und Israel und der Zionismus verteidigt oder verteufelt. Bei einer objektiven Beurteilung des Nah-Ost-Konfliktes darf das nicht übersehen werden. Noch halten sich die vulgärmarxistischen Interpretationen und die pro-israelischen Abwehrargumentationen in der Imperialismusdebatte um den Zionismus die Waage. Die Grenzen eines durchaus legitim zu begründenden Antizionismus können sich aber leicht zugunsten eines ideologischen ausgerichteten Antisemitismus verschieben. Tritt man aber solchen Denkschemata, die in keiner Weise der historischen Wirklichkeit entsprechen, nicht entschieden entgegen, so ist schnell wieder die verhängnisvolle Parole der „jüdischen Weltverschwörung“ in die Welt gesetzt. Aus der Vergangenheit sollte man gelernt haben, solche sich anbahnenden Entwicklungen wachsam zu verfolgen.

Wenn wir davon ausgehen, dass der israelisch-arabische Konflikt lediglich unter den Aspekten des Nationen-Konfliktes gesehen werden kann, so ist es vielfach schwierig, die mannigfachen Deutungen und Analysen zu der Auseinandersetzung im Nahen Osten nachzuvollziehen. Es ist jedenfalls nicht möglich, diesen Konflikt in ein ideologisches Schema zu pressen. Für den Nahen Osten gelten andere Kriterien als in der europäischen Staatenwelt. Der israelisch-arabische Konflikt kann nur gelöst werden, wenn alle Komponenten analysiert werden, die diesen Konflikt ausmachen. Es reicht nicht aus, im Zionismus imperialistische Tendenzen und in den arabischen Staaten Feudalismus, Einheitspartei oder Militärdiktatur festzustellen. Ebenfalls trifft die Vorstellung, der Kampf der Araber gegen Israel sei einzuordnen in den globalen Kampf der „Dritten Welt“ gegen den Imperialismus, nicht die Realitäten dieser Auseinandersetzung. Solche und ähnliche ideologisch fixierte Analysen sind vielfach interessant und anregend, führen aber letztendlich zu nichts.

Der einzige Weg, der gangbar erscheint, ist der, die Vergangenheit objektiv und eingehend zu analysieren, um aus den Fehlern, die auf allen Seiten in tragischer Verkettung gemacht wurden, zu lernen. Vor allem ist es notwendig, sich mit den religiösen und kulturellen Wurzeln des Arabismus und des Zionismus zu befassen. „Was den Zionisten“, so in einem Aufsatz von Wolfgang Slim Freund, „die Rückkehr ins gelobte Land der Bibel ist, bedeutet für die Araber eine Wiederaufrichtung staatlicher Ordnung unter dem rechtlichen, sozialen, moralischen und kulturellen Siegel des Islam.“[64] Für beide Volksgruppen wird eine Lösung der strittigen Probleme nicht in Frage kommen, wenn nicht diese kulturellen und religiösen Motive berücksichtigt werden.

Unabhängig von politischen Erscheinungen, die erörtert werden müssen, ist die Überprüfung der sozioökonomischen Strukturen Israels und der arabischen Staaten. Gerade hier aber fangen die Schwierigkeiten an. Viele Probleme, die Israel mit seinen Nachbarn hat, gehen ausschließlich auf das Konto eines „cultural lag“, der zwischen dem geistigen Israel, das ein europäisches ist, und dem geographischen Israel, das ein orientalisches ist, sich auftut. Dem industrialisierten Israel mit seinen aus Amerika und Europa stammenden Führungseliten stehen die arabischen Agrarstaaten gegenüber, in denen Armut und Rückständigkeit in ihrer Verkoppelung mit der kaum noch gebrochenen Autorität der Religion eine Erbschaft darstellen, die in der Zukunft nur mühsam zu überwinden sein wird. Um von dieser Diskrepanz abzulenken, erfüllt der „Heilige Krieg“ gegen Israel in der Strategie der Herrschenden in diesen Staaten eine Funktion der Ablenkung und der Integration. Ob eine „Sozialistische Revolution“ in der Nah-Ost-Region diese Schwierigkeiten lösen wird, ist anzuzweifeln, schon allein deshalb, weil in diesen Mittelmeerstaaten kaum so etwas wie eine „revolutionäre Situation“ oder ein „revolutionäres Bewusstsein“ vorhanden zu sein scheint. Wie dem auch sei: der Kampf gegen Israel kann das Los der arabischen Massen nicht verbessern, „er hintertreibt“, wie es Heinz Abosch formuliert hat, „Befreiung, verstärkt Unterdrückung, befestigt Vorurteile, ist der Keim zu neuen Kriegen.“[65]

Wie sind aber nun die Chancen für eine politische Verständigung? Die Araber, die Palästinenser eingeschlossen, werden, so schwer es auch sein wird, bei ihren zukünftigen Überlegungen von der Existenz des Staates Israel ausgehen müssen. Eine solche Änderung der arabischen Position würde die offizielle Verhandlungsbereitschaft mit Israel implizieren. Das Klima für eine solche Änderung würde beim gegenwärtigen Stand der Dinge sich freilich nur dann verbessern, wenn Israel sich in einigen wichtigen Fragen zu Konzessionen gegenüber den Arabern bzw. den Palästinensern bereit erklären würde.

Was aber sind das nun für Konzessionen? Auf jeden Fall ist eine der wichtigsten Vorbedingungen, die von Israel zu erfüllen sein wird, der Rückzug aus den im Sechs-Tage-Krieg besetzten Gebieten, wie er vom UNO-Sicherheitsrat seit November 1967 in Resolutionen mehrfach gefordert worden ist. Unbedingt erforderlich wird es außerdem sein, dass Israel aufhört, die im Krieg 1967 besetzten Gebiete – Judäa und Samaria – weiter zu besiedeln. Die bereits bestehenden Siedlungen müssen entweder aufgelöst oder entsprechende Regelungen gefunden werden, denen auch die arabische Seite zustimmen kann.

Die Zionisten in Israel und in der übrigen Welt werden, wenn sie mit den Arabern ins Gespräch kommen wollen, Abstriche von der Vorstellung machen müssen, die Juden seien eine „Nation“ im Sinne einer politischen und administrativen Schicksalsgemeinschaft. Das würde auch bedeuten, Israel müsste sich einen modernen pluralistischen Staat verwandeln, in dem Juden, Araber und andere Bewohner frei und mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet leben könnten. Auch hätte Israel die Existenz einer arabisch-palästinensischen Nation anzuerkennen. Der Wandel des jüdisch-israelischen Selbstverständnisses wäre dann ein erster Schritt auf eine Verständigung, der sich die Araber bzw. die Palästinenser nicht entziehen könnten.

Nach aller bisherigen historischen Erfahrung ist jedoch nicht anzunehmen, dass ein einheitlicher palästinensischer Staat, in dem Juden und Araber in Frieden leben könnten, die Ideallösung sein würde. Geht man davon aus, dass der Nationalismus in den einzelnen Volksgruppen stärker ist als die Regungen und Wünsche, in friedlicher Koexistenz in einem unitären Staatsgefüge zusammenzuleben, kommt man zu der Folgerung, dass vorläufig nur ausgesprochen nationale Lösungen für den israelisch-arabischen Konflikt in Betracht kommen. Das würde heißen: Es ist notwendig, den Staat Israel zu erhalten, aber es ist gleichfalls unumgänglich, einen palästinensischen Staat zu errichten. Diese beiden Staaten müssten voneinander unterschieden sein, aber vereint durch ein Abkommen zur Zusammenarbeit auf allen Gebieten: Kultur, Wirtschaft, Diplomatie, Politik und Verteidigung. Wie eine solche Lösung weiter im einzelnen aussehen sollte, bliebe noch zu prüfen und zu diskutieren.

Die Frage der Verständigung ist freilich noch auf eine andere Weise zu lösen. Wenn der Panarabismus es zuwege bringen sollte, dass alle arabischen Staaten eine Nation bilden, würde die palästinensische Frage überflüssig werden. Die Araber in Palästina, besonders die Flüchtlinge, könnten sich dann in dieser globalen Nation ohne Schwierigkeiten integrieren. Ob das einmal zu erreichen sein wird, muss jedoch dahingestellt bleiben. Überlegungen dieser Art, so bestechend sie auch sein mögen, gehören im gegenwärtigen Stadium in den Bereich utopischer Vorstellungen. Bisher sind alle Versuche, die in diese Richtung gemacht worden sind, gescheitert.

Um eine Befriedung der Nah-Ost-Region zu ermöglichen, ist neben dem guten Willen Israels und der arabischen Staaten in jedem Fall noch eine andere Voraussetzung zu erfüllen: Es wird keine Lösung des Konflikts ohne Mitwirkung der Amerikaner und der Sowjetrussen möglich sein. Araber und Israelis werden aus eigenem Antrieb die strittigen Probleme kaum lösen können. Der Nahe Osten ist für die Supermächte militärisch wie wirtschaftlich von lebenswichtiger Bedeutung. Geht man von dieser gegebenen Interessenlage der Industriemächte im Mittelmeerraum bei der Analyse des Nah-Ost-Konfliktes aus, können nur globale Lösungen in Betracht gezogen werden, d.h. eine politische Lösung des Konfliktes wird nur durch eine konzentrierte Aktion aller direkt oder indirekt an diesem Konflikt beteiligten Staaten oder Nationen gefunden werden können.

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Anmerkungen:
[25] Zu der Einteilung in vie ideologische Hauptrichtungen vgl. Heinz Wagner, der arabisch-israelische Konflikt im Völkerrecht, Berlin 1971, S. 73 bis 84: Ebenfalls vgl. hierzu das noch immer aufschlussreiche Kapitel II „Die Einzelformen des modernen Zionismus“ bei Abraham Schlesinger, Einführung in den Zionismus, Frankfurt/M., S. 10-131.
[26] Der folgende Überblick über den sozialistischen Zionismus kann nur kursorisch sein. Es sei deshalb hingewiesen auf die Veröffentlichung von Peretz Mercahv; die israelische Linke, Zionismus und Arbeiterbewegung in der Geschichte Israels, Frankfurt/M. 1972, der in umfassender Weise die Entwicklung der jüdischen Arbeiterbewegung in Palästina dargestellt hat.
[27] Über den „Volkssozialismus“ vgl. die noch immer instruktive Darstellung von Viktor Ch. Arlosoroff, Der Volkssozialismus, Berlin 1919.
[28] Vgl. Ben Elieser [Pseudonym Syrkins], Die Judenfrage und der sozialistische Judenstaat, Bern 1897, Dazu auch Marie Syrkin, New York 1960.
[29] Nachum Goldmann, Die drei Forderungen des jüdischen Volkes, Berlin 1919, S. 19.
[30] Zit. nach Abraham Schlesinger, Einführung in den Zionismus, S. 71.
[31] Richard Lichtheim, Revisionismus, in: Parteien und Strömungen im Zionismus in Selbstdarstellungen, hrsg. von der jüd. akad. techn. Verb. Barissia, Prag 1931, S. 50.
[32] Gabriel Riesser, Vertheidigung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Dr. H. E. G. Paulus, der gesetzgebenden Versammlung Deutschlands gewidmet (Altona 1831); abgdr. in: Gesammelte Schriften, hrsg. von M. Isler, Bd. II, Frankfurt/M. 1867, S. 133.
[33] Siehe dazu W. Hartenau (=Walther Rathenau), „Höre Israel!“, in Die Zukunft 18 (1897), S. 454-462. Wiederabgedruckt bei Walther Rathenau, Impressionen, Leipzig 1902, S. 2-20.
[34] Walter Rathenau, Staat und Judentum, in Gesammelte Schriften, Bd. I, Berlin 1925, S. 188 f.
[35] Siehe unten S. 149.
[36] Jakcob Toury, Die politische Orientierung der Juden in Deutschland, Tübingen 1966, S. 267.
[37] Ludwig Holländer, Rückblicke, in: IdR (1914), S. 301.
[38] Max Naumann, Von mosaischen und nichtmosaischen Juden, in: Der nationaldeutsche Jude in der deutschen Umwelt, Berlin 1921, S. 8.
[39] Zit. nach dem Artikel von Robert Weltsch, Verband nationaldeutscher Juden, in Jüdisches Lexikon, Bd. IV/2, Sp. 1167 f.
[40] Vgl. Kurt Blumenfeld, Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus, Stuttgart 1962, S. 90 ff.
[41] Vgl. Richard Lichtheim, Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954, 167.
[42] Vgl. hierzu Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, S. 77ff.
[43] Robert Weltsch, Tragt ihm mit Stolz, den gelben Fleck!, in: Jüdische Rundschau, XXXVIII, 4. April, Nr. 27/1933. Der Artikel, der ein starkes Echo fand und oft nachgedruckt wurde, ist mit interessanten Erklärungen und Ergänzungen von Robert Weltsch, An der Wende des modernen Judentums. Betrachtungen aus fünf Jahrzehnten, Tübingen 1972, S. 21-35, noch einmal veröffentlicht worden.
[44] Amos Elon, Die Israelis. Gründer und Söhne, Wien, München, Zürich 1972, S. 175.
[45] Nahum Goldmann, Staatsmann ohne Staat, Köln/Berlin 1970, S. 387.
[46] Theodor Herzl, Bd. 1, S. 45.
[47] Elon, Die Israelis, S. 183.
[48] Alan R. Taylor, Prelude to Israel, An Analysis of Zionist Diplomacy 1897-1947, New York, 1959, S. 31.
[49] Vgl. hierzu Judith Klein, Der deutsche Zionismus und die Araber Palästinas. Eine Untersuchung der deutsch-zionistischen Publikationen 1917-1938, Frankfurt/New York 1982.
[50] Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konfliktes sei vor allem auf die instruktive, wenngleich in manchen Passagen sehr polemische Darstellung von Walter Hollstein, Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konfliktes, Frankfurt/M. 1972, hingewiesen.
[51] „Vergessen Sie nicht“, argumentierte Bodenheimer, „dass die Entwicklung eines jüdischen Dorfes in Palästina diejenige von zehn Fellachendörfern in seiner Umgebung nach sich zieht und dass die Arbeit jüdischer Intelligenz und Gewerbefleißes eine Vermehrung der mohammedanischen Bevölkerung zur Folge haben wird, welche durch eine größere jüdische Einwanderung immer noch gesteigert würde“ (Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VII. Zionisten-Kongresses, Berlin 1905, S. 149). Diese Einstellung kann schon in dem politischen Roman „Altneuland“ von Theodor Herzl nachgelesen werden, wo die folgenden Worte einem arabischen Bürger des „Jüdischen Staates“ in den Mund gelegt werden: „Die Juden haben uns reich gemacht, warum sollen wir über sie klagen? Sie leben mit uns und wie Brüder und warum sollen wir sie nicht lieben“ (Theodor Herzl, Bd. 5, S. 239 ff.).
[52] M(enachem) Ussischkin, Unser Programm, Wien, Leipzig o.D., S. 11 und 23.
[53] Vgl. Stenographisches Protokoll des XII. Zionisten-Kongresses in Karlsbad, Berlin 1921, S. 16, 105, 128, 153, 204 u.
[54] Tagebucheintragung Ruppins vom 29. April 1921 (Amos Elon, Die Israelis, S. 204 f.)
[55] Hugo Bergmann, Brith Schalom, in: Parteien und Strömungen, S. 10.
[56] Elon, Die Israelis, S. 205 f.
[57] Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XVI. Zionisten-Kongresses in Zürich 1929, London 1929, S. 46.
[58] Ahron Cohen, Israel and the Arab World, London 1970, S. 247.
[59] Ernst Hamburger, Staatszionismus. Sein Weg und Ziel, Berlin 1935, S. 15.
[60] Davin Ben Gurion, Erinnerung und Vermächtnis, hrsg. von Thomas R. Brannsten, Frankfurt/M. 1971.
[61] Niels Kadritzke, Die deutsche Linke und der Nahost-Konflikt – Solidarität mit wem?, in: Diskussion 27/1969, S. 13.
[62] Aus der Flut der Literatur, die zu dieser Frage Stellung bezieht, sei das Buch von Isaac Deutscher, Der israelisch-arabische Konflikt, Frankfurt/M 1968 genannt. Von Interesse sind die Entgegnungen auf die Thesen Deutschers von Simcha Flapan, 5. Juni 1967 – Eine Antwort an Isaac Deutscher, Frankfurt/M. 1969 und das Buch von Michael Landmann, das Israelpseudos unter Pseudolinken, Berlin 1971, S. 455-472, auseinander. Vgl. ebenfalls Julius H. Schoeps, Arabischer und israelischer Nationalismus, in: Frankfurter Hefte 1/1972, S. 23-30, und Zionismus und Araberfrage in: Tribüne 61/1977, S. 10-20.
[63] Vgl. Wagner, der arabisch-israelische Konflikt im Völkerrecht, S. 455.
[64] Wolfgang Slim Freund, Zur sozialpolitischen Dynamik des Israel- und Palästinakonfliktes, in: Emuna 6/1970, S. 425.
[65] Heinz Abosch in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbandes: Der israelisch-arabische Konflikt, Darmstadt 1967, S. 45.