Aus dem
Nahostlexikon
von Gernot Rotter und Schirin Fathi, erschienen im Herbst 2001 beim Palmyra
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Arafat, Yassir
(Abu Amar, geb. 1929)
Seit 1969 Vorsitzender der
»» PLO, Friedensnobelpreisträger (1994)
und gewählter Präsident der »» Palästinensischen Nationalbehörde.
Geboren wurde Arafat als Abdel Rahman Abdel
Raouf Arafat al-Qudwa al-Husseini, bekannt wurde er im arabischsprachigen Raum
aber eher unter seinem Nom de Guerre »Abu Ammar«. Arafats Kindheit und Jugend
waren lange Zeit mit einer mysteriösen Aura umgeben; ob dies als absichtliche
Legendenbildung gedacht war, sei dahingestellt. Obwohl Arafat mehr Interviews
gegeben hat als die meisten anderen Politiker und seit über 30 Jahren im
Blickfeld der Weltöffentlichkeit steht, ist sein Geburtsort bis heute
umstritten (Kairo, »» Jerusalem oder Gaza). Erwiesen ist jedoch, daß er
väterlicherseits entfernt mit dem prominenten Jerusalemer Husseini-Clan (»»
Faisal Husseini) verwandt ist.
Sein Vater war ein Textilhändler mittleren Einkommens, und die Familie zog
1927 von Gaza nach Kairo. Als Arafat fünf Jahre alt war, starb seine Mutter;
dies hatte zur Folge, daß das zweitjüngste von sieben Kindern zusammen mit
seinem jüngsten Bruder Fathi nach Jerusalem zu den Verwandten der Mutter
geschickt wurde. Einige Jahre später kehrte er nach Kairo zurück und beendete
dort seine Schulausbildung. 1947 immatrikulierte er sich an der
König-Fuad-Uni-versität und studierte Ingenieurwissenschaften.
Während seiner Studienzeit war Arafat politisch aktiv, doch schon vorher hatte
er sich indirekt am palästinensischen Widerstand gegen das britische Mandat
betätigt. Als 1946 der exilierte Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini,
der der Kollaboration mit Nazideutschland bezichtigt wurde und als höchst
umstritten galt, nach Kairo kam, wurde Arafat einer seiner freiwilligen
Helfer. Dennoch ist bemerkenswert, dass Arafat
1948
während des ersten »» Arabisch-Israelischen Kriegs in einer Einheit der
ägyptischen »» Muslimbrüder in Gaza kämpfte und sich nicht den Soldaten des
Mufti anschloß. Daher kann es auch nicht stimmen - wie so oft von
palästinensischer Seite behauptet -, daß er unter dem legendären Abdel Qader
al-Husseini an der Schlacht um Jerusalem teilgenommen hat.
Nach dem Krieg beteiligte sich Arafat aktiv an der Arbeit der Föderation
palästinensischer Studenten und der ägyptischen Studentenorganisation, obwohl
letztere Palästinenser als Mitglieder ausschloss. Arafat besaß jedoch die
ägyptische Staatsangehörigkeit, was als Zeichen seiner inneren Zerrissenheit
gewertet werden mag oder aber als grundsätzliches Anliegen, sich aktiv an der
arabischen Politik zu beteiligen. Er bewahrte weiterhin seine informelle
Bindung an die Muslimbruderschaft und gewann 1951 durch ihre Unterstützung die
Wahlen zum Vorsitzenden der palästinensischen Studentenföderation.
1953 übernahm Arafat den Vorsitz des Dachverbands aller palästinensischen
Studentenorganisationen (General Union of Palestinian Students, GUPS). Diese
Position bekleidete er bis 1956, als er in der ägyptischen Armee im »»
Suezkrieg diente.
Die politische Atmosphäre in »» Ägypten wurde jedoch für Arafat zunehmend
schwieriger. »» Nassers arabischer Nationalismus entzog ihm die Grundlage für
seinen auf »» Palästina bezogenen, partikularistischen Aktivismus. Hinzu kam,
dass Arafat einige Male verhaftet wurde, wohl auch aufgrund seiner Verbindung
zur
Muslimbruderschaft,
hauptsächlich aber wegen seiner politischen Agitation. 1958 verließ er Ägypten
und ließ sich in Kuwait nieder, wo er als Ingenieur arbeitete. Gemeinsam mit
Khalil al-Wazir (Abu Jihad), mit dem er schon in Kairo zusammengearbeitet
hatte, gründete Arafat 1959 die Al-Fatah (Akronym aus den rückwärts gelesenen
Anfangsbuchstaben der arabischen Bezeichnung Harakat at-Tahrir al-Filastiniya,
Palästinensische Befreiungsbewegung). Die Al-Fatah (»»
PLO) konnte sich in Kuwait unter den dort lebenden, z.T. recht
wohlhabenden Palästinensern rasch etablieren, und mit Hilfe der
vorherrschenden relativen Pressefreiheit fanden Arafats Ideen ein leicht
zugängliches Forum und weite Verbreitung. Die Al-Fatah entwickelte sich zur
weitaus größten politischen palästinensischen Bewegung und verschrieb sich
ausschließlich der Befreiung Palästinas; weltweit wurden Verbindungen zu
palästinensischen Studierenden aufgenommen und Zellen gegründet. Nach der
Sezession »» Syriens von Ägypten 1961 schlössen sich vermehrt Palästinenser,
die vorher der »» Baath-Partei angehört hatten, der Al-Fatah an - Ausdruck der
generellen Hinwendung vom arabischen Nationalismus zum dezidiert
palästinensischen Nationalismus.
Auf der ersten arabischen Gipfelkonferenz in Kairo im Januar 1964 wurde Ahmed
Shuqairi damit beauftragt, die »Organisation des palästinensischen Volkes«
vorzubereiten. Kurz darauf wurde in Jerusalem die PLO gegründet, die sich nach
dem »» Junikrieg zu einem Dachverband aller Widerstandsgruppen entwickelte.
Die Al-Fatah bildet darin bis heute die größte Gruppierung und gilt als
Hausmacht Arafats. Zur selben Zeit gründete Arafat auch die Al-Asifa (der
Sturm), eine militärische Einheit der Fedayin (arab. »die sich selbst opfern«,
Guerilla-Kämpfer), die im Januar 1965 zum ersten Mal militärische Vorstöße
nach »» Israel unternahm. Arafat pflegte gute Verbindungen zur algerischen
Befreiungsorganisation FLN und durfte 1963 in Algier ein Palästinabüro
eröffnen, das zur Internationalisierung der Palästinafrage beitrug und die
Al-Fatah in eine Reihe mit anderen antikolonialen, nationalen
Befreiungsbewegungen stellte. Der Kampf um die Stadt Karameh 1968 im Jordantal
stärkte weiterhin das Ansehen Arafats und der Fedayin und gab nach der
traumatischen arabischen Niederlage im Junikrieg
1967 den
palästinensischen Gruppierungen, allen voran der Al-Fatah, zusätzliches
Gewicht. 1969 übernahm Arafat den Vorsitz der PLO, eine Position, die er bis
heute (Juni 2001) innehat. 1970 wurde er zusätzlich zum Kommandeur aller
palästinensischen Guerilla-Verbände ernannt, nachdem er bereits 1969 durch das
Kairo-Abkommen eine Basis für seine Kämpfer im »» Südlibanon (Fatahland)
geschaffen hatte. Ebenfalls 1970 war er im sogenannten Schwarzen September in
einen blutigen Konflikt mit König Hussein (»» Hussein Ibn Talal) geraten,
nachdem die PLO in »» Jordanien zum Staat im Staate geworden war.
Das Jahr 1974 markierte einen Wendepunkt auf
Arafats politischem Weg und in der Ausrichtung seines strategischen Konzepts:
Infolge des »» Oktoberkriegs
1973 hielt der
Palästinensische Nationalrat erstmals offiziell eine Teilstaatlösung für das
Palästinaproblem für möglich; auf dem arabischen Gipfeltreffen in Rabat wurde
die PLO als einzige Repräsentantin des palästinensischen Volkes bekräftigt,
und im November sprach Arafat schließlich vor der UN-Vollversammlung in New
York, wobei er der Weltöffentlichkeit durch das Schwenken eines Ölzweigs in
der einen Hand - im Gegensatz zur Pistole in seiner anderen Hand -
signalisierte, dass er bereit war, auch einen friedlichen Weg zu gehen.
Arafats spektakulärer Auftritt vor den Vereinten Nationen (»» UN) trug
wesentlich zu seiner internationalen Akzeptanz und zur Suche nach einer
friedlichen Lösung des Palästinakonflikts bei. Nach der Unterzeichnung des »»
Camp-David-Abkommens
1978 nahm
Arafat zwar weiterhin offiziell eine ablehnende Haltung gegenüber Israel ein,
aber dennoch wurden vorsichtige inoffizielle Kontakte zwischen Palästinensern
in Europa und Mitgliedern der jüdischen Gemeinden geknüpft. Diese Kontakte
förderten Arafats Glaubwürdigkeit in amerikanischen Regierungskreisen und in
der Europäischen Gemeinschaft (»» Europäische Union), doch führten sie auch zu
Konflikten innerhalb der PLO und zur Entstehung einer radikalen
Ablehnungsfront.
Der absolute Tiefpunkt in Arafats Karriere war
1983 die erzwungene
Evakuierung seiner Kämpfer aus dem »» Libanon infolge des israelischen »»
Libanonkriegs. Er verlor dadurch die semistaatliche und militärische
Organisation, die er im Libanon aufgebaut hatte, und musste seine Aktivitäten
auf politische Initiativen beschränken, die er fortan aus seinem Büro in Tunis
koordinierte.
Infolge der »» Intifada rief der Palästinensische Nationalrat
1988 den Staat
Palästina aus und akzeptierte damit implizit das Existenzrecht Israels. Trotz
der herben Rückschläge aufgrund von Arafats Parteinahme für Saddam Hussein
während des »»
Golfkriegs kulminierte seine politische Strategie in den »»
Friedensverhandlungen und der Errichtung der selbstverwalteten
Palästinensischen Gebiete.
Arafat
kehrte infolge des »»
Oslo-I-Abkommens
1994 nach Gaza
zurück, wo er Vorsitzender der von ihm gegründeten Palästinensischen
Nationalbehörde (Palestinian National Authority, PNA) wurde. Im gleichen Jahr
erhielt er gemeinsam mit »» Yitzhak Rabin und »» Shimon Peres den
Friedensnobelpreis.
Obwohl er für seinen autoritären Führungsstil in palästinensischen Kreisen oft
kritisiert wird, wurde er im Januar 1996 mit überragender Mehrheit (87
Prozent) zum Präsidenten der Palästinensischen Nationalbehörde gewählt.
Seitdem sieht er sich jedoch vermehrt Angriffen ausgesetzt, vor allem wegen
der Ineffizienz und Korruption innerhalb der PNA, ihrer
Menschenrechtsverletzungen, eines sich ausbreitenden »» Klientelismus und
Nepotismus der »Tunis-Clique« - wie die Heimkehrer genannt werden - und seiner
allzu großen Kompromißbereitschaft gegenüber israelischen Forderungen.
Arafats Regierungsstil gilt als stark zentralisiert, zusätzlich hat er sich
mit mehreren Sicherheitsdiensten (»» Geheimdienste) umgeben, worin sich sein
tiefes Misstrauen gegenüber seinen politischen Gegnern ausdrückt. Außerdem
häufen sich Gerüchte, die seinen Gesundheitszustand und damit auch seine
Verhandlungsfähigkeit in Frage stellen. Die Ereignisse seit dem Oktober 2000
(»» Al-Aqsa-Intifada) lassen darüber hinaus Zweifel aufkommen, ob seine
Autorität unter den Palästinensern noch uneingeschränkt gilt.
Yassir Arafat ist in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und seinem
Facettenreichtum umstritten wie wohl kein anderer zeitgenössischer Politiker.
Friedenskämpfer für die einen, war und ist er Terrorist für die anderen.
Unumstritten sind allerdings seine Flexibilität, sein Organisationsgeschick,
seine Fähigkeit, die PLO auch unter den widrigsten Umständen als Einheit zu
erhalten, sein übergroßes Arbeitspensum und seine legendären
Überlebenstaktiken. Seine größte Errungenschaft aber ist es, die
Palästinafrage internationalisiert zu haben und eine eigenständige
palästinensische Identität zu wahren und zu repräsentieren.
s.
auch: [abu mazen] [arafat] [hamas]
[plo]
Stand 30-06-2001
»» verweist auf Einträge im
Nahostlexikon...
Gernot Rotter / Schirin Fathi:
Nahostlexikon
Der israelisch-palästinensische
Konflikt von A-Z
Seit über einhundert Jahren ist der Nahe Osten die
brisanteste Krisenregion der Erde. Der Nahostkonflikt – in seinem Kern die
israelisch-palästinensische Auseinandersetzung um das Land Israel/Palästina –
ist somit im wahrsten Sinne ein »Jahrhundertkonflikt«...
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