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Judentum und Israel
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Eindrücke einer Palästinareise
Unpolitische Pilgerfahrt eines kontemplativen Zeitgenossen

Medinah baDerekh:
Unterwegs in den "kommenden Staat"

Von Genf nach Marseille

Ein Bericht des Schweizer Jugendhelfers Chanan Lehrmann aus dem Jahre 1946

Die Umstände fügten es, dass der von den zionistischen Aemtern organisierte Transport von tausend Flüchtlingskindern aus Deutschland, dem ich als Begleiter beigegeben war, in den ersten Pessachtagen, mit dem grossen französischen Truppentransporter "Champollion", abgehen musste. Es war mein Traum gewesen, die Feiertage in Jerusalem zu verbringen, um endlich (inmitten des Restes meiner Familie, die ich seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte) die so oft ausgesprochene Formel : "Nächstes Jahr in Jerusalem" zu verwirklichen.

Nun sollten wir aber das Fest auf dem Meer verbringen. Nehmen wir es als Symbol für den Auszug aus Aegypten und die Ueberquerung des Schilfmeeres. Und die Strapazen unserer Reise sind dementsprechend, sogar mehr als bloss symbolisch. Schon auf Schweizer Boden, in Genf, bekommen wir einen Vorgeschmack des da Kommenden. Kein Zimmer ist aufzutreiben, und ich verbringe einige Nachtstunden im Salon eines Hotels. Heisst es nicht: "Auf dem Boden sollst Du schlafen, Brot mit Salz essen und Wasser mit Maß trinken, wenn Du zu Weisheit und Wissen gelangen willst." Die besonderen Umstände meiner Studienreise sollten mir Gelegenheit geben, mich in der Befolgung dieses Ratschlags zu üben.

Um halb sieben Uhr fährt der prachtvolle Autocar vor. Er bedeutete den komfortabelsten Teil unserer Reise. Der Leiter des Genfer Palästina-Amtes gab uns mit einigen Mitarbeitern das Geleit bis zur Grenze.

Die mir anvertraute Schweizer Gruppe zählt offiziell siebenundzwanzig Köpfe, vom Greis bis zum Säugling. In Wirklichkeit haben sich einige mehr angeschlossen. Burschen ohne Papiere aus Auschwitz und Buchenwald, die nicht Tod und Teufel fürchten und die über alle Grenzen und Meere zu ihrem Ziel gelangen wollen. Auch eine Mutter mit zwei kleinen Kindern reist "inoffiziell" mit. Die Kinder haben Zertifikate, die Mutter hofft, unter deren "Schutz" gleichfalls aufs Schiff zu gelangen. Sie verbringt bange Stunden der Furcht und der Erwartung und hält sich tapfer. Ihr Mann ist deportiert, also ein banales jüdisches Schicksal. Sie ist über das Los ihres Mannes im Ungewissen. Dagegen ist Frau Komoi über das Los ihres Mannes wohl informiert. Er lehnte jede Möglichkeit einer Flucht aus Budapest ab und arbeitete als Vertreter des, "Joint", bis er kurz vor dem Rückzug der deutschen Garnison als Geisel erschossen wurde. Nun sitzt sie still für sich, erträgt ohne Murren alle Strapazen und lebt von der Hoffnung, ihre Tochter in Palästina zu treffen.

Einen weiteren Vorgeschmack des Kommenden erhalte ich auf den Zwischenstationen in Chambery, Valence und Avignon. Da ich alle Anweisungen der Schweizer Behörden brav und wörtlich befolgt hatte, konnte ich nur wenige Nahrungsmittel mitnehmen, die auf alle Fälle als eiserne Koscherration für die Pessachtage aufgespart werden. Das sollte sich als unser Glück erweisen. Inzwischen jedoch bedeutet diese Vorsorge Hunger. Die Bar-Tische und Vorratskammern sind offensichtlich leer. Nur die Aperitif-Flaschen prangen in alter Pracht und verlockenden Farben als einziger Schmuck der Cafés. So oft ich ein Restaurant betrete, um Nahrungsmittel zu verlangen, bekomme ich auf die Frage: "Qu'est-ce qu'il ya à manger?" die Antwort zu hören: "Rien." Mir scheint, dass sie dieses Wort mit wahrer Wollust und Schadenfreude hervorstoßen. Der Schein stimmt, denn sobald es mir endlich in Marseille gelingt, mit einem Restaurateur in ein vertraulicheres Verhältnis zu kommen, bekomme ich für Geld, selbst ohne gute Worte, alles was Herz und Leib begehren.

Spät abends kommen wir über die prachtvolle Autostrasse Avignon—Marseille in der Hafenstadt an. Hier erfahren wir, dass als Sammelpunkt der Tausend ein fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt befindliches Barackenlager bestimmt ist. Die Zementbaracken stammen noch aus der Besetzungszeit. Ich erfahre zum ersten Male am eigenen Leibe das Leben in einem Lager und vor allem die Mentalität der Lagerinsassen, die ich vorher nur als Besucher und "kultureller Betreuer" kennen gelernt hatte.

Es ist hier alles allerdings weit primitiver als in der Schweiz, so dass einige einander mit einem Seufzer zurufen: "Ja, das war doch noch etwas anderes in unserem Schweizer Lager!" Dabei fehlt es nicht einmal am Nötigsten; aber keiner weiss wo und wann es zu haben ist. Mehrere Ordner rasen mit wichtiger Miene durch das Lager, aber keiner gibt auf eine Frage präzise Antwort. So bilden sich Gerüchte, der hat dies gehört, jener etwas anderes man folgt bald dieser, bald jener Meinung und manchmal stimmt es und man erhält etwas zu trinken oder fasst eine Ration Brot. Plötzlich stellt sich heraus, dass es davon in Hülle und Fülle gibt, bald liegt es umher und verdirbt.

Ueberall sind Ansätze von Organisation, aber eben nur "Ansätze", oder aber eine Ueber-Organisation, die wie so oft in diesem schönen Land, in Leerlauf und Bürokratie ausartet. Gegen Nachmittag gelingt es mir, für meine Gruppe einen Bon für Decke und Essgeschirr zu erhalten. Aber nur, indem ich das Erhaltene quittiere und für die Rückgabe garantiere. Ich weiss ganz genau, dass ich das nicht garantieren kann, denn jeder lungert überall herum und nimmt, was er braucht, da wo er es gerade findet; ebenso großzügig stellt er sein Geschirr irgendwo ab. Es ist unmöglich, jedem nachzulaufen und ihn zu beaufsichtigen. Eine andere Kontrolle, welche die Aufsicht und Uebersicht erleichtern würde, gibt es nicht. Aber ich unterschreibe alles, denn sonst bekämen wir nichts. Die deutschen Kriegsgefangenen, die im Magazin arbeiten, sind sehr streng und exakt. Schliesslich mussten sie aber doch zurücknehmen, was sie bekamen. Bei meiner Gruppe stimmt die Rechnung halbwegs; vermutlich gleichen sich die Eingänge von den einzelnen Baracken im ganzen aus.

Das Bedrückendste im Lagerleben ist die völlige Ungewissheit über die von irgend einer anonymen Stelle ausgehenden Dispositionen, die Unmöglichkeit, daran selber teilzunehmen, und das passive Harren der kommenden Dinge. Warten, warten. Bald lungert man herum und wartet darauf, zu einer Mitteilung, zum Essenfassen oder dergleichen zusammengerufen zu werden; bald wartet man in Kolonnen auf das Eintreffen des Transportautos. Man weiss nicht, wann man über seine Zeit sicher verfügen kann und für wie lange.
Es ist wohl unvermeidlich so, wo es sich um eine Organisation von Massen handelt, aber es entnervt, macht apathisch, raubt die Willenskraft, und ich begreife jetzt besser, warum ein längeres Lagerleben, auch unter relativ guten materiellen Bedingungen, die Menschen demoralisiert, sie hilflos und kindisch macht. Diese Erfahrung sollte jeder soziale oder kulturelle Fürsorger machen, bevor er an seine Aufgabe herantritt.

Immerhin hatten alle diese Klagen und Entbehrungen auf der Fahrt nach Palästina einen tieferen Sinn, besonders im Zusammenhang damit, dass der Aufbruch gerade in den Pessachfeiertagen erfolgte und so uns Spätgeborenen die unendlichen Plagen veranschaulichte, die mit dem Auszug aus Aegypten, desem grossartigen Zug ins Ungewisse, veranschaulichte. Welch gläubiger Heroismus eines jungen Volkes, wenn es auch zuweilen den Mut verlor und kleinmütig und verzagt wurde!

Welch Organisationstalent eines Moses; welche Autorität musste er durch sein geistiges Wirken, ohne alle Beredsamkeit erworben haben, um einem ganzen, heterogenen Volke seinen gottbeseelten Willen aufzuzwingen, um es über de Momente der Verzweiflung und des Kleinmuts zu weiterem Vorwärtsschreiten mitzureissen! Das fühlten wir jetzt demütig, fühlten zum ersten Mal, warum die Formel: "Secher Jeziat Mizrajim", der Auszug aus Aegypten zum immerwiederkehrenden Symbol in allen jüdischen Gebräuchen geworden ist. Und nie zuvor haben wir die Symbolik der Pessachgebräuche tiefer erlebt, als am Vorabend der Einschiffung bei der Seder-Zeremonie, an welcher die tausend Insassen des Lagers und viele Dutzende von Gästen aus Marseille, sowie Vertreter der grossen Tageszeitungen teilnahmen.

Unter freiem Himmel war ein riesiger Tisch aufgestellt, gedeckt mit allen traditionellen symbolischen Speisen, Bitterkraut, Salzwasser, ungesäuertes Brot. Mitglieder der jüdischen Brigade und jüdische Offiziere der amerikanischen Armee hatten die Organisation übernommen.

Ein tschechischer Rabbiner, der aus Auschwitz auf wunderbare Weise zurückgekommen war, sprach die traditionellen Gebete — durch Lautsprecher. Denn die Amerikaner liessen es sich nicht nehmen, die alten Bräuche mit etwas Hollywood-Romantik auszustatten. Sinnvoller wirkte es schon, wenn die Soldaten der "jüdischen Brigade", Mitkämpfer der 8. Armee, die alten-üblichen Gebete mit chaluzischen Gesängen und Rezitationen aus neuhebräischen Dichtungen durchwebten, welche das alte Thema des Weges von Knechtschaft zur Freiheit in vielen Abwandlungen behandelten.

Ein achtjähriger Bursche, der jüngste Ueberlebende aus Buchenwald, stellte de traditionellen Fragen: Warum essen wir ungesäuertes Brot? Warum bittere Kräuter? Und durch alle diese formellen Fragen klang die ewige Frage des jüdischen Volkes: Warum unser tausendjähriges Leid? Wie lange noch? Wofür? Und der Rabbiner und andere Redner in allen Sprachen suchten eine Antwort zu finden; sie erfassten nicht alle Hintergründe des Hiobsproblems, stimmten aber in der Zuversicht überein, dass die Heimkehr dieser Tausend einen Schritt zur Erlösung des ganzen jüdischen Volkes von Willkür und Verfolgung bedeutet. Aus allen Reden klang die gleiche Sehnsucht nach Zion, das Einzige, was heute noch die Juden aus allen Breiten in einem positiven Ziele eint. Ein amerikanischer Unrra-Offizier, der wie General Eisenhower aussieht und auch tatsächlich wenigstens Eisenberger heisst, trat vor den Lautsprecher. Ich war gespannt in welcher Sprache er sich verständlich machen würde. Und schon erklang es in unverfälschtem Jiddisch: Meine tajere Kinderlach!

Der Lautsprecher trug die Worte und die Gesänge weit hinaus. Ich verliess die Feier vor Ende, da ich zu Fuss in die Stadt gehen wollte, um dort zu übernachten und am folgenden Tag Bekannte aufzusuchen. Der Weg vom Lager ins Stadtzentrum dauert zu Fuss etwa zweieinhalb Stunden. Ueber eine halbe Stunde lang hörte ich noch deutlich die Worte und die Gesänge durch die Nacht schallen. Da und dort standen biedere Einwohner vor ihren Häusern und lauschten dieser für sie so seltsamen Kundgebung. "Ce sont des Juifs qui vont en Palestine", sagten sie wohlwollend. Wie geschrieben steht: Und die Juden fanden Gunst in den Augen der Aegypter. — Uebrigens war, wie ich später erfuhr, mein nächtlicher Fussmarsch nach Marseille, ohne alle Begleitung, keine gefahrlose Sache. Eine volle Stunde sah ich auf der endlosen Chaussee, spät nach Mitternacht, keine Sterbensseele, und man erklärte mir nachher, dass die Einwohner der Vororte zu später Stunde ihre Häuser nicht verlassen, aus Angst vor Ueberfällen. Ich aber trottete ahnungslos fürbass und pfiff mir ein Liedchen, wie Charlie Chaplin im Filme "Goldrausch" guten Mutes mit seinem Stöckchen durch die wilde Gegend auf Goldsuche ausgeht, während hinter ihm ein Bär auftaucht und, ohne ihn zu behelligen, in seiner Höhle verschwindet. Aber die erste Pessachnacht heisst ja "Leil Schimurim", Nacht der Behütung, in welcher, der Tradition zufolge, die Juden unter dem besonderen Schütze der Vorsehung stehen sollen. Was ist allerdings eine Nacht der Behütung gegen 364 Tage und Nächte der Gefahr?

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Jüdisches Wissen für Jedermann

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hagalil.com 24-03-2008


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