1. Einführung
Vor der Betrachtung des Prozesses gegen Jesus vor dem
Hohen Rat aus Sicht des jüdischen Rechts ergeben sich Fragen, deren
Beantwortung im Vorfeld nötig ist.
Als erstes stellt sich die Frage
- ob sich aus den Evangelien ergibt, dass ein Prozess
gegen Jesus vor dem Hohen Rat im Hause des Hohenpriesters überhaupt
stattgefunden hat,
dann ist zu klären
- inwieweit die Gerichte unter der römischen Besatzung
befugt waren, Recht zu sprechen und Urteile zu vollziehen,
und es ist die Frage zu beantworten
- ob sich Kaiphas als Hohenpriester und die Ältesten
und Schriftgelehrten auch redlich und gesetzestreu verhalten haben.
Es soll hier also keine kritische Erörterung des
geschichtlichen Wahrheitsgehaltes der Evangelien erfolgen, sondern diese
sollen als überlieferte Grundlage der Analyse des Prozesses genommen
werden.
1.1. Die Überlieferung der Evangelien Die
Evangelien machen unterschiedliche Angaben darüber, was in der Nacht nach
der Verhaftung Jesu geschah.
Nach Lukas verbrachte Jesus die Nacht mit den Männern, die ihn
bewachten; erst am nächsten Tag brachte man ihn vor den Hohen Rat (22, 63,
66).
Nach Johannes führte man Jesus in das Haus des Hannas, des
Schwiegervaters Kaiphas. Kaiphas war zu dieser Zeit Hohepriester (Joh 18,
13), er übte das Amt von 18 – 36 unserer Zeitrechnung aus. Das
Hohepriesteramt war das höchste religiöse und wohl auch nationale Amt, da
der Hohepriester die Befehlsgewalt über die einzige, von den Römern erlaubte
bewaffnete Truppe, die Tempelpolizei, ausübte. Im Hause Hannas' wird Jesus
verhört und später gebunden in das Haus des Kaiphas gebracht. Darüber hinaus
geschieht nichts mehr, bis Jesus zum Palast des römischen Prokurators
(Statthalter in einer Provinz des römischen Reiches) geschafft wurde (Joh
19-24, 28).
Nach Markus (14, 53) und Matthäus (26, 57) stand Jesus indes in jener
Nacht im Hause des Hohenpriesters Kaiphas vor dem Hohen Rat.
Fraglich ist, ob es sich bei der Versammlung im Hause Kaiphas’ um den Hohen
Rat, wie es die Evangelisten Markus (Mk 14, 55) und Matthäus (Mt 26, 59)
erzählen, also um den Großen Sanhedrin der Hohenpriester, Ältesten und
Schriftgelehrten gehandelt hat.
Sollten sich diese Personen zusammengefunden haben, um einen Prozess gegen
Jesus zu führen, ist folgendes zu beachten: die allgemeine
Strafgerichtsbarkeit lag in Städten mit mehr als einhundertzwanzig
Einwohnern bei dem so genannten Kleinen Sanhedrin. Der Kleine Sanhedrin
bestand aus dreiundzwanzig Mitgliedern. Dieses Gericht konnte die
Todesstrafe zur Anwendung bringen und hatte daher Verbrechen, die die
Todesstrafe androhten, zu beurteilen.
Der Große Sanhedrin der Einundsiebzig wurde als Grundquelle aller, das heißt
ziviler, strafrechtlicher, administrativer oder gutachterlicher
Gerichtsbarkeit betrachtet; er selbst übte die zivile oder strafrechtliche
Gerichtsbarkeit jedoch nur in sehr wenigen, klar umrissenen Fällen aus, etwa
dann, wenn ein Strafverfahren gegen einen Hohenpriester eingeleitet werden
musste.
Im Folgenden soll jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem
Hohenpriester und dem ganz Hohen Rat (Mt 26, 59) oder allen Hohenpriestern,
Ältesten und Schriftgelehrten (Mk 14, 53; Lk 22, 66) tatsächlich um den
Großen Sanhedrin der Einundsiebzig gehandelt hat. In der weiteren Abhandlung
werden die Bezeichnungen Hoher Rat und (Großer) Sanhedrin daher synonym
verwandt. Ferner wird unterstellt, dass der Hohe Rat Jesus in jener Nacht
angeklagt und ihm "den Prozess gemacht" hat. Diese Hypothese erweist sich
als notwendig, um die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit dieses "Prozesses"
mit den Vorschriften des Prozessrechts zu überprüfen. 1.2.
Reichweite der Befugnisse des Großen Sanhedrin
Von der Hypothese ausgehend, dass ein Prozess gegen Jesus
vor dem Hohen Rat stattgefunden hat, stellt sich nun die Frage,
inwieweit der Sanhedrin zur Rechtsprechung und zum Vollzug von Urteilen
befugt war.
Über die Befugnis des Hohen Rates, Kriminalfälle zu verhandeln und die
Todesstrafe zu vollstrecken, führen die Gelehrten endlose
Auseinandersetzungen. Im Johannesevangelium (18, 31) steht geschrieben,
dass die Juden gesagt haben sollen, "wir dürfen niemanden töten". Diese
Aussage wurde als hinreichender Beweis dafür verstanden, dass die Römer
den Juden jegliche Zuständigkeit für die Kapitalgerichtsbarkeit,
zumindest aber die Befugnis zur Vollstreckung ihrer Todesurteile
entzogen hatten (vgl. beispielsweise E. Meyer: Ursprung und Anfänge des
Christentums, Bd. I, S. 199 zur Kapitalgerichtsbarkeit; J. Blinzler: Der
Prozess Jesu, S. 111 zur Befugnis zur Vollstreckung von Todesurteilen).
Auch unter denjenigen Autoren, die behaupten, der Hohe Rat habe keine
Vollmacht zur Vollstreckung der von ihm verhängten Todesstrafe besessen,
sind die Meinungen geteilt. So sagt eine Meinung, keine vom Sanhedrin
verhängte Strafe sei vollstreckt worden, solange das Verbrechen nicht
auch als nach römischem Recht strafbares Verbrechen anerkannt worden war
(R. von Mayr: Der Prozess Jesu, in: Archiv für Kriminal–Anthropologie
und Kriminalistik 21 [1906]). Andere wiederum beharren darauf, dass man
sich zu diesem Zweck römischer Henker bedienen musste, und dass die
Vollstreckung der vom Hohen Rat verhängten Strafen in Einklang mit
römischen Gesetz und Verfahrensrecht stehen musste (F. Dörr: Der Prozess
Jesu in rechtsgeschichtlicher Bedeutung, S. 62).
Es wird auch eine radikale Ansicht formuliert, nach der der Sanhedrin
durch die Römer der gesamten Strafgerichtsbarkeit, zumindest jedoch der
Kapitalgerichtsbarkeit, beraubt worden war und lediglich die Befugnis
eines untergeordneten Gerichts behalten hatte, dem zum Beispiel die
Ausstellung von Haftbefehlen, die Durchführung von Voruntersuchungen und
ähnliches oblag (vgl. J. Klausner: Jesus von Nazareth, S. 462).
Eine weitere vertretene Ansicht besagt, dass der Sanhedrin seine
Befugnisse hinsichtlich der Straf- und auch der Kapitalgerichtsbarkeit
behalten hat, aber dass der Verurteilte gegen das Urteil des Rates von
Rechts wegen Einspruch beim römischen Statthalter als
Appellationsgericht einlegen konnte (S. Dubnow: Diwrei J’mei Am Olam,
Bd. II, S. 220).
Weitere Meinungen besagen, dass der Hohe Rat zur Ausübung der
Rechtssprechung bei Kapitalverbrechen befugt war, wenn vorher die
Zustimmung des römischen Statthalters vorgelegen hat (H. Zucker: Studien
zur jüdischen Selbstverwaltung im Altertum, S. 82; J. Lengle: Römisches
Strafrecht bei Cicero und den Historikern, S. 51).
Nach talmudischer Überlieferung wurde Israel die Kapitalgerichtsbarkeit
40 Jahre vor der Zerstörung des Tempels, also im Jahre 30, genommen.
Diese Überlieferung findet sich in beiden Versionen des Talmuds (Es
existiert eine palästinische und eine babylonische Version des Talmuds.
Erstere geht auf das Jahr 425 zurück, während letztere im 6. Jh. in
Babylonien zur Zeit der Diaspora entstand.) Die babylonische Fassung
lautet: "Als Rabbi Jischmael ben R. Jose erkrankte, sandten sie an ihn:
sage uns doch zwei oder drei Dinge, die du im Namen deines Vaters gesagt
hast. Da ließ er ihnen erwidern: …vierzig Jahre vor der Zerstörung des
Tempels wanderte das Synedrium aus und ließ sich in den Kaufhallen
nieder" (B Sanhedrin 41b). In der palästinischen Fassung steht
folgendes: "Vierzig Jahre vor der Zerstörung des Hauses wurde die
Kapitalgerichtsbarkeit hinweg genommen. In den Tagen Schimon ben
Schetachs wurde die zivile Gerichtsbarkeit weggenommen. Da sagte Rabbi
Schimon bar Jochai: Gelobt sei Gott, denn ich bin nicht weise genug, um
zu richten." (J Sanhedrin I, 1).
Im babylonischen Talmud gibt es jedoch auch eine diesem widersprechende
Überlieferung. Dort steht geschrieben, dass die Kapitalgerichtsbarkeit
erst ein Ende fand, als der Tempel zerstört war, das heißt im Jahre 70
(B Sanhedrin 52b). Da die Kapitalgerichtsbarkeit gemäß der Bibel
innerhalb des Tempelbezirks ausgeübt werden musste ("an dem Ort, den der
Herr erwählen wird", Dtn 17, 8), kam die Zerstörung des Tempels einer
automatischen Aufhebung dieser Form der Gerichtsbarkeit gleich.
Gleichzeitig gibt es aber auch im Talmud Hinweise, dass die
Kapitalgerichtsbarkeit auch nach der Tempelzerstörung ausgeübt wurde,
"nicht etwa, um die Worte der Tora zu überschreiten", sondern weil die
Situation es so verlangte (B Sanhedrin 46a). Daraus lässt sich
schließen, dass eine freiwillige Aufgabe der Gerichtsbarkeit lange vor
der Zerstörung des Tempels in hohem Maße unwahrscheinlich ist.
Fraglich ist an dieser Stelle, warum sowohl die babylonische als auch
die palästinische Überlieferung das Ende der Kapitalgerichtsbarkeit auf
das Jahr 30 datieren. Zu vermuten ist, dass die Ursache bzw. Absicht
etwas mit diesem Datum zu tun hat. Diese Überlieferung scheint
geschaffen worden zu sein, um den Sanhedrin von jeder Verbindung mit der
Kreuzigung Jesu zu befreien, die in jenem Jahr stattgefunden haben soll,
denn wenn der Hohe Rat vierzig Jahre vor der Tempelzerstörung keine
Kapitalgerichtsbarkeit mehr ausübte, sei es aufgrund seiner Verlagerung
in Kaufhallen oder weil die Gerichtsbarkeit "aufgehört" hatte, dann
konnte er Jesus nicht den Prozess gemacht bzw. ihn gekreuzigt haben.
Als ein Grund, warum der Sanhedrin seine Kapitalgerichtsbarkeit beendet
haben soll, wird genannt, dass die Zahl der Mörder so stark zunahm, dass
er nicht mehr imstande gewesen sei, diese Arbeitslast zu bewältigen.
Obwohl zu jener Zeit die Gewalt in Judäa zunahm, ist es nicht
vorstellbar, dass der Gerichtshof aus diesem Grund seine
Rechtsprechungsbefugnisse aufgegeben haben soll, denn damit hätte er der
römischen Besatzungsmacht gegenüber zugegeben, dass er seinen Aufgaben
und Pflichten nicht gewachsen ist. Im Gegenteil aber musste der
Sanhedrin ein vitales Interesse daran gehabt haben, nachzuweisen, dass
er alle ihm anvertrauten rechtlichen und administrativen Funktionen
gewachsen war und für die Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung
innerhalb der jüdischen Bevölkerung sorgte, denn ansonsten bestand die
Gefahr, dass die römische Besatzungsmacht die Teilautonomie der Juden
hinweg nähme und den Römern auch die Gerichtsbarkeit überlassen worden
wäre (vgl. H. Graetz: Geschichte der Juden, Bd. III, S. 554).
Nach dem Gesagten steht fest, dass der Sanhedrin in den vierzig Jahren
vor der Zerstörung des Tempels tatsächlich die Kapitalgerichtsbarkeit
ausübte. Er behielt während dieser Zeit seinen Sitz im Tempelbezirk und
ging nicht ins Exil, weder in irgendwelche Kaufhallen oder sonst
irgendwo hin.
Es drängt sich die Frage auf, warum die jüdische Überlieferung davon
spricht, dass die Kapitalgerichtsbarkeit um das Jahr 30 aufgehört hat.
Es drängt sich geradezu auf, dass dieser Zeitpunkt mit der Kreuzigung
Jesu zusammenhängt, die auf jenes Jahr datiert wurde. Vermutlich ist es
eine Verteidigung gegenüber den Schuldvorwürfen seitens der Evangelien.
Scheinbar reichte es nicht aus, die Darstellungen in den Evangelien als
unwahr zurückzuweisen, statt dessen dachte man wohl, eine Überlieferung,
die zur Sprache brächte, dass die jüdischen Gerichte zur Zeit der
Kreuzigung Jesu gar keine Kapitalgerichtsbarkeit mehr ausübten, könnte
ein plausibles und akzeptables Argument zu ihrer Verteidigung
darstellen.
Zusammenfassend ist anzunehmen, dass der Sanhedrin alle jemals nach
jüdischem Recht innegehabten Befugnisse hinsichtlich der Behandlung von
Kapitalverbrechen behalten hatte. Entsprechend gab es keinerlei
Zuständigkeitsprobleme, die hätten verhindern können, dass er Jesus auf
jede mit diesem Recht in Einklang stehende Weise den Prozess machte,
sofern vom Gesetz her ein Verbrechen vorlag. Es ist mangels historischer
Quellen auch nicht nachweisbar, dass dem Sanhedrin seitens der römischen
Verwaltung oder durch römisches Gesetz irgendein Teil seiner nach
jüdischem Recht ausgeübten Gerichtsbarkeit entzogen worden war (vgl. P.
Winter: On the trial of Jesus, S. 10, S. 154; H. Mantel: Studies in the
History of the Sanhedrin, S. 254 ff.). 1.3. Gesetzestreue
des Hohenpriesters und der Mitglieder des Großen Sanhedrin
Nachdem festgestellt ist, dass die Römer der innerjüdischen Gerichtsbarkeit
keine Hemmnisse in den Weg gestellt haben und somit auch der Hohe Rat die
Kapitalgerichtsbarkeit ausgeübt hat (vgl. oben 1.2. Reichweite der
Befugnisse des Großen Sanhedrin), ist noch die Frage zu beantworten, ob sich
die Mitglieder des Hohen Rates, also der Hohenpriester, die Ältesten und die
Schriftgelehrten gesetzestreu verhalten haben oder ob Urteile und
Entscheidungen nach Gutdünken oder nach dem eigenen Vorteil gefällt worden
sind.
Verschiedentlich wird die Behauptung aufgestellt, bei den Hohenpriestern,
Ältesten und Schriftgelehrten habe es sich um Verbrecher gehandelt, gewohnt
und entschlossen, um des Erreichens ihres hässlichen Zieles willen jedes
Gesetz zu brechen. (Als solche Ziele kommen in Betracht die Sicherung und
der Ausbau der erreichten Machtposition und des Einflusses, die Vermehrung
des eigenen Vermögens und ähnliches; jeglicher Widerstand gegen die
Erreichung dieser Ziele musste natürlich mit allen Mitteln verhindert
werden.) So haben die führenden Priester nach Matthäus (26, 15, 16) Judas
skrupellos mit 30 Silberlingen dazu angestiftet, Jesus zu verraten. Wer so
etwas tut, der schreckt auch nicht davor zurück, illegale Mittel anzuwenden
und das Gesetz zu brechen. Als weiteres Argument für die Verkommenheit der
Hohenpriester und Ältesten gelten die Schmähreden Jesu gegen die
Schriftgelehrten und Pharisäer (So wandte sich Jesus laut Matthäus (23, 13 –
36) an sie mit den Worten: "Weh euch Gesetzeslehrern und Pharisäern! Ihr
Scheinheiligen! […23, 25] Eure Becher und Schüsseln haltet ihr äußerlich
rein, aber was ihr daraus esst und trinkt, habt ihr euch in eurer Gier
zusammen gestohlen. […23, 28] So seid ihr: Von außen hält man euch für
fromm, innerlich aber steckt ihr voller Heuchelei und Schlechtigkeit.").
Als weiterer Beleg für die Schlechtigkeit der Hohenpriester gilt ein
Bericht des Josephus (F. Josephus: Antiquitates Judaicae, 20, 8.8). In
diesem Bericht heißt es: "Schließlich gingen die Hohenpriester in ihrer
Dreistigkeit und in ihrem Übermut so weit, dass sie sich nicht scheuten,
ihre Knechte auf die Tennen zu schicken und die den Priestern zustehenden
Zehnten wegnehmen zu lassen, was zur Folge hatte, dass die ärmeren Priester
aus Mangel an Lebensmitteln dem Tode verfielen." Zu beachten ist hierbei
jedoch, dass diese Geschehnisse etwa 30 Jahre nach dem Tode Jesu
stattfanden, also etwa um das Jahr 60. Zu dieser Zeit hatten sich untere
Schichten der Priesterschaft mit den Zeloten (Mitglieder einer stark
religiösen, römerfeindlichen Gruppe von Juden, die die römische Besatzung
mit Waffengewalt beenden wollten) zusammengetan. Insoweit handelte es sich
bei der Wegnahme der Zehnten um eine Beschlagnahme, eine, wenn auch
moralisch ungerechtfertigte, polizeiliche Maßnahme der pro-römisch
eingestellten Hohenpriester gegenüber den mit den Zeloten sympathisierenden
Priestern. Denn der Kampf der Zeloten galt nicht nur den Römern, ebenso
wurden auch die mit den Römern zusammen arbeitenden Juden, also auch die
Hohenpriester als Gegner angesehen.
Als weiterer Hinweis auf die angebliche Kriminalität der Hohenpriester gilt
ein im Talmud enthaltenes Spottgedicht (T Menachot XIII, 21). Dieses
Spottgedicht soll gegen die führenden hohenpriesterlichen Familien gerichtet
gewesen sein, die gemeinsam die Nation plünderten und ruinierten. In ihm
werden die Knüppel und Fäuste, die Schreibfedern und das Getuschel, mit
denen die in ihm genannten Hohenpriester und ihre "Spießgesellen" das Volk
behandelten, angesprochen und beklagt. Aufgezeichnet wurde diese Geschichte
von Abba Jossei ben Chanan, der um das Jahr 80 lebte, sowie von Abba Schaul
ben Botnit, der etwa 20 Jahre davor lehrte. Bemerkenswert ist, dass die
erwähnten Hohepriester meistens nach dem Tode Jesu ernannt wurden. Hinzu
kommt, dass um das Jahr 60 herum, wie schon bei Josephus angesprochen, die
Überheblichkeit und Gewalt der Hohenpriester den Zeloten gegenüber stark
zunahm. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Erzähler des
Spottgedichtes selbst Zeloten waren, die unter der Verfolgung durch die
Hohenpriester zu leiden hatten und das Gedicht dazu nutzten, diese zu
diskreditieren und Abneigung und Abscheu im Volke den Hohenpriestern
gegenüber zu vergrößern. Das Spottgedicht erlaubt indes auch eine andere
Deutung: in ihm werden die Ursachen für die Zerstörung des Tempels und die
Niederlage des Aufstands beschrieben. Gerade die Misswirtschaft der
Hohenpriester soll den göttlichen Zorn über den Tempel gebracht haben, denn
auf das Spottgedicht folgt im Talmud ein Ausspruch, wonach der Tempel
zerstört worden sei, weil sie "Geld liebten und einander hassten" (T
Menachot XIII, 22).
Ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt, der bei der Betrachtung der
Aufzeichnungen und Berichte aus dieser Zeit zu beachten ist, ist die
politische Situation. Judäa war von den Römern besetzt. Diese ernannten die
Hohenpriester und setzten sie auch wieder ab. Es war natürlich im ureigenen
Interesse der Römer, nur solche Männer zum Hohenpriester zu ernennen, die
ihnen freundlich gesinnt und vertrauenswürdig waren. Für die jüdische
Bevölkerung hingegen war das Amt des Hohenpriesters das Symbol des
Nationalstolzes, jüdischer Rechtsansprüche und des Vorrangs ihrer Religion.
Die Einmischung der Besatzungsmacht in das Amt des Hohen Priesters mussten
die Juden als eine enorme Herabsetzung, Erniedrigung und Entwürdigung
empfunden haben, schließlich stand dieses Recht nur dem Großen Sanhedrin zu.
Daraus lassen sich natürlich auch Schlüsse darauf ziehen, in welchem Ansehen
der von den Römern ausgesuchte und ernannte Hohenpriester in der Bevölkerung
und folglich auch bei den verschiedenen Autoren stand. Andererseits lässt
sich aus diesem Sachverhalt nicht folgern, dass die Hohenpriester
Kollaborateure oder Verräter waren. Dafür finden sich keinerlei Beweise.
Gerade weil die Grundstimmung der Juden römerfeindlich war und die Zeloten
mehr und mehr Zuspruch fanden, hätte es sicherlich Hinweise dafür gegeben,
wenn die Hohenpriester, namentlich Kaiphas, für die Römer tätig gewesen
wären. Ein Überläufer wäre zutiefst verachtet worden.
Während es unter den Hohenpriestern und Ältesten viele Sadduzäer (Die
Sadduzäer erkannten als bindend lediglich die schriftlichen Gebote der Tora
an.) gab, waren die Gelehrten im Sanhedrin Pharisäer (Die Pharisäer
"erweiterten" die Tora um die mündlichen Gesetzesüberlieferungen, die
Mischna.).
Josephus (vgl. F. Josephus: Antiquitates judaicae, 18, 1,3) beschrieb
die Pharisäer folgendermaßen: "sie waren arm und strebten nicht nach
weltlichem Reichtum, verhielten sich umsichtig und handelten stets aufgrund
gewissenhafter Überlegungen und nach bestem Wissen, waren zudem bescheiden
und bezeugten ihren Ältesten Respekt; nicht zuletzt waren sie fromm und
glaubten, ein barmherziger Gott werde allen guten und gerechten Menschen in
einer besseren kommenden Welt die Qualen, die sie auf Erden erlitten hatten,
vergelten". Die Pharisäer standen in dem Ruf einer rigorosen Gesetzlichkeit
und einer peinlich formalistischen Genauigkeit bei der Beachtung jeder
kleinen Einzelheit des Gesetzes. Es besteht kein Anlass anzunehmen, die
pharisäischen Vertreter im Hohen Rat seien anders gewesen.
Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Kaiphas musste in seinem Amt als
Hohepriester auf einem schmalen Grat balancieren. Zum einen hatte er die
Befehle und Anordnungen der römischen Besatzungsmacht umzusetzen, zum
anderen die Belange der jüdischen Bevölkerung zu vertreten. Als ein von Rom
vorgeschlagener Kandidat, der letztendlich dem römischen Statthalter
verantwortlich war und von diesem abgesetzt werden konnte, war der
Hohepriester natürlich bestrebt, die inneren Angelegenheiten der Juden so
reibungslos und effizient zu regeln, dass es keinen Anlass für eine römische
Intervention gab, das heißt, die Römer mussten ständig überzeugt werden,
dass die Verwaltung in sicheren und fähigen Händen lag.
Da es keine Hinweise für ein gegenteiliges Verhalten gibt, ist anzunehmen,
dass Kaiphas die jüdischen nationalen und religiösen Anliegen angemessen
vertrat. Gerade deshalb ist aber auch nicht anzunehmen, dass sich Kaiphas
von unaufrichtigen oder gar kriminellen Motiven leiten ließ. Und schließlich
hat, wobei dies fast unnötig zu sagen ist, auch ein Hohepriester mangels
widerlegender Indizien Anspruch auf eine Unschuldsvermutung. Daher ist
festzuhalten, dass sich Kaiphas, ebenso wie die übrigen Mitglieder des Hohen
Rates, an Recht und Gesetz gehalten hat (vgl. zum gesamten Punkt 1 auch
Cohn: Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, S. 53 ff.). |