Zum Prozess Jesu aus jüdischer Sicht:
Thesen zur Aufrechterhaltung der Theorie eines
jüdischen Prozesses
Nachdem aus den im Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) verwalteten Mitteln
zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus eine
Publikation hervorging, die die Behauptung "die Juden haben Christus
umgebracht" ausdrücklich als richtig bezeichnet, sehen wir uns
veranlasst noch einmal deutlich und ausdrücklich darauf hinzuweisen: Die
Juden sind nicht schuld am Tod des Jesus von Nazareth - ganz im Gegenteil -
doch lesen Sie selbst...
Den Verfechtern und Vertretern der Theorie eines jüdischen
Prozesses blieben diese Ungereimtheiten und Abweichungen von den jüdischen
Rechts- und Verfahrensgrundsätzen nicht verborgen. Es existieren
verschiedene Auffassungen und Theorien, um diese Abweichungen und
Gesetzesverstöße plausibel zu machen.
4.1. Der Prozess als Scheinprozess
Nach einer dieser Auffassungen (beispielsweise A. T. Innes: The Trial of
Jesus Christ, S. 23; F. J. Powell: The Trial of Jesus Christ, S. 87 f.) soll
gerade die Verletzung aller Rechts- und Verfahrensvorschriften die
Behauptung begründen, Jesus sei Opfer eines Justizmordes geworden. Der
gesamte Prozess sei nur inszeniert worden, um dem bereits vorher gefassten
Beschluss, Jesus zu töten (vgl. Mk 14, 1; Mt 26, 46), den Anschein eines
rechtlichen Verfahrens zu geben. Da also der gesamte Prozess zum Schein
geführt wurde, bestand folglich auch kein Anlass, sich an die Vorschriften
des Prozessrechts zu halten.
4.2. Die Theorie der "Drei – Tage – Chronologie"
Um namentlich die Verstöße gegen das Verbot eines nächtlichen Prozesses und
das Verbot eines Prozesses am Vortage eines Feiertages zu beseitigen, haben
einige Autoren das Datum des Prozesses vordatiert. Nach dieser so genannten
"Drei – Tage – Chronologie" haben die Ereignisse, welche die Evangelien in
die eine Nacht und den darauf folgenden Tag gelegt hatten, in Wirklichkeit
an drei aufeinander folgenden Tagen stattgefunden. Nach dieser Theorie muss
der Prozess nicht in der Nacht und auch nicht am Vortage des Passahfestes
stattgefunden haben. Nach einer pharisäischen (Pharisäer: Angehöriger einer
altjüdischen, streng gesetzesfrommen Partei) Regel der Schriftauslegung
könnte sich das, was laut der Darstellung in der Bibel zuerst stattgefunden
hat, zuletzt ereignet haben und umgekehrt. "In der Tora [gibt es] kein
Früher und kein Später" (B Pesachim 6b). Doch selbst wenn man sich diesen
freien Umgang mit dem Kalender zu eigen macht, so vermag diese Theorie doch
nicht die anderen Gesetzesverstöße zu erklären. Wesentliche
Unvereinbarkeiten wie beispielsweise die Verurteilung Jesu ohne
Zeugenaussagen aufgrund eigenen Geständnisses bleiben unbeantwortet.
4.3. Die Theorie eines Prozesses nach sadduzäischem Recht
Ein gewichtiges Argument zur Aufrechterhaltung der Theorie vom jüdischen
Prozess lautet, dass statt pharisäischen Rechts sadduzäisches Recht zur
Anwendung kam (vgl. J. Blinzler: Der Prozess Jesu, S. 86 ff.; J. Klausner:
Jesus von Nazareth, S. 471). Dieses Recht soll später überflüssig geworden
und in Vergessenheit geraten sein. Insofern also die im Prozess beobachteten
Verstöße gegen das Recht die nicht in der Bibel bewahrte mündliche Tora
betreffen, könnte es sein, dass ein sadduzäisches Gericht diese überhaupt
nicht als Verstöße betrachtete, weil es dieses Recht gar nicht anerkannte.
Andererseits hätte aber auch ein sadduzäisches Gericht keine in der Bibel
niedergelegten oder aus ihr herzuleitenden Vorschriften missachtet. Im
Folgenden sollen die oben aufgezeigten Verstöße aus Sicht des sadduzäischen
Rechts betrachtet werden.
In der Bibel findet sich kein Hinweis darauf, dass ein Prozess gegen einen
Verbrecher nicht auch an Feiertagen oder am Vorabend eines Feiertages
stattfinden darf. Insoweit kann der Prozess ordnungsgemäß gewesen sein.
Fraglich ist indes bereits, ob solch ein Prozess auch des Nachts geführt
werden konnte. Nach Numeri (Num) 25, 4 sollten Verbrecher "im Angesicht der
Sonne" gepfählt werden. Diese Vorschrift wurde dahingehend ausgelegt, dass
ein Prozess gegen einen Verbrecher und die Bestrafung am hellen Tag
durchzuführen ist (B Sanhedrin 34b). Andererseits könnte diese biblische
Begründung für diese Vorschrift auch erst im Nachhinein über eine bereits
bestehende ältere Vorschrift gestülpt worden sein, so dass im Zweifel gesagt
werden kann, dass ein nächtlicher Prozess hätte stattfinden können.
Im Gegensatz zum pharisäischen Recht, wo die Strafgerichtsbarkeit in den
Händen des Kleinen Sanhedrin der dreiundzwanzig Richter lag, soll im
sadduzäischen Recht der Große Sanhedrin der einundsiebzig Mitglieder die
Gerichtsbarkeit ausgeübt haben. Dies soll aus dem Vers Num 11, 16 folgen,
wonach Mose die siebzig Ältesten um sich versammelte. In der Tat dient dies
als Vorbild für die Zahl der Mitglieder des Großen Sanhedrin. Allerdings
finden sich keine biblischen Nachweise dafür, dass Mose mit den siebzig
Ältesten oder ein Sanhedrin der Einundsiebzig jemals die
Strafgerichtsbarkeit ausgeübt haben.
Ein Hauptgrund, woran der Prozess auch nach sadduzäischem Recht scheitern
muss, ist indes das Erfordernis, eine Anklage wegen eines Kapitalverbrechens
durch zwei oder drei Zeugen nachzuweisen (Dtn 19, 15; 17, 6). Auch unter der
Annahme, dass ein Geständnis nur nach pharisäischem Recht unzulässig war, so
führt eine Selbstbezichtigung doch nicht zur Aufhebung des Erfordernisses
der Zeugenaussagen, denn Dtn 19, 15 schreibt eindeutig vor, dass eine
Anklage nur durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen begründet werden
kann.
Weiterhin ist fraglich, ob sich Jesus nach sadduzäischem Recht auch einer
Gotteslästerung strafbar gemacht hätte. Nach Lev 24, 15 soll seine Schuld
tragen, wer seinem Gott flucht. Wer den Namen Jahwe ausspricht, solle des
Todes sterben, die ganze Gemeinde soll ihn steinigen, Lev 24, 16 (vgl. auch
oben unter 2.6.). Es handelt sich hierbei um biblisches Recht, dass die
Sadduzäer zweifellos angewendet haben. Nun wird behauptet, Jesus sei nicht
eine Gotteslästerung durch das Aussprechen des Namens Gottes zur Last gelegt
worden, sondern er habe vorsätzlich gefrevelt und so den Herrn geschmäht.
Nach Num 15, 30 soll "ausgerottet werden aus seinem Volk, wer vorsätzlich
frevelt". Dieses "Ausrotten" wird jedoch von Gott zu seiner Zeit vollzogen.
Später wurden alle Verbrecher, die von der göttlichen Ausrottung bedroht
waren, aufgrund eines gerichtlichen Urteils ausgepeitscht, so dass sie nach
Erdulden der Auspeitschung nicht mehr die Ausrottung durch Gott verdienten
(vgl. M Makkot III, 15). Diese Annahme, dass niemand die Ausrottung durch
Gott zu befürchten hatte, der die Auspeitschung erduldet hat, beruhte
darauf, dass Gott niemanden zweimal bzw. ein zweites Mal strafen werde.
Folglich riskierte also jemand, der gegen dieses Gesetz verstieß, eine
göttliche Bestrafung oder aber Peitschenhiebe, jedoch nicht die Todesstrafe
durch Menschenhand.
Zudem wirft diese Theorie die Frage auf, warum die Pharisäer Jesus in die
Hände der Sadduzäer gegeben haben sollen. Nach der Darstellung der
Evangelien waren die Pharisäer die "Erzfeinde" Jesu. Sie waren es, die ihn
vernichten wollten und sich berieten, wie dies am besten zustande zu bringen
sei. Es mutet schon recht merkwürdig an, dass sie ausgerechnet beim letzten
Akt der "Vernichtung" nicht anwesend gewesen sein sollen. Zudem standen
Pharisäer und Sadduzäer im Streit miteinander. Ist es wirklich vorstellbar,
dass die Pharisäer ihren Gegnern, den Sadduzäern, die Durchführung des
Prozesses und die Verkündigung der Strafe überlassen haben?
Die Pharisäer waren mit großem Eifer dabei, Jesus davon zu überzeugen, sich
die Hände zu waschen, das Fasten einzuhalten und den Einzelheiten des
Sabbatgesetzes stärkere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Und nun missachteten sie
plötzlich alle verpflichtenden Vorschriften des Rechts, um Jesus in die
Hände der häretischen (ketzerischen) Sadduzäer auszuliefern, damit diese ihm
den Prozess machen?
Einen weiteren wesentlichen Aspekt übersieht die Sadduzäertheorie. Zwar
umfasste der Große Sanhedrin der Einundsiebzig sowohl Pharisäer als auch
Sadduzäer. Die im Hohen Rat vertretenen Gelehrten waren Pharisäer, während
es unter den Hohenpriestern und den Ältesten viele Sadduzäer gab. Aus den
Berichten des Josephus ist bekannt, dass die Sadduzäer immer mit den
Pharisäern stimmten, "weil das Volk sie sonst nicht dulden würde" (F.
Josephus: Antiquitates Judaicae, 18, 1.4). Hat sich demnach in jener Nacht
der Große Sanhedrin versammelt, so verfuhr er nach pharisäischem Recht,
ansonsten hätten sich die Pharisäer nicht daran beteiligt und auch das Volk
hätte es nicht anders geduldet. Aus diesen Tatsachen heraus ist es aber
ausgeschlossen, dass Jesus vor ein sadduzäisches Gericht gestellt wurde,
denn selbst unter der Annahme, dass es sadduzäische Gerichte gegeben hat, so
konnte solch ein Gericht niemals identisch mit dem Großen Sanhedrin sein.
4.4. Die Theorie eines Prozesses unter einer Notstandssituation
Eine weitere Ansicht geht dahin, dass im Falle des Prozesses gegen Jesus das
geltende Recht durch die Ausrufung eines Notstands außer Kraft gesetzt wurde
(E. Stauffer: Jesus-Gestalt und Geschichte, S. 96; J. Blinzler: Der Prozess
Jesus, S. 146). Dieses soll durch den Vorsitzenden des Sanhedrin in Fällen
der Apostasie (des Abfalls vom Glauben) möglich gewesen sein. Die wichtigste
Stütze dieser Theorie ist der Bericht über das Aufhängen von achtzig Hexen
an einem einzigen Tag in Aschkalon etwa einhundert Jahre vor Jesu Zeit.
Allerdings ist dies der einzige Bericht über solch eine Notstandssituation.
Daraus auf eine allgemeingültige Regel zu schließen, ist vollkommen
unangemessen. Im Rahmen von Notstandssituationen wurden die Gerichte
ausdrücklich gewarnt, dass "kein Gesetz aus Notstandsmaßnahmen abgeleitet
werden darf" (vgl. Maimonides, Kommentar zu M Sanhedrin VI, 4 und 6).
Bemerkenswert ist auch, dass es in den Evangelien keinerlei Hinweise auf die
Ausrufung des Notstands durch den Hohenpriester oder den gesamten Sanhedrin
gibt. Im Gegenteil, die Suche nach Zeugen gegen Jesus (z.B. Mk 14, 55)
deutet darauf hin, dass kein Notstand verkündet wurde und auch nicht die
Absicht bestand, dieses zu tun (vgl. zum gesamten Punkt 4 auch Cohn: Der
Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, S. 145 ff.). |