Wer hat Jesus umgebracht?
Schlusswort zum Prozess Jesu aus jüdischer Sicht
Im letzten Kapitel seines Buches fasst der Autor, Chaim Cohn, die
wichtigsten Lehren zusammen, die er aus der Erforschung des Prozesses Jesu
gezogen hat.Da dieses Kapitel mir als ein
besonders wichtiger Teil dieses zeitgeschichtlichen Dokuments erscheint,
stelle ich es als Ganzes dem Leser zur Verfügung (hier
klicken). Hier jedoch zunächst in aller Kürze einige Zitate zum
Einstieg und zur Übersicht:
Die Perversion des Rechts
Die Weissagung Jesu hatte sich erfüllt. Der Tempel war
zerstört, kein Stein war auf dem anderen geblieben (Mk 13, 2; Mt 24, 2; Lk
21, 6). Gewiss war dies (Anm.: nach christlicher Lesart) die erwartete
göttliche Vergeltung für die Kreuzigung Jesu. Die qualvolle Vergeltung muss
allezeit erlitten werden.
Die Juden teilten die Überzeugung, dass die Trümmer Jerusalems und seines
Tempels sowie die Zerstreuung des jüdischen Volkes unter die Nichtjuden
Strafe Gottes waren. Wenn Er Böses sandte, musste es verdient sein. Im
Talmud finden wir eine lange Liste von Sünden und Übertretungen, deren sich
das gegenwärtige Geschlecht ‑ so jedenfalls glaubte man ‑ schuldig gemacht
hatte und aufgrund deren es von der göttlichen Vergeltung heimgesucht wurde.
Mit Blick auf alles, was mit dem Tod Jesu verbunden war, war das jüdische
Gewissen ‑ damals wie zu jeder Zeit ‑ rein und ruhig.
Seit frühester Zeit wurde die jüdische Schuld an der Kreuzigung Jesu zu
einem willkommenen und selbstverständlichen Ausgangspunkt, um die Juden mit
allen denkbaren wirklichen und imaginären Morden zu belasten. Da sie ohnehin
unverbesserliche Mörder waren, konnte jeder unnatürliche Tod, für den sich
kein anderer Täter finden ließ, nahezu automatisch und in jedem Fall
willkommenermaßen ihnen angelastet werden. Die Märchen über die jüdische
Verbindung von Mord und Magie, Gift und Zauberei, Blut und Ritual, die auf
eine vollkommene Vernichtung des Christentums zielten, wurden "in
mannigfaltiger Gestalt häufig genug wiederholt, um daraus den Hinweis zu
entnehmen, dass sie ganz allgemein Glauben fanden".
Es ist nicht nur so, dass die jüdische Schuld an der Kreuzigung Jesu
praktisch zu einem dogmatischen Glaubensartikel geworden ist. Die typische
Kennzeichnung der Juden als Gottesmörder und somit zugleich als grenzenlos
Mordlustige hat sich so tief in das Bewusstsein nachfolgender Generationen
von Christen eingegraben, dass die modernen Auswüchse des radikalen
Antisemitismus überall fruchtbaren Boden vorfanden.
Es ist nicht unsere Absicht, aus theologischer Perspektive das Phänomen der
Beschimpfung und Peinigung der Juden durch Christen zu erforschen. Die nur
zu offensichtliche Diskrepanz zwischen der Predigt Jesu. (vgl. Mt 5, 44)
sowie den paulinischen Lehren (vgl. Röm 9‑11) und der christlichen Praxis
durch die Jahrhunderte wirft Probleme auf, deren Lösung nicht unsere
Aufgabe ist. Selbst die fortschrittlichen Versuche der Kirchen vermitteln
unausgesprochen die Vorstellung, dass es hinsichtlich des fundamentalen
Glaubens, die jüdischen Autoritäten in Jerusalem zur Zeit der Kreuzigung
seien tatsächlich für die Ermordung Jesu verantwortlich, keinen Wandel
geben kann oder soll, eine Implikation, die nicht nur die fatalen Irrtümer
und Missdeutungen vergangener Zeitalter fortschreibt, sondern auch die
emotionale Basis, die pseudoethische und die pseudotheologische
Rechtfertigung des traditionellen Vorurteils und der Feindseligkeit gegen
die Juden unangetastet lässt.
Womit wir uns ‑ als Juristen ‑ befassen, ist in erster Linie das zu keiner
Zeit und nirgendwo lebendiger und schrecklicher als beim Prozess Jesu
bewiesene Phänomen, dass die Wirkung von Gerichtsverfahren hinsichtlich der
öffentlichen Denkweise sowie der öffentlichen Reaktion nicht so sehr von
ihrem Wesen oder davon abhängt, was tatsächlich in ihrem Verlauf geschehen
ist, sondern von der Art und der Intention der Berichterstattung darüber.
Je älter oder heiliger die Autorität, desto unanfechtbarer der Bericht; je
länger Menschen an seine Wahrheit geglaubt haben und je größer die Zahl der
Menschen, die von seiner Aufrichtigkeit überzeugt sind, desto leichter und
stärker wird er sich dem Denken folgender Generationen als unumstößliche
Wahrheit aufdrängen.
In juristischen Fragen ungeübte oder unerfahrene Leser, und dies gilt in
besonderer Weise für die Vergangenheit, hegen gewöhnlich nicht den
leisesten Verdacht hinsichtlich der Genauigkeit eines Berichts, der die ‑
sei es günstige oder katastrophale ‑ Wende hervorhebt, die ein Geschehen
durch öffentliche Reaktionen erfuhr.
Die ersten Berichterstatter waren, sofern wir notwendigerweise die
spärlichen und zweideutigen Äußerungen, die Petrus und Paulus zugeschrieben
werden, außer Acht lassen, die Evangelisten. Weder sie noch ihre Leser
kümmerten sich um die juristischen oder praktischen Einzelheiten des
Prozesses oder um den rechtlichen Gehalt der beschriebenen Ereignisse. Ihr
Ziel war theologischer und missionarischer Natur, und ihre Berichte zielten
darauf ab, den römischen Statthalter von aller Verantwortung für die
Kreuzigung freizusprechen, obgleich es kein Ausweichen vor der anfänglichen
Prämisse gab, dass er ihre Durchführung befohlen hatte, und diese
Verantwortung statt dessen fest und unumstößlich auf die Schultern der Juden
zu laden.
Was tatsächlich geschehen war, durfte ‑ oder sollte ‑ in Vergessenheit
geraten. Was als Ereignis ungenau und auf tendenziöse Weise berichtet worden
war, wurde zur Wahrheit des Evangeliums und erhob historischen Anspruch.
Jesus wurde nicht deshalb gekreuzigt, weil er ‑ sei es von den Juden oder
vom römischen Statthalter ‑ ordnungsgemäß verurteilt worden war, sondern
weil die Juden sich gegen ihn verschworen hatten, um ihn zu töten.
Nach dieser Darstellung, die auf die Behauptung eines Justizmords
hinausläuft, ist der Prozess Jesu als die schlimmste »Perversion des
Rechts« gebrandmarkt worden, die sich je ereignet habe.
Wenn Jesus sich im Sinne der vor Pilatus gegen ihn vorgebrachten Anklage als
schuldig bekannte, dann nicht unbedingt, weil er tatsächlich schuldig war
oder man dies glaubte. Was auch immer ihn dazu veranlasste, sein bewusst
formuliertes Schuldbekenntnis reichte, vom rechtlichen Standpunkt aus
betrachtet, als Rechtfertigung seiner Verurteilung aus.
Während man der »Perversion des Rechts« im Zusammenhang von Prozess und
Kreuzigung Jesu zugeschrieben hat, ist bisher der Tatsache nicht genügend
Aufmerksamkeit zuteil geworden, dass die Perversion von Wahrheit und
Gerechtigkeit in den Berichten über den Prozess die erste und fortdauernde
Ursache nicht nur zahlloser Justiz‑ oder Quasijustizmorde und Quälereien,
sondern eines Massenmordes und einer Verfolgung ungekannten Ausmaßes wurde.
Ich wage zu behaupten, dass die Berichterstatter selbst, sich niemals hätten
vorstellen können, welche unermesslichen, unsagbaren Leiden sie durch ihre
fiktiven Berichte heraufbeschworen.
Vorurteile und Hassgefühle, die zu Verfolgungen und ungesetzlichen
Diskriminierungen führen, sind, besonders heute ‑ angesichts des wachsenden
Bewusstseins für die Menschenrechte und die Verwerflichkeit rassischer und
religiöser Voreingenommenheit ‑ für den Juristen ebenso ein
Untersuchungsgegenstand wie für Pädagogen und Soziologen.
Die Frage, welche Rolle der Sanhedrin ‑ wenn überhaupt ‑ gerade im
Zusammenhang dieser Geschehnisse spielte, ist für den Historiker des
jüdischen Rechts von höchstem Interesse. Dass der Prozess vor dem römischen
Statthalter nach römischem Recht und gemäß römischen Verfahrensvorschriften
geführt wurde, erhöht noch das Interesse an den damit angesprochenen
Problemen. Doch so verspätet diese Untersuchung auch erfolgen mag ‑ weder
die damit verbundenen Schwierigkeiten noch ihre Ergebnisse haben ihre
Aktualität eingebüsst.
Hunderte Generationen von Juden sind in der ganzen christlichen Welt für
ein Verbrechen bestraft worden, dass weder sie noch ihre Vorfahren begangen
haben, obwohl es reine Wahrheit ist, dass ihre Vorfahren keinen Anteil daran
hatten, sondern alles Menschenmögliche unternahmen, um Jesus, den sie von
Herzen liebten und als einen der Ihren verehrten, vor seinem tragischen Ende
durch die Hände der römischen Unterdrücker zu bewahren. Wenn man überhaupt
einen Funken an Trost für diese Perversion der Gerechtigkeit finden kann,
dann in den Worten Jesu selbst: »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen
verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch
die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei
Übles gegen euch, wenn sie damit lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird
euch im Himmel reichlich belohnt werden« (Mt 5, 10-12). |