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Koscher leben...
 
 

Auschwitz und Sinai:
Rubenstein, Fackenheim und der Holocaust in der jüdischen Theologie

Domagoj AKRAP, in der Ausgabe 84 des Kulturmagazins DAVID

Das 20. Jahrhundert ist aus Sicht des Judentums von zwei Ereignissen geprägt, die auf den ersten Blick mit Religion und Theologie, wenn überhaupt, nur am Rande zu tun haben. Gemeint sind die Ermordung des Grossteils des europäischen Judentums in der Schoah und die kurz danach erfolgte Staatsgründung Israels. Für viele moderne Juden stehen die beiden Erfahrungen im Zentrum ihrer jüdischen Identität. Es liegt daher auf der Hand, dass diese rein säkularen Ereignisse auch an der Entwicklung der diversen religiösen Strömungen des Judentums und ihrer Theologen nicht spurlos vorüberziehen konnten.

Eine jüdische Theologie, die angesichts von Auschwitz die Frage nach G'tt nicht stellt, konnte für die junge Nachkriegsgeneration nicht befriedigend sein. Es waren daher vor allem Angehörige dieser Generation, die seit den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Todeslager immer mehr ins Bewusstsein auch der jüdischen Theologie rückten. Wo war der G'tt Israels, als Auschwitz geschehen ist? Was wurde aus dem ewigen Bund G'ttes mit seinem Volk Israel? Fragen, die, inmitten der gesellschaftlichen Aufbruchstimmung in den USA, auf theologische Antworten drängten. Am Beispiel von Richard Rubenstein und Emil Fackenheim soll nun der philosophische Umgang mit diesen zentralen Ereignissen jüngerer jüdischer Geschichte gezeigt, ihre Konsequenzen für die Theologie sollen skizziert werden. Obwohl die beiden Denker von Herkunft und philosophischem Ansatz her grundverschieden waren, einte sie das Bekenntnis zum jüdischen Existenzialismus sowie die Überzeugung, dass die Schoah eine integrative Rolle in der neuen jüdischen Identität zu spielen habe.1

Emil Fackenheim (1916 - 2003) gehörte jener jungen Generation deutscher Juden an, die gerade noch am Leben der renommierten Bildungsstätten der Wissenschaft des Judentums teilnehmen konnte, bevor sie von den Nazis ins Exil gezwungen wurde.2
Geboren in Halle, studierte Fackenheim nach der Matura ab 1935 in Berlin an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Neben der dortigen Ausbildung zum Rabbiner begann er, Klassische Philosophie an der Universität Halle zu studieren. Die Studien erfuhren jedoch im Jahre 1938 durch die Novemberpogrome ein jähes Ende. Nach einer Internierung im Lager Sachsenhausen konnte Fackenheim Anfang 1940 nach Schottland und ein Jahr später von dort nach Kanada fliehen. An der Universität Toronto unterrichtete er seit 1948 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1983 Philosophie, danach wanderte er mit seiner Familie nach Israel aus.

Fackenheims erste Werke waren rein philosophischer Natur und stellten noch keinen Bezug zur Schoah oder anderen historischen Ereignissen  her. Diese Fragen wurden seit 1966 jedoch in seinen theologischen Überlegungen immer präsenter. Vor allem der Sechstagekrieg im Jahre 1967 löste eine Veränderung seiner Position und eine Hinwendung zum Historischen aus. Als die Existenz Israels bedroht war und viele die Gefahr eines neuen Holocaust näher kommen sahen, wurde ihm die Relevanz dieses Ereignisses und vor allem dessen theologische Bedeutung im Verhältnis zur jüdischen Geschichte bewusst. Er kam zum Schluss, der Holocaust stelle nicht nur ein historisches Ereignis dar, aus dem eine politische Lehre zu ziehen sei, sondern besitze auch eine religiöse Bedeutung. Die Einstufung des Holocaust und der kurz darauf folgenden Gründung des Staates Israel als „epochemachende jüdische Ereignisse" veranlassten Fackenheim, zwei neue „Gebote" von den Juden einzufordern: das 614. Gebot, das er aus der Erinnerung an den Holocaust ableitet, und das Gebot Am Yisrael Chai (dt. Das Volk Israel lebt), das sich als Konsequenz der Gründung des Staates Israel ergebe.3
Dieses 614. Gebot stelle nun, angesichts der erst kürzlich versuchten Vernichtung des jüdischen Volkes, die früheren 613 in den Schatten. Fackenheim wollte damit keinesfalls Geringschätzung für die traditionellen 613 Gebote ausdrucken, sondern nur die enorme Wichtigkeit des neuen 614. Gebots für die Gegenwart unterstreichen. Um ein Ereignis als „epochemachend" bezeichnen zu können, müsse es, laut Fackenheim, in der Geschichte einmalig sein, es müsse das nachfolgende Verständnis von Geschichte verändern und neue Forderungen an das jüdische Volk und die Menschheit stellen. Die Schoah „erfülle" diese Voraussetzungen in seiner Dimension auf allen Ebenen. Theologisch ergab sich für Fackenheim daraus: es sei nicht länger von Bedeutung, ob ein Jude an G'tt glaube, ob und wie viel der traditionellen Gebote er einhalte, solange er die Sho'ah und den Staat Israel als epochemachende Ereignisse wahrnehme und sein Leben darauf ausrichte. Damit gelang es Fackenheim, den seit der Emanzipation bestehenden Graben zwischen religiösen und säkularen Juden zu schliessen. Während der religiöse Jude über Jahrhunderte Zeugnis für G'tt abgelegt hat, legt nun auch der säkulare Jude durch seine blosse Existenz Zeugnis gegen den Teufel ab und beteiligt sich so an der Bekämpfung des Götzendienstes.4
Die beiden sind in ihrem Widerstand gegen das Böse vereint, die Unterscheidung zwischen religiösen und säkularen Juden somit in Bezug auf das 614. Gebot irrelevant. An deren Stelle tritt nun die Unterscheidung zwischen „unauthentischen Juden", die sich ihres Judentums entledigen wollten, und „authentischen Juden", die, egal in welcher Form, ihr Judentum bejahten. Dadurch liegt in diesem Gebot eine über das Theologische hinausreichende, einigende Bedeutung für das gesamte jüdische Volk. Für Fackenheim ergaben sich drei Verpflichtungen aus dem neuen Gebot.
Erstens: Hitler keinen posthumen Sieg zu ermöglichen, indem man an Auschwitz verzweifelt oder das Geschehene vergessen lässt. Dadurch ist die Sicherung der Existenz des jüdischen Volkes ein historischer, und nicht ein religiöser Auftrag.
Zweitens: dem Bösen zu widerstehen und keine Kompromisse mit ihm einzugehen.
Drittens: das Verlangen nach einer jüdischen Selbstbefreiung, die mit der persönlichen Freiheit der Emanzipation ihren Anfang genommen hat und erst durch die Errichtung eines jüdischen Staates, der frei von jeglicher Bedrohung ist, abgeschlossen sein wird. Darin sieht Fackenheim die Essenz des 614. Gebots. Die Staatsgründung Israels wird hier als anhaltende, kollektive Emanzipation des jüdischen Volkes verstanden.

Weit radikaler in Inhalt und Wortwahl ist der amerikanische Rabbiner und Theologe Richard L. Rubenstein (geb. 8. 1. 1924, New York). Er wuchs in einem völlig assimilierten Elternhaus, ohne nennenswerte Bindung zum Judentum auf. Nach dem Schulabschluss beschloss er, seine eigene jüdische Tradition wiederzuentdecken. Dazu inskribierte er zunächst am reformistischen Hebrew Union College. Der anhaltende Optimismus der Reformbewegung schien ihm angesichts der Vernichtung der Juden in Europa aber einer Realitätsverweigerung gleichzukommen. Der junge Student empfand das als untragbar und wandte sich dem Jewish Theological Seminary in New York zu, wo er 1952 seinen Abschluss machte. Später, während er bereits als Rabbiner tätig war, studierte er noch an der Harvard Divinity School, wo ihm 1960 der Doktortitel verliehen wurde. Sein erstes Buch After Auschwitz5 (1966) löste wegen seiner klaren, aber stellenweise provokanten Formulierungen einen Sturm der Entrüstung unter jüdischen Theologen aus. Es war aber gerade das Verdienst dieses Buches, die notwendige Debatte um die Bedeutung der Schoah für die jüdische, aber auch die christliche Theologie zu entfachen. Erstmals wurde von Theologen eingemahnt, sich mit der Massenvernichtung der Juden intensiver auseinanderzusetzen. Auschwitz war eine Herausforderung für jede Theologie und ist es bis heute geblieben.

Rubensteins theologische Grundidee war im Prinzip nicht neu: Der Glaube an den biblischen G'tt des Bundes, der Israel erlösen wird, ist in Gegenwart von Auschwitz nicht länger aufrechtzuerhalten. Wie können Juden, fragt Rubenstein, nach Auschwitz noch an einen allmächtigen, liebenden G'tt glauben? War G'tt nicht letztlich der allmächtige Gestalter der Geschichte? In der Vergangenheit wurden Katastrophen in der jüdischen Geschichte oft als Strafen für sündhaftes Verhalten interpretiert. Jeder Versuch einer solchen Interpretation in Bezug auf Sho'ah und Konzentrationslager führte letztlich aber zur absurden Annahme, Hitler hätte als Instrument G'ttes in der Geschichte agiert. Für Rubenstein selbstverständlich ein unerträglicher und abstossender Gedanke. Der G'tt der Geschichte ist daher für ihn tot, an einer Stelle schreibt er einen Satz, der sich wie ein Glaubensbekenntnis liest:

„I believe in God, the Holy Nothingness known to mystics of all ages, out of which we have come and to which we shall ultimately return."6

Wiederholt Rubenstein hier nur das bekannte Diktum von Nietzsche, „G'tt ist tot"? Mitnichten! Rubenstein lehnt nicht die Religion, und schon gar nicht das Judentum ab, wenn er den Glauben an einen erlösenden G'tt für inakzeptabel hält. Der Tod G'ttes hat keineswegs den Tod der Religion zur Folge. Rubenstein betont sogar die Wichtigkeit und Sinnhaftigkeit religiöser Rituale und des ethischen Handelns. Das Judentum hat nichts von seiner Kraft und Bedeutung verloren, denn:

„No man can really say that God is dead. How can we know that? Nevertheless, I am compelled to say that we live in the time of the "death of God". This is more a statement about man and his culture than about God. The death of God is a cultural fact. [...]
When I say we live in the time of the death of God, I mean that the tread uniting God and man, heaven and earth, has been broken. We stand in a cold, silent, unfeeling cosmos, unaided by any purposeful power beyond our own resources.
After Auschwitz, what else can a Jew say about God?"7

Sind dann nicht doch das Ideal des Menschen und die Idee des Vernunftglaubens in Auschwitz gestorben? Sollte die Frage nicht besser: „Wo war der Mensch?" anstelle von „Wo war G'tt?" lauten?

Zu den Ansichten beider Denker lässt sich feststellen. Fackenheim hält trotz der Sho'ah am G'tt der Geschichte fest und fordert ein weiteres Gebot, das für die Juden über alle ideologischen Grenzen hinaus bindend ist. Dadurch wird eine historische Katastrophe in den Bereich der Theologie transferiert, was nicht unproblematisch ist, da sie ja dadurch offenbarungsähnlich wird. Rubenstein verwirft den G'tt der Geschichte, der nach Auschwitz für tot erklärt werden muss.8
Trotzdem hält er an der Religion und am Judentum fest und sieht darin eine Möglichkeit, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk zu stärken. Während der Holocaust den Rückzug G'ttes aus der Geschichte bedeute, stelle die Wiedererlangung der staatlichen Selbstständigkeit Israels auf der anderen Seite die Rückkehr des jüdischen Volkes in die Geschichte dar. Die zwei Ereignisse werden in der Holocaust-Theologie aufs Engste miteinander verbunden.
Die theologischen Vorstellungen von Rubensteins Tod G'ttes - Theologie und Fackenheims 614. Gebot riefen auch kritische Stimmen aus den unterschiedlichsten Lagern hervor. Zu Recht ist von orthodoxer Seite der Einwand geäussert worden, dass

„unter den gegebenen Umständen niemand befugt [ist], den Holocaust oder irgendein anderes Ereignis - einschliesslich der Gründung des Staates Israels - als ein Offenbarungsereignis auszugeben."9

Denn die grossen Ereignisse des jüdischen Glaubens äusserten sich in der Geschichte als g‘ttliche Erlösungsakte, und nicht als Katastrophen. Weiters muss die Möglichkeit angezweifelt werden, eine neue, positive und konstruktive Form der jüdischen Identität auf ein so ungeheures Ereignis wie der Sho'ah aufzubauen. Bei all ihrer Zentralität kann sie dem heutigen Judentum nicht als alleinige schöpferische Quelle für ein zeitgemässes, selbstbewusstes jüdisches Leben dienen.

  • Rubenstein und Fackenheim sind nur zwei Vertreter der so genannten Holocaust-Theologie. Eine ganze Reihe jüdischer Theologen, von orthodox bis säkular, rückte seit 1960 verstärkt den Holocaust ins Zentrum ihres Denkens unter anderem auch: Eliezer Berkovits, Arthur Cohen, Yitzchak Greenberg.
  • Zum Leben und Denken von Emil Fackenheim s. L. Greenspan / G. Nicholson (ed.): Fackenheim. German Philosophy & Jewish Thought 1992, Michael L. Morgan (ed.): The Jewish Thought of Emil Fackenheim, 1987 und ders.: Emil Fackenheim: Jewish Philosophers and Jewish Philosophy 1996.
  • Die Formulierung des 614. Gebots wurde erstmals auf dem Symposium „Jewish Values in the Post-Holocaust Future" im Jahr 1967 vorgebracht (vgl. die Zeitschrift Judaism 16 (Summer 1967).
  • S. Fackenheim, in: Brocke, Michael / Jochum, Herbert: Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, S. 92f. Für Fackenheim stellte der Nationalsozialismus den Höhepunkt modernen Götzenkultes dar.
  • Richard L. Rubenstein: After Auschwitz. Radical Theology and Contemporary Judaism, Indianapolis [u.a.] 1966. Bei diesem Buch handelt es sich eigentlich um eine Sammlung von Artikeln, die Rubenstein seit den 50-ern in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht hat.
  • S. Rubenstein: After Auschwitz, S. 154.
  • Ebenda, S. 151. Hervorhebung v. Autor.
  • Fackenheim betont im Gegensatz gerade das die Stimme von Auschwitz es verbietet Auschwitz als zusätzliche Waffe zu gebrauchen um G'tt damit zu leugnen. Vgl. Fackenheim, in: Brocke, Michael / Jochum, Herbert: Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, S. 100.
  • S. Wyschogrod, in: Brocke, Michael / Jochum, Herbert: Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, S. 190.

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