Von Gott und den Menschen: Auschwitz und das kabbalistische Konzept des Zimzum

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Im Zusammenhang mit der am Anfang der Torah (im ersten Buch Mose) geschilderten Schöpfungsgeschichte (Genesis), stellten sich die Weisen in Israel schon vor Jahrtausenden die Frage, wie (oder besser wo) denn eine Welt existieren kann, wenn Gottes Wesen unendlich und allumfassend ist. Wie sollte es etwas geben können, das nicht Gott ist, wenn Gott überall und in allem ist?

David Gall

Nach Ansicht des mittelalterlichen Kabbalisten Jizhak Luria (1534 – 1572) war eine Selbstbeschränkung der Unendlichkeit Gottes notwendig, um Raum für die Schöpfung zu schaffen. Er nannte diesen Vorgang “Zimzum”, hebr. Kontraktion. Gershom Sholem übersetzt mit Zurückziehen oder Rückzug.

Sholem, Die jüdische Mystik, S. 286ff: „Luria meint, um die Möglichkeit der Welt zu gewährleisten, musste Gott in seinem Wesen einen Bezirk freigeben, aus dem er sich zurückzog, eine Art mystischen Urraum, in den er in der Schöpfung und Offenbarung hinaustreten konnte. Der erste aller Akte des unendlichen Wesens, des En Sof, war also… nicht ein Schritt nach außen, sondern ein Schritt nach innen, ein Wandern in sich selbst hinein“… En Sof steigt also „in sein Selbst hinab, konzentriert sein Selbst in sein Selbst und hat dies seit dem Beginn der Schöpfung immer wieder getan. …
Der erste aller Akte ist also kein Akt der Offenbarung, sondern ein Akt der Verhüllung und Einschränkung. Erst im zweiten Akt tritt nun Gott mit einem Strahl seiner Wesenheit aus sich heraus und beginnt seine Offenbarung oder seine Entfaltung als Schöpfergott in jenem Urraum, den er in sich selbst geschaffen… … Der Weltprozeß ist nun zweigleisig geworden. Jede Stufe des Schöpfungsprozesses enthält in sich eine Spannung zwischen dem in Gott selbst zurückflutenden Licht und dem aus ihm hervorbrechenden. Und ohne diese beständige Spannung, diesen immer wiederholten Ruck, mit dem Gott sein Wesen anhält, würde kein Ding der Welt bestehen“…

Man könnte sagen, die Göttlichkeit zog sich zusammen um einen Freiraum zu schaffen, in dem sich der „Adam Kadmon„, der „Vormensch“ oder „Prototyp des Adam“, ausbreiten konnte. Dieser Adam Kadmon wird durch die Eigenschaften Gottes, die in der Sprache der Kabalah als Sfiroth bezeichnet werden, bestimmt. Vielleicht hat ja der eine oder andere schon von den im Lebensbaum angeordneten Sfiroth gehört. Eine Abb. findet sich hier

Aus der Aussage im 1.Kap. des 1.Buches Moses (Übersetzung nach Buber): „Gott sprach: Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis!… Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, männlich, weiblich schuf er sie“…, schließen viele Kabbalisten, dass der Adam Kadmon in der Schöpfung selbst Gott, sozusagen Schöpfergott, ist.

Die göttliche Kraft bricht in Form von Licht aus dem Adam Kadmon heraus und wird in der Welt eminent. Dieses Licht Gottes ist aber so stark, dass die Welt es nicht halten kann. Die aus den ersten Strahlen entstandenen Gefäße oder auch Schalen (hebr. Klipoth), zerbrechen unter dem Aufprall des Lichts des Adam Kadmon. Dieses kosmische Zerbrechen der Gefäße (Schwirath haKilim) schleudert Bruchstücke und Funken des ersten Lichts, die wir nun sammeln und wieder zusammenbringen sollen.

Viele dieser Bruchstücke konnten bereits geborgen werden. Viele Splitter des „verborgenen Lichts“ (Or ganus) fehlen aber noch zur Ganzheit (ganz = hebr. schalem, ein Wort, aus dessen Wurzel Sch-L-M sich übrigens auch das Wort für Frieden, SchaLoM, ableitet. Sie finden sich inzwischen, wie könnte es anders sein, dort, wo es am Schmutzigsten ist, im Elend und in der Verzweiflung. Um sie zu bergen, muss der Mensch hinabsteigen. Zu den Verworfenen – oder auch in sein Inneres, ins Unbewusste, in die Grenz- und Zwischenräume.

Musik: Das verborgene Licht, haOr haganus, als mp3 oder ogg: Von Ahuwah Oseri, beTodah rabah, laHachlamah mehirah umemuschekheth uschlemah…

Die Aufgabe des Menschen beschreibt das Judentum als „Tikun Olam„, d.h. hebr. Reparatur der Welt. Hierbei ist der Mensch Gottes Partner, vielleicht auch „Erfüller“. Diese Aufgabe kann er nicht in Unterordnung erfüllen, er muss sich vielmehr aufrichten und erheben. Er muss sich um Integration seiner eigenen Vielfalt, auch der Dunkelheit, mühen, wie auch um die Integration und Zusammenführung der gesamten Menschheit. Er soll keinem geringeren nachstreben als dem Höchsten, Gott selbst. Ein Buch in dem Erich Fromm den Kern des Judentums beschreibt, heißt dementsprechend „Ihr werdet sein wie Gott„.

In „Ich und Du“ schreibt Martin Buber: „Daß du Gott brauchst, mehr als alles, weißt du allzeit in deinem Herzen; aber nicht auch, dass Gott dich braucht… Wie gäbe es den Menschen, wenn Gott ihn nicht brauchte, und wie gäbe es dich? Du brauchst Gott, um zu sein, und Gott braucht dich – zu eben dem, was der Sinn deines Lebens ist“…

Interessant ist noch die Vermutung, dieses kosmische Unglück sei durch ein Übermaß an Strenge und Gerechtigkeit (Sfirath Gwurah) entstanden. Der Ausgleich kann deshalb nur durch eine Betonung von Liebe und Zuwendung (Sfirath Chesed) erfolgen. Zahlreiche der von Buber im deutschen Sprachraum bekannt gemachten „Geschichten der Chassidim“ schildern die praktische Seite dieses Konzepts. Buber wird übrigens oft als einer der Stichwortgeber im Gestaltdenken vorgestellt. Moderne Kabbalisten, wie Aschlag und Laitman, betonen die Notwendigkeit der Wandlung vom Egoismus zum Altruismus.

Ausgehend von der kosmischen Katastrophe am Beginn der Schöpfung, sehen viele die Geschichte unserer Welt als eine Folge des Scheiterns. Auch Buber schreibt in seinem Buch „Der Glaube der Propheten„, Gott versuche es immer wieder, den Menschen zu rufen und zur Partnerschaft zu bewegen. Leider fällt der Mensch immer wieder zurück, wenn er den Ruf überhaupt vernimmt, und versagt sich und Gott die Erfüllung oder auch Erlösung (Galluth) oder einfach die Göttlichkeit dieser Welt.

Ein ganz wesentlicher Punkt dafür ist wohl die menschliche Furcht vor der Freiheit. Erich Fromm hat unter diesem Titel ein ganzes Buch geschrieben, doch schon die Pesach-Hagadah, die Geschichte vom Auszug aus Ägypten, spricht davon. Der Mensch tendiert zur Unterwerfung, sei es unter mächtige und etablierte Menschen, sei es unter Götzen. Als Sklave ist er nicht verantwortlich für seine Taten und seine Unterlassungen. Nur der freie Mensch kann zur Rechenschaft gezogen werden und ist gezwungen sich jeden Tag von neuem für ein Wachsen oder für Stagnation zu entscheiden.

Interpretationen, wonach Gottes Erfüllung von Entscheidungen des Menschen abhängt oder beeinflusst wird, haben zwangsläufig etwas Blasphemisches. Ist Gott davon abhängig, ob der Mensch seinen Ruf vernimmt und seinen Auftrag annimmt? Kann Gott ohne die partnerschaftliche – freiwillige – Mitarbeit des Menschen seine Schöpfung nicht vollenden?

Die Geschichte des letzten Jahrhunderts deutet, meiner Meinung nach, zwangsläufig in diese Richtung. Wie sonst ist ein Glauben an Gott, nach Auschwitz, noch zu rechtfertigen? Doch wenn ich nicht mehr frage, „wo war Gott in Auschwitz“, muss ich doch fragen, „wo war der Mensch“.

Wenn Gott den Menschen als seinen Partner braucht, dann konnte Gott nicht eingreifen. Die Erfüllung der Schöpfung in Partnerschaft mit der Menschheit, mit Menschen, die sich mit freiem Willen zu dieser Partnerschaft entschieden haben, wäre unmöglich geworden. Die Würde der Menschheit und des Menschen – immerhin im „Gleichnis Gottes“ erschaffen, wäre – auch als Konzept, vernichtet.
Denn hätte Gott Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Chelmno, Jasenovac gehoben und getragen und die Gefangenen an den Strand von Tel Aviv gerettet, hätte die ganze Welt von diesem Eingreifen zweifellos erfahren. Zwangsläufig hätten alle von Gott gewusst, von Gottes Stärke und Gerechtigkeit (Sfirath haGwurah). Eine freiwillige Hinwendung im vertrauenden Glauben, aus Liebe, wäre danach nicht mehr möglich gewesen. An Stelle des dialogischen Prinzips im „Ich und Du“, träte die „Unterhaltung“ des Puppenspielers mit der von ihm geführten Marionette.

Diese Überlegungen sind zwar simpel, zwangsläufig ist ihre vermeintliche Logik aber grausig. Sie wird den Ermordeten nicht gerecht. Sie rechtfertigt den Allmächtigen und liefert die Machtlosen abstrakten Gedanken aus. Ihr Leiden war aber nicht abstrakt, sondern blutig. So bleiben wir Zerrissene in einer schwer erträglichen Paradoxie. Gefangen in der Hoffnung, dass die Würde der Menschheit noch zu retten wäre, während wir wissen, dass millionenfach Menschen getreten und entwürdigt wurden, und sie keine Rettung vor der Vernichtung bewahrt hat.

9 Kommentare

  1. HaShem hat zwar immer wieder, wie die Tora berichtet, den Menschen lenken wollen  aber hat der Mensch stets auf ihn gehört – ist seinem Wort ohne Widerspruch gefolgt?
    Meistens – im großen und ganzen, ja…aber genau das ist es…
    Im großen und ganzen ist nicht das Vertrauen, dass haShem von uns fordert.
    (Saul hat z.B.nicht Amalek vernichtet, wie von haShehm gefordert – eben nur im großen und ganzen…was ihn seine Krone kostete)
    Die Buße, die die Menschen leisten mussten (müssen) erwächst somit grundsätzlich aus ihrem eigenen streben und leben auch davon berichtet die Tora dann sehr genau.

    Vielleicht gibt es so viele richtige oder falsche Wege, wie es Menschen auf der Welt gibt.
    Es kommt auf das persönliche Vertrauen eines jeden Menschen an, dass er zu haShem hat und ihm entgegen bringt.
    HaShem ist immer da aber es liegt am Menschen selbst ob er ihm folgt oder, wie bei den Tätern in Auchwitz geschehen, Amalek zulässt – ja sogar fördert, lebt.
    Je größer das abgrundtief Böse Amalek’s wird desto gelähmter und leidender sind die Opfer.
    Wenn Amalek wächst dann schwindet das Gute dazu proportional.

    HaShem aber ist immer anwesend.
    Das darf man sich nicht körperlich vorstellen.
    HaShem offenbart sich als immer währendes, erschaffendes Licht, dass wir als einen Glanz auch in unserer Seele tragen.
    Aber er wird nicht menschliche Verantwortung abnehmen – die hat der Mensch selbst zu tragen.
    Die Tora lehrt jeden Menschen seinen persönlichen, individuellen Weg des Tikkun Olam zu finden und zu erfüllen.
    Der Mensch muss es zulassen, ja, wollen und unterstützen.

    Wie gesagt, haShem ist immer da wir müssen nur zu ihm gehen.
    Die Tora zeigt den Weg zu ihm.

  2. @ Armand: und genau diese Ernsthaftigkeit ist nötig wenn man über theologische Themen diskutiert. Ein einfaches ,,gibt es nicht“ genügt nicht. Es gibt eben mehr als schwarz und weiß, mal ganz davon abgesehen, dass auch für das gegenwärtige Judentum die Religion identitätsstiftend ist.

  3. Ich bin erstaunt, mit welcher Ernsthaftigkeit hier über höhere Wesen diskutiert wird, wo das Thema doch längst überholt sein dürfte. Wie sagte doch Henryk Broder sinngemäß: Gott gibt es nicht und wenn es ihn gäbe, wäre es ein schlechter Witz. Oder war das Nietzsche?

  4. Paul, ob die Bilder wirklich so gegensätzlich, ober wirklich nur gegensätzlich sind? Vielleicht ist ja das „Befehlen nach Art des Mufti“ der Spähre des Din zugeordnet. Das Zurückziehen eher Hod, oder auch ganz anders.
    Ich will jetzt nicht am Einzelnen kleben, sondern nur sagen, dass ECHAD eben alles umfassen kann und muss. Gerade so kann auch Unabhängigkeit vom Zeitgeist entstehen, denn nicht nur die „alte Kabbala“, wie du schreibst, ist überholt, sondern auch das Prinzip von Befehl und Gehorsam.

  5. Es ist verboten Geheimlehren in der Öffentlichkeit zu diskutieren oder einem Breiten Publikum bekannt zu machen. Es geschehen schon genug Dinge wie in Holland.

  6. Warum erwähnt der Autor nicht ,,Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme“ von Hans Jonas? Auch er sieht den Menschen ja in der Verantwortung, die Gott ihm übertragen hat. Doch um der Schöpfung Frieheit zu geben, musste sich Gott in sich selbst zurückziehen und dem Menschen Freiraum lassen: das Prinzip des Zimzum. Wo Gott sich zurückzieht bleibt das Nichts, das Chaos. Dieses Chaos bricht immer wieder herein in die Schöpfung und es ist Aufgabe und Bürde des Menschen so gut es geht dagegenzuhalten. 

    Wir haben es hier mit einer Form des Deismus zu tun, die ich angesichts von Auschwitz nachvollziehen kann. Der Mensch hat vollkommen versagt und Gott durfte nicht eingreifen um seiner Schöpfung nicht auf ewig die Freiheit zu nehmen.
    Gottes Wille ist uns in der Thora ja bekannt. Sie ist der Leitfaden des Willen Gottes, sie umzusetzen bedeutet die Schöpfung auf einen guten Weg zu bringen. Die Möglichkeit der Missachtung istd er Preis unserer Freiheit.

    Dieses Gedankenmodell krankt aber an einem wichtigen Punkt: Nehmen wir die biblischen Überlieferungen ernst, so erleben wir dort immer wieder das Eingreifen Gottes in das Handeln seiner Schöpfung. Die handelnden Menschen haben zwar immer die Alternative das Gute oder das böse zu tun, doch Gott hat seine Hände immer miut im Spiel. Im bezug auf Auschwitz überkommt einen da schon das Gruseln und die Frage bleibt bestehen: Wo war Gott, gerade WEIL der Mensch so kläglich versagt hat?

  7. Brumlik betont, dass die entmythologisierende Kraft des biblischen Schöpfergottes darauf beruht, dass hier eine Metapher der Welterschaffung im Bilde des Handwerkers oder im Bilde des Herrschers vorliegt. Er spricht einen Sprechakt aus: „Es werde Licht“, und dann wird eben Licht.
    Genau so hat man sich das vorgestellt an den altorientalischen Höfen. Wenn da etwas angeordnet wurde, dann ist das auch sofort passiert. Per Order des Mufti sozusagen. Wenn jemand einen Topf geformt hat, dann ist der eben entstanden.
    Demgegenüber ergibt die Vorstellung eines Gottes, der sich dadurch, dass er sich in sich zusammenzieht, also die Funken göttlichen Lichts freigibt in die Welt, ein ganz anderes Bild.
    In der Bibel könnte man tatsächlich sagen, am Anfang steht die Macht, im kabbalistischen Programm ist es eher die selbstgewollte Ohnmacht.
    Das sind andere Metaphern, deren Logik man schon folgen sollte. Man kann sie nicht so einfach ineinander überführen. Vieles aus der alten Kabbala ist doch heute eher nicht übertragbar in die Moderne.

  8. Mir fehlt der klare Hinweis auf das Erlösungswerk, wie es sich vor unser aller Augen abspielt. Es ist heute der Zionismus, der G’ttes Werk erfüllt. Die Siedler sind es, die als Befreier des Bodens die Erlösung vollziehen. Durch das Bearbeiten des Bodens werden eben jene verborgenen Funken g’ttlichen Lichts befreit.

  9. Nach kabbalistischem Glauben hat sich Gott selbst in die Schöpfung verbannt. Gott ist vebannt. Seit dem 15. Jahrhundert ist also bekannt, dass es nicht mehr Gott sein wird, der die Menschen erlöst, sondern dass es die Aufgabe des Menschen ist, Gott zu erlösen. Buber beschreibt die göttliche Anwesenheit in seinem Roman „Gog und Magog“ als eine Frau, die mit blutigen Füßen über die Erde gehetzt wird.

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