[Chag
haSchawu'oth - Wochenfest]
Exodus:
Jisrael baSinaj
Heinrich Graetz
Während die Ägypter ihre, plötzlich von der Pest
hinweggerafften Toten begruben, verließen die Israeliten Ägypten nach
mehrhundertjährigem Aufenthalte43,
das vierte Geschlecht der zuerst Eingewanderten. Sie rückten gegen die
Wüste Schur oder Etham aus, welche Ägypten von Kanaan trennt, auf
demselben Wege, auf dem der letzte Erzvater nach dem Nillande gezogen
war.
Auf diesem Wege hätten sie in wenigen Tagereisen die Grenzen Kanaans
erreichen können. Aber diesen kurzen Weg ließ sie Mose nicht
einschlagen, weil mit Recht zu befürchten war, dass die Einwohner
Kanaans an der Küste des Mittelmeeres ihnen mit Waffengewalt den Einzug
verwehren, und dass die von der vieljährigen Knechtschaft feige
gewordenen Stämme beim Anblick der Gefahr die Flucht ergreifen und nach
Ägypten zurückkehren würden.
Auch sollten sie zuerst zum Berge Sinaï geführt werden, um eine neue
Lehre und neue Gesetze zu vernehmen, für deren Betätigung sie die
Freiheit erlangt hatten. Als sie bereits einige Tagemärsche gemacht
hatten, forderte sie Mose auf, den Rückweg einzuschlagen. Ihrem Führer
blindlings folgend, traten sie den Rückweg an und lagerten zwischen der
Stadt Migdol (Magdalon) und einem Wasserarme des roten Meeres, vor der
Stadt Pi-ha-Chirot (Heroopolis)44,
gegenüber einem Götzenbilde des in dieser Stadt besonders verehrten
Typhon (Baal Zephon), dem die ägyptische Götterlehre die Herrschaft über
die Wüste übertrug.
43 Die Dauer des Aufenthaltes in Ägypten ist
zweifelhaft. Einmal ist angegeben (Exod. 12, 40), er habe 430 Jahre
gedauert, und an einer anderen Stelle (Genesis 15, 13) 400 Jahre, eine
runde Summe und zwar 4 Geschlechter (das. v. 16). Diese vier
Geschlechter ließen sich an den Nachkommen Levis berechnen, wenn je das
Alter des Vaters bei der Geburt des Sohnes angegeben wäre (Exod. 6, 16
f.), nämlich Levi, alt geworden 137 Jahre, Kehat 133, Amram 137, Mose 80
Jahre (das. 7, 7). Drei Geschlechter geben in der Regel 100 Jahre, nimmt
man hier das Doppelte an, 200 Jahre, und dazu Moses Alter 80 Jahre, so
geben diese zusammen doch nur 280 Jahre. Der Widerspruch ist schon früh
erkannt worden. Der griechische Übersetzer des Exodus hat daher den
Zusatz, der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten und im Lande Kanaan
dauerte 430 Jahre. Ebenso gleicht der Talmud den Widerspruch aus, dass
der Anfang der 430 Jahre nicht von dem Eisodus, sondern von der Geburt
Isaaks an zu berechnen sei. Das Seder Olam Rabba (um 170 nachchristl.
Zeit) läßt den Aufenthalt der Israeliten. in Ägypten nur 210 Jahre (")
dauern. Lepsius hat diese Zahl annähernd richtig gefunden, namentlich
dass der Exodus 2448 aerae Mundi = 1314 d. vorchristl. Zeit
stattgefunden habe (a.a.O. S. 360 f.). Unrichtig ist nur die Annahme,
mit der er (das. S. 362 f.) beweisen will, dass Hillel ha-Naßi II., der
Begründer des festen jüdischen Kalenders, weil er Zeitgenosse des
Mathematikers Theon von Alexandrien, des Vaters der gelehrten und
unglücklichen Hypatia, gewesen, gleich diesem die Ära des Menephta
gekannt und daher die biblische Chronologie danach bestimmt und den
Auszug aus Ägypten 2448 Mundi angesetzt hätte (vgl. o. S. 28). Die
chronologische Berechnung, welche darauf beruht, dass der Auszug 2448 ("
') nach der Schöpfung stattgefunden habe, ist aber älter als Hillel II.;
sie wird schon von einem talmudischen Autor des dritten Jahrhunderts als
bekannt vorausgesetzt (Pesikta Rabbati c. 9). Die Berechnung von der
Dauer des Aufenthaltes in Ägypten unterliegt übrigens einer Kontroverse
älterer Autoritäten und hätte nach der einen 210, nach einer anderen 215
Jahre (Pirke di Rabbi Eliëser c. 48) betragen [vgl. jetzt Miketta,
a.a.O. S. 16 ff].
44 S. Note 3.
Sobald Pharao von diesem Rückzuge und von dem Lagerplatze der Israeliten
Kunde erhalten hatte, fasste er den Entschluss, die ihm entführten
Sklaven wieder einzufangen. Er hatte es schon bereut, dass er in einem
Augenblick der Schwäche eingewilligt hatte, sie zu entlassen. Nun bot
sich ihm Gelegenheit, sie wieder behalten zu können. Sie schienen sich
ihm selbst auszuliefern, oder der Götze Typhon schien ihnen den Weg
durch die Wüste verschlossen zu haben, um ihnen die Flucht abzuschneiden
und sie dem Lande zu erhalten. Sofort bot er ein Heer mit Streitwagen
und Rossen auf, um sie desto schneller einzuholen. Als die Israeliten
von Ferne das Heranrücken der Ägypter erblickten, gerieten sie in
Verzweiflung. Jeder Ausweg war ihnen abgeschnitten. Vor ihnen der
Wasserarm oder See und hinter ihnen der Feind, der sie im Augenblick
erreichen und sie unfehlbar wieder in harte Sklaverei bringen würde.
Klagend und murrend sprachen einige zu Mose: "Gibt es keine Gräber in
Ägypten, dass du uns herausgeführt, um in der Wüste zu sterben?"
Unerwartet bot sich ihnen indessen ein Ausweg dar, den sie als ein
Wunder betrachten mussten. Ein Sturmwind von Nord-Ost hatte in der Nacht
das Wasser des Sees südlich getrieben und das Bett zum großen Teil in
den höheren Stellen trocken gelegt45.
45 Vgl. Note 3 von dem Durchzuge durch das Meer.
Schnell benützte Moscheh diesen Rettungsweg; er trieb die Verzagten an,
dem jenseitigen Ufer zuzueilen. Er hatte ihnen mit prophetischem Blick
verkündet, dass sie die Ägypter nimmer zu Gesicht bekommen würden.
Schnell war der kurze Weg durch den See zurückgelegt, trocknen Fußes
konnten sie ihn durchschreiten, während in den tiefer gelegenen Stellen
Wasser war, das, durch den Sturm gepeitscht, ihnen rechts und links wie
zwei Mauern erschien.
Während dieser Zeit jagten die Ägypter ihnen nach, um sie zur Sklaverei
zurückzuführen; aber in dem tiefen Sande konnten sie mit Wagen und Ross
nicht schnell genug vorwärts kommen. Ein dichter Nebel, "eine
Wolkensäule", verschleierte ihnen den Blick, bequemere Stellen
aufzusuchen. Dadurch geriet die verfolgende Schar in Verwirrung, die
Räder lösten sich von den Kriegswagen los und hinderten ihre
Schnelligkeit. Als sie endlich gegen Tagesanbruch das westliche Ufer des
Sees erreichte, die Israeliten am jenseitigen Ufer erblickte und ihnen
auf demselben trocken gelegten Wege nacheilen wollte, hörte plötzlich
der Sturm auf. Rasch ergossen sich die auf beiden Seiten aufgetürmten
Wogen in die trocken gelegten Stellen und bedeckten Wagen, Ross und
Mannschaft im Wellengrabe. Das Wasser trieb einige Leichen an das Ufer,
wo die Israeliten einen Augenblick weilten; sie sahen sich befreit. Es
war eine wunderbare Errettung, die vor ihren Augen vorging und auch die
Stumpfsinnigen zu hellerem Blicke und zur Zuversicht für die Zukunft
erweckte. Sie vertrauten an diesem Tage fest auf Gott und seinen
Sendboten Mose. Aus voller Brust entrang sich ihnen ein begeistertes
Loblied auf ihren wunderbaren Erretter. Die Männer sangen im Chor:
"Lobsingen will ich dem Herrn,
Denn groß, ja groß ist er,
Roß und Reiter schleuderte er ins Meer46".
46 Das., vgl. Hosea 2, 17.
Mirjam an der Spitze der Frauen wiederholte im Chore mit Handpauken und
Tänzen denselben Lobgesang.
Das großartige Schauspiel, das die Israeliten erlebt hatten, prägte sich
so fest ihrem Gedächtnisse ein, das ein Geschlecht es dem anderen
überlieferte. In verschiedenen Tonarten feierten die heiligen Sänger
dieses wunderbare Ereignis:
"Sie sahen deine Schritte,
'Die Schritte Gottes meines Königs in Hoheit!'
Voran schritten Sänger,
Hinterher Saitenspieler,
Und in der Mitte paukenschlagende Jungfrauen.
In Chören priesen sie Gott, den Herrn,
Die aus der Quelle Israels entsprungen47.
47 Ps. 68, 25-27.
Die Wagen Pharaos und sein Heer
Stürzte er ins Meer,
Die besten seiner Führer
Versanken ins Schilfmeer,
Fluten deckten sie zu,
Sie fuhren in die Tiefen wie Stein.
Mit deinem Hauche türmte sich das Gewässer,
Die Fluten standen wie eine Mauer,
Es erstarrten die Tiefen inmitten des Meeres.
Der Feind sprach:
'Ich will sie verfolgen, erreichen, Beute teilen,
Meine Seele will ich mit Rache an ihnen sättigen,
Mein Schwert zücken,
Meine Hand soll sie vernichten.'
Da bliesest du mit deinem Winde,
Es bedeckte sie das Meer,
Sie versanken gleich Blei in den mächtigen Fluten48."
48 Exodus 15, 4-10.
Die Befreiung aus Ägypten, der Durchgang durch den
See und der plötzliche Untergang des verfolgenden, racheschnaubenden
Feindes waren drei selbsterlebte Tatsachen, die nimmermehr aus dem
Gedächtnisse der Israeliten schwanden. Sie flößten ihnen in
verzweifelten Lagen und Nöten stets Hoffnung und Mut ein. Der Gott, der
sie aus Ägypten befreit, der das Gewässer in trocknes Land verwandelt,
der ihren grimmigen Feind vernichtet, werde sie nimmer verlassen, "werde
immer über sie herrschen."49
49 Das ist der Sinn des Schlußverses im Liede am
Meere, Exodus 15, 18.
Wenngleich diese vertrauensvolle, gottergebene,
mutige Stimmung bei den meisten nicht lange vorhielt, sondern bei dem
ersten Hindernis wieder verflog, so haftete sie doch bei einem Kreise
der Erweckten, und diese bewährten sie bei späteren Prüfungen.
Befreit von den Banden der Knechtschaft und von der Furcht vor ihrem
langjährigen Peiniger, konnten die Stämme ihren Weg ruhig fortsetzen.
Sie hatten bis zum Sinaï, dem vorläufigen Ziele ihrer Wanderung, noch
mehrere Tagereisen zu machen. Obwohl die Gegend, die sie durchstreifen
mußten, die sinaitische Halbinsel zwischen dem Meerbusen von Suez und
dem von Ailat (Akaba), größtenteils Sandwüste ist (Wüste Schur, Sin und
Sinaï), so mangelt es doch in ihr nicht an Oasen, Wasser und
Weideplätzen für Hirten. Dem Führer Mose, welcher früher in dieser
Gegend die Herden seines Schwiegervaters Rëuel geweidet hatte, war sie
nicht unbekannt.
Der hohe Sinaïgebirgsstock mit seinen Ausläufern sendet im Frühjahre
Wasser in Fülle aus den Felsen, und dieses sammelt sich in kleinen
Bächen und läuft der Niederung des roten Meeres zu. In einem dieser
fruchtbaren Täler, Elim (Wady Gharundel)50,
fanden sie viele Quellen und Dattelbäume mit Früchten. Je mehr sie sich
südöstlich dem Sinaï näherten, desto reichlicher fanden sie Wasser.
Allerdings mangelte es auch hin und wieder oder war nicht trinkbar, dann
murrten die Kleingläubigen und sprachen zu Mose: "Warum hast Du uns aus
Ägypten geführt, um uns, unsere Kinder und unser Vieh in Durst umkommen
zu lassen?"
Aber Mose wusste durch eine höhere Eingebung stets Rat, die
Unzufriedenen zu beschwichtigen. Er zeigte ihnen ein Süßholz, wodurch
sie das bittere Wasser versüßen konnten, oder er schlug den Felsen,
woraus dann eine reiche Wasserquelle hervorsprudelte.
Auch an Brot hatten sie keinen Mangel, es wurde ihnen durch Manna
ersetzt. Sie fanden dieses in so reichem Maße und nährten sich davon so
lange Zeit, dass sie es als ein Wunder ansehen mussten. Denn einzig und
allein auf dieser Halbinsel träufeln von den hohen Tamariskenbäumen,
welche hier zahlreich in Tälern und auch auf den Vorbergen des Sinaï
wachsen, Tropfen von honigsüßem Geschmacke, die von der Morgenkühle zu
runden Körperchen, groß wie Erbsen oder Koriandersamen, erstarren, an
der Sonne aber zerfließen51.
Mose kündigte ihnen an, dass sie am frühen Morgen diese süßen
Körperchen, welche auf dem Tau wie Reif glänzten, finden würden, und er
bedeutete ihnen, sie zu sammeln. Als die Israeliten zuerst dieses
Himmelsbrot erstaunt erblickten, nannten sie es Manna (Gabe), da sie
nicht wussten, was es eigentlich war. Von dieser Speise nährten sie
sich, bis sie in die von Menschen bewohnte Gegend kamen, wo sie
Nahrungsmittel eintauschen konnten.
Nur am Schabath (Sabbat) fiel es nicht, wie erzählt wird. Das Manna
sollte ihnen die Belehrung geben, dass "der Mensch nicht bloß vom Brote
allein, sondern durch jeden Ausspruch Gottes leben kann"52.
50 S. Note 4.
51 Vergleiche über das Manna in der Sinaïhalbinsel mit dem Nachweise,
dass es nur hier bei der Häufigkeit der Tamarix mannifera vorkommt, die
höchst belehrende Abhandlung von Carl Ritter, Erdkunde, der Sinaï-G'ebel
B. I, S. 665 f. Ehrenberg nimmt an, dass das Manna durch die Schildlaus
Coccus manniferus entstehe, was andere Beobachter in Abrede stellen.
Nach einigen Ägyptologen sollen die Tropfen schon den Ägyptern unter
demselben Namen Mannu bekannt gewesen sein (Ebers, Durch Gosen S. 226).
52 Deuteron. 8, 3.
Auch von einem feindlichen Anfall wurden sie in den
Flitterwochen ihrer Befreiung errettet. Ein halb arabischer Stamm,
welcher das kriegerische Schwarmleben liebte und von dem südlichen
Arabien bis zum Lande Kanaan umherschweifte, hier und da eine seßhafte
Lebensweise annahm, die Amalekiter (Thamudäer?)53
fielen die Schwachen und Müden der israelitischen Scharen an, beraubten
und töteten mehrere von ihnen in der Gegend von Rephidim, auf den
Vorbergen des Sinaï.
53 Palmer, the desert of the Exodus, S. 51,
identifiziert die Amalekiter mit den im Koran erwähnten Tamudin, welche
aus Yemen vor einer drohenden Flut ausgewandert sein sollen und in der
Sinaïhalbinsel umherstreiften.
Der Kampf gegen diese Schwarmstämme musste aufgenommen werden, wenn die
Israeliten zu ihrem Ziele gelangen sollten, sonst wären sie in ihrer
Wüstenwanderung durch die Gegend, wo die Amalekiter öfter Streifzüge
machten, stets beunruhigt worden. Aber die soeben der ägyptischen
Sklaverei Entkommenen waren nicht für kriegerische Abwehr vorbereitet.
Mose ließ daher diejenigen aus den Stämmen auswählen, die Mut hatten und
mit Waffen umzugehen wussten. Unter diesen befand sich ein Jüngling aus
dem Stamme Ephraim, der schon in der Jugend kriegerische Tüchtigkeit
zeigte und der beständige Begleiter Moses war: Josua, der Sohn Nuns, dem
später die Aufgabe zufallen sollte, die der Gottesmann unvollendet
lassen musste. Mit einer auserwählten Schar zog Josua gegen die
Amalekiter, und Mose stand auf einem hohen Berge, um von hier Gott um
Sieg anzuflehen und den Kämpfenden Mut einzuflößen. Lange schwankte der
Sieg, endlich gelang es Josua, die Feinde teils aufzureiben, teils in
die Flucht zu schlagen.
Dieser Anfall der Amalekiter, der den unkriegerischen Stämmen der
Israeliten bei ihrem ersten Eintritt ins freie Leben leicht hätte den
Untergang bereiten können, blieb ihnen in steter Erinnerung. Eine
unversöhnliche Feindschaft entspann sich daraus zwischen diesen beiden
Völkerschaften, die später öfters in Berührung kamen. Amalek war der
erste Erbfeind Israels. Von den übrigen Stämmen dagegen, die in der
Sinaïhalbinsel hausten, wurden die Israeliten nicht beunruhigt. Mit
einem von ihnen, den Keniten, traten sie in eine Art Bundesverhältnis
und zogen Vorteile von ihm. Selbst die Midianiter, ein Schwarmvolk
gleich den Amalekitern und auf der Sinaïhalbinsel umherstreifend,
störten die Ruhe der Israeliten nicht.
Wenn Mose auch mit seinem hellen Geiste und seinem göttlich
prophetischen Blicke seinen Sinn stets auf das Höchste und Ewige
gerichtet hatte, vernachlässigte er doch auch das Zeitliche des
augenblicklichen Bedürfnisses zum Frommen des ihm anvertrauten Volkes
nicht.
Es folgt: Israel am Horew - die
Offenbarung der Torah
Aus
Heinrich Graetz:
Geschichte der Juden
Erster Zeitraum: 1. Kapitel. Die Vorgeschichte
Heinrich (Hirsch) Graetz:
Geschichte der Juden
von den
ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart
Mit
einem Vorwort von Reuven Michael
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