"... ein Fehler der Weltgeschichte"? -
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht
Rudolf Steiners
Von Ralf Sonnenberg
"Die Auseinandersetzung mit der
Anthroposophie, mit der Person und dem Werk Rudolf Steiners,
unterliegt eigentümlichen Konjunkturen. Auf Phasen beharrlicher
Nichtbeachtung folgten solche der Faszination und nicht selten auch
vordergründigster Adaptionsbereitschaft, dann wieder pauschale
Zurückweisungen, die die Untiefen von Informationen aus zweiter Hand
so wenig scheuten wie haltlose Verdächtigungen, ehe sich ein
zögernder Dialog über die Grenzen wechselseitiger Befangenheiten
hinweg eröffnete." (1)
Mit diesen Worten benennt der Erziehungswissenschaftler Norbert
Schwarte in einem Beitrag des von Diethart Krebs und Jürgen Reulicke
herausgegebenen "Handbuch(es) der deutschen Reformbewegungen
1880-1933" einige Hürden und Fallstricke, mit denen rechnen muss,
wer sich dem umfangreichen Oeuvre Steiners (2)
in wissenschaftlich-hermeneutischer Absicht zu nähern versucht.
Schwarte, der die Anthroposophie und die aus ihr hervorgegangenen
Tochterunternehmungen wie Waldorfschulen, Komplementärmedizin oder
biodynamischer Landbau dem schillernden Spektrum der deutschen
Lebensreformbewegungen subsumiert, erscheint die
Rezeptionsgeschichte anthroposophischer Lehren als eine Kette von
Pyrrhussiegen, die Interpreten über eine Manifestationsart der
Moderne austrugen, die aufgrund der Bereitschaft ihrer
Protagonisten, esoterische Motive des abendländischen
Überlieferungshorizontes zu adaptieren, unter den Generalverdacht
des Irrationalismus geriet. Die weitgehende Indifferenz von
Fachwissenschaftlern gegenüber Unterströmen der jüngeren
europäischen Ideen- und Religionsgeschichte mag mit einem Phänomen
zusammenhängen, das die Historikern Monika Neugebauer-Wölk im
Hinblick auf die Erforschung des Konvergenz- und Spannungsfeldes
"Aufklärung und Esoterik" folgendermaßen charakterisiert: "Niemand
wird einen Historiker, der sich mit dem Nationalsozialismus
beschäftigt, nur wegen seines Gegenstandes faschistischer Neigungen
verdächtigen. Beim Thema ›Esoterik‹ hingegen scheint diese Gefahr
zumindest latent immer vorhanden – vor allem wohl deshalb, weil
dieses Forschungsgebiet noch nicht zum Kanon der
Frühneuzeitforschung gehört und daher den Beigeschmack des
Unseriösen noch nicht abstreifen konnte." (3)
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte so
genannter Lebensreformbewegungen in Deutschland während des
ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts steckt – soweit deren
Protagonisten esoterischen Weltanschauungen anhingen und nicht
explizit als völkische bzw. protonationalsozialistische
"Systembauer" in Erscheinung traten – trotz unübersehbarer Anzeichen
eines bevorstehenden Paradigmenwechsels nach wie vor in den
Anfängen. In der gegenwärtigen Kontroverse um die Bewertung des
Judentums in Schriften und Vorträgen Rudolf Steiners (1861-1925)
nehmen sich die Wortmeldungen von Historikern, Politologen oder
Religionswissenschaftlern denn auch vergleichsweise rar aus. Die
anthroposophische Bewegung, welche im ersten Quartal des vorigen
Jahrhunderts entstand, teilt das Los anderer esoterischer oder
neureligiöser Gruppierungen dieser Zeit, deren Erforschung von der
etablierten, politik- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen
verpflichteten Historiographie lange Zeit vernachlässigt wurde. (4)
Biografischer
Abriss
Begegnungen mit dem Wiener
Antisemitismus – Die "Homunkulus"-Rezension von 1888
Die Dreyfus-Affäre
Kritik des Zionismus und des
Antisemitismus – Herausgeber des "Magazins" und Autor der
"Mitteilungen" des Berliner Abwehr-Vereins
Das Judentum als Katalysator und
kulturelles "Zersetzungsferment"
"Die Bedeutung des semitischen
Impulses in der Welt"
War Rudolf Steiner ein "völkischer
Antisemit"? Kritische Kurzbibliografie und Resümee
Ralf Sonnenberg, geb. 1968, arbeitet als Historiker,
Religionswissenschaftler und Publizist. Derzeit Vorbereitung einer
Dissertation mit dem Titel "Ein Fehler der Weltgeschichte". Die
Darstellung von Judentum, Zionismus und Antisemitismus in den
Schriften und Vorträgen Rudolf Steiners, 1881-1925. Näheres zur
Vita unter
http://www.lektoratberlin.net/qualifikationen.html
Veröffentlichungen (Auswahl):
"Keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens". Judentum,
Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners, in:
Wolfgang Benz (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 12 (2003),
Berlin 2003, S. 185-209.
The Dark Side of the Enlightenment. The Eighteenth Century, Changing
Perception of the World, and Anti-Semitism in the Early Modern Age,
in: Fred Paddock/ Mado Spiegler: Judaism und Anthroposophy, New York
2003, S. 141-151.
Anthroposophie und Judentum. Perspektiven einer Beziehung, Frankfurt
a.M. 2009.
Anmerkungen:
(1)
Norbert Schwarte: Anthroposophie. In: Diethart
Kerbs/ Jürgen Reulecke (Hg.): Handbuch der deutschen
Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 595-609, hier 607
f. Nachweislich fanden zahlreiche Kolportagen und auch offenkundige
Unwahrheiten Eingang in die – keinesfalls ausschließlich –
"kryptohistorische" Literatur: Mal galt Steiner als leitendes
Mitglied des von dem Hochstapler Theodor Reuß (1855-1923) nach 1906
ins Leben gerufenen "Ordo Templi Orientis" (O.T.O.) und somit eo
ipso als Adept sexualmagisch-"satanistischer" Riten dieser obskuren
Vereinigung, dann wieder wurde er der Mitgliedschaft im
präfaschistischen Thule-Orden verdächtigt, der schon des öfteren für
personenfixierte Projektionen der "Kryptohistoriker" herhalten
musste. Vgl. Michael Rißmann: Hitlers Gott. Vorsehungsglaube und
Sendungsbewusstseins des deutschen Diktators, Zürich 2001, S.
125 ff. Eine Mitgliedschaft Steiners im O.T.O, für die es keinerlei
Belege gibt, wurde bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren von
völkisch-nationalsozialistischen Gegnern der Anthroposophie
kolportiert. Zu diesem Komplex vgl. Helmut Zander: Anthroposophie
in Deutschland, 2 Bde., Göttingen 2007, Band 2, S. 975-994. Mit
der – zum Teil dubiosen – Rezeptionsgeschichte der Anthroposophie
setzt sich darüber hinaus Richard Geisen kritisch auseinander. Siehe
Richard Geisen: Anthroposophie und Gnostizismus.
Darstellung, Vergleich und theologische Kritik, Diss., Paderborn
1992, S. 409-483.
(2)
Die von der Rudolf Steiner-Nachlassverwaltung in
Dornach herausgegebene Rudolf Steiner-Gesamtausgabe umfasst
mittlerweile über 340 Bände, die zum überwiegenden Teil auf
vom Referenten nicht autorisierten Vortragsmitschriften beruhen.
Fehler beim Mitstenographieren der Referate und bei der Übertragung
der Stenogramme sind folglich nicht auszuschließen. Die Auswertung
des etwa 89.000 Druckseiten (!) füllenden Werkes wird dadurch
erschwert, dass die Gesamtausgabe den Anforderungen einer
historisch-kritischen Edition nicht genügt. Eine Orientierung über
die bislang aus dem Nachlass publizierten Vorträge und Schriften
Steiners bietet der Katalog des Gesamtwerkes 2004, hg. von dem
Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2004. Als unverzichtbar für die
wissenschaftliche Erschließung des Werkes erweisen sich zudem
folgende Hilfsmittel: Bibliographische Übersicht, 2. Aufl.,
Dornach 1982 sowie das Register zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe,
4 Bde., 2. Aufl., Dornach 1998.
(3)
Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik im 18.
Jahrhundert – Aufklärung und Esoterik. Eine Einleitung, in:
dies./ Holger Zaunstöck: Aufklärung und Esoterik, Hamburg
1999, S. 1-37, hier 7.
(4)
Die Bedeutung eines Meilensteins in Hinsicht auf die
wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Anthroposophie und
ihrer theosophischen Vorläufer kommt fraglos dem zweibändigen Werk
des Politologen und Theologen Helmut Zander zu. Vgl. Helmut Zander:
Anthroposophie in Deutschland. Allerdings verkennt der
Autor, dessen Blick in erster Linie auf ideen- und
religionsgeschichtliche "Abhängigkeiten" und "Kontinuietäten"
gerichtet ist und der dabei regelmäßig Wort- und Begriffsebene
miteinander verwechselt, die Originalität Steinerscher
Gedankenbildungen, die sich zu einem Großteil nur dem
hermeneutisch-tiefschürfenderen Zugang erschließt. Die
christozentrische Eigenpositionierung der Anthroposophie in
Abgrenzung zur konkurrierenden "östlichen" Esoterik einer Annie
Besant begründet Zander lapidar mit Steiners "ausgeprägtem
Machtinstinkt", der sein Denken und Handeln fast vollständig
infiltriert habe – eine These, die in dieser Engführung nicht zu
halten ist und die über weite Strecken hin konstruiert erscheint.
Vgl. Lorenzo Ravagli: Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse
des Werkes "Anthroposophie in Deutschland", Berlin 2009. – Zum
früheren Stand der Forschung siehe auch Justus H. Ulbricht: Eine
Problemgeschichte "arteigener Religion", in: Stefanie von
Schnurbein/ Justus H. Ulbricht (Hg.): Völkische Religion und
Krisen der Moderne. Entwürfe "arteigener" Glaubenssysteme seit der
Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 9-39, hier 33-36 sowie
Helmut Zander: Theosophie und Anthroposophie, in: Kai
Buchholz (Hg. u.a.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung
von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001, Bd. 1, S.
433-436, hier 436.
hagalil.com
08-11-2009
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