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"... ein Fehler der Weltgeschichte"? -
Judentum, Zionismus und Antisemitismus aus der Sicht Rudolf Steiners

Von Ralf Sonnenberg

Begegnungen mit dem Wiener Antisemitismus – Die "Homunkulus"-Rezension von 1888

Die politische Prägung seiner Wiener Lehrjahre charakterisierte Steiner rückblickend 1901 und 1925 als "liberal" bzw. "deutschnational", wobei er sich explizit von dem Antisemitismus der österreichischen Deutschnationalen und Deutschliberalen distanzierte.(9) Der Herausgeber und Redakteur des "Magazins für Literatur" versicherte 1900 durchaus glaubwürdig, dass "damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien."(10) Schon in seiner Universitätszeit, so bekannte Steiner in einem 1901 erschienenen Aufsatz, habe er in der damaligen Studentenschaft eine Zunahme antijüdischer Gesinnungen unter dem Einfluss der Propaganda des "Alldeutschen" Georg von Schönerer (1842-1921) beobachten können. Die brodelnde Atmosphäre in der habsburgischen Vielvölkermetropole des Fin de siècle bot neben von Schönerer bekanntlich auch Agitatoren wie Karl Lueger, Karl Hermann Wolf und Franz Stein eine geeignete Plattform zur Entfaltung ihrer politischen Demagogie.(11) In dem erwähnten Beitrag setzte sich Steiner kritisch mit der gesellschaftlichen Genese des Wiener Antisemitismus auseinander. Seine diesbezüglichen Erfahrungen bilanzierte er wie folgt: "Ich sah jeden Tag unzählige Beispiele von Korrumpierung des logischen Denkens durch dumpfe Gefühle."(12)

Bereits 1881 äußerte sich der 20-Jährige in einem Brief an den Publizisten Rudolf Ronsperger über den rassistisch motivierten Antisemitismus des Ex-Sozialisten, Philosophen und Nationalökonomen Eugen Dühring (1833-1921), dessen judeophoben Sentenzen er als "barbarischen Unsinn", als "ärgsten Ausbund aller philosophischen Rückläufigkeiten" apostrophierte.(13) Dührings "Schriften über die Juden" erschienen dem Schreiber als "die strengsten Konsequenzen seiner beschränkten egoistischen Philosophie".(14) Die Kritik Steiners galt vor allem dem im selben Jahr in Berlin erschienenen Pamphlet "Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Kulturfrage", in dem Dühring einen unversöhnlichen Gegensatz von semitischer und arischer Rasse postulierte und programmatisch die Re-Ghettoisierung der europäischen Juden verlangte.(15)

Das früheste Zeugnis aus der Feder Steiners, das dem Thema Judentum ausführlicher gewidmet ist, stammt jedoch aus dem Jahr 1888. Es handelt sich hierbei um eine Rezension des Buches "Homunkulus. Modernes Epos in 10 Gesängen" des österreichischen Lyrikers und Dramatikers Robert Hamerling (1830-1889).(16) Die Besprechung erschien in der "Deutschen Wochenschrift", welche fünf Jahre zuvor von dem jüdischen Historiker und Publizisten Heinrich Friedjung (1851-1920) begründet worden war und deren Redaktion Steiner zwischen Januar und Juli 1888 innehatte.

Hamerling war als Autor von Zeit- und Sittengemälden in Erscheinung getreten, von denen vor allem das 1866 erschienene Versepos "Ahasver in Rom" einige Berühmtheit erlangte.(17) In der Gestalt des Nero versinnbildlichte der Dichter den prometheischen Leidensweg des Menschen, der aus seiner kreatürlichen Beschränkung ausbrechen will und dem "ewigen Juden Ahasver" die unbesiegbare Gattung Mensch entgegensetzt. Das Motiv des sich den Göttern widersetzenden, den prüfungs- und entsagungsreichen Weg der Individuation einschlagenden Titanen dürfte Steiner in dieser Phase, die durch eine intensive Rezeption der Schriften Goethes, Schellings und Fichtes gekennzeichnet war, besonders fasziniert haben.(18) Die Veröffentlichung der Rezension des "Homunkulus" trug dem Selbstzeugnis Steiners nach zu einer vorübergehenden Entfremdung von seinem Arbeitgeber Ladislaus Specht bei, einem Baumwollspediteur jüdischer Abstammung, dessen vier Söhne er als Privatlehrer zu unterrichten hatte. (19)

Nach Darstellung des Rezensenten beabsichtigte Hamerling in seinem Roman den seelenlosen, entindividualisierten Menschen als den Repräsentanten des modernen Zeitgenossen zu porträtieren. Hamerlings Zivilisationskritik war somit auch ein Produkt der Ende der 19. Jahrhunderts in zahlreichen literarischen Gattungen dominierenden kulturpessimistischen und antimodernistischen Haltung. Der Retortenmensch Hamerlings durchläuft "alle Stadien modernen Lebens. Bei ihm scheinen alle Verkehrtheiten desselben auf die Spitze getrieben und dadurch in ihrer inneren Hohlheit".(20) Homunkulus wird Journalist, Billionär, verbindet sich mit Lurlei, der lasziven Nixe, dem "Typus echter, moderner weiblicher Unnatur" (Steiner), gründet einen Staat seelenloser Affen, in dem alle Begriffe des Natürlichen auf den Kopf gestellt erscheinen und predigt schließlich den Juden die Auswanderung nach Palästina. Damit ist ihm zunächst sogar Erfolg beschieden. Da die Juden sich aber als unfähig erweisen, einen eigenen Staat zu führen, kehren sie schon bald enttäuscht nach Europa zurück. Homunkulus, der als König des Volkes Israel von dessen Angehörigen ans Kreuz genagelt wird, verbündet sich mit seinem Retter Ahasverus, dem ewigen Juden. Er ist fortan wie dieser zu ruheloser Vagabondage verdammt: "Er kann nicht sterben, er wird ein Spiel der Elemente, aus denen er maschinenartig zusammengesetzt ist. Der seelenlose Mensch kann nicht glücklich werden. Nur aus dem eigenen Selbst kommt unser Glück. Ein tiefes, gehaltvolles Inneres allein vermag Befriedigung zu geben. Wer ein solches nicht hat, ist im höheren menschlichen Sinne nicht wahrhaft entstanden. Wo dieser Urquell fehlt, erscheint das Leben als eine Irrfahrt ohne Ziel und Zweck." (21)

Steiner bekannte sich in seiner Besprechung ausdrücklich zu dem Wahrheitsgehalt der satirischen Bildkollage Hamerlings. Dessen "Homunkulus" sei es gelungen, der Zeit ihre Verirrungen vorzuhalten. Von einer antisemitischen Instrumentalisierung einzelner Aussagen des Dichters distanzierte sich der Rezensent ausdrücklich und verwies demgegenüber auf die realitätsgetreue Schilderung der Persiflage, die weder judenfeindlich noch philosemitisch sei:

"Was aber hat die Kritik aus diesem ‹Homunkulus› gemacht? Sie hat ihn herabgezerrt in den Streit der Parteien, und zwar in die widerlichste Form desselben, in den Rassenkampf."

… um dann fortzufahren:

"Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwicklung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und dass es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. … Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozess eingelebt haben, sollten doch am besten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat. Den Juden selbst muss ja zuallererst die Erkenntnis aufleuchten, dass alle ihre Sonderbestrebungen aufgesogen werden müssen durch den Geist der modernen Zeit." (22)

Steiners Bezugnahme auf die Schattenseiten des zivilisatorischen Prozesses gerät in der Darstellung von 1888 zu einem pauschalen Verdikt über die Erscheinungsformen zeitgenössischer jüdischer Kultur und Religion, dessen oszillierende Semantik einen Raum für Assoziationen aufschließt, die der Leser nach Gutdünken an den Text herantragen konnte. Das genuin "Jüdische" wird als antiquiert und somit historisch überholt abgetan – zugleich aber auch im Kontext moderner zivilisatorischer "Dekadenzerscheinungen" wie Materialismus, Utilitarismus und Hedonismus situiert. Die antimodernistischen Attributszuschreibungen dienen Steiner als kritische Bestandsaufnahme des zeitgenössischen kulturellen und gesellschaftlichen Lebens, für dessen Charakterisierung er die "jüdische Denkweise" offenbar als Prototyp zivilisatorischer Entartung in Rechnung stellt. Dazu steht nicht im Widerspruch, dass der Verfasser des "Homunkulus"-Aufsatzes die judenfeindliche Agitation seiner Zeit scharf kritisiert, den "Rassenkampf" gar als die widerlichste Form" des "Streites der Parteien" inkriminiert. Denn die Verwendung antijudaistischer Klischees und Vorurteile, wie sie zum "kulturellen Code" (Shulamit Volkov) auch des liberalen Bildungsbürgertums im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehörten, blieb selbst von solchen Zeitgenossen vielfach unbemerkt, die sich wie Steiner öffentlich gegen die politische Propaganda der Rassenantisemiten wandten.(23)

Trotz massiver Vorbehalte gegenüber dem nicht näher charakterisierten "Geist des Judentums", der sich nach Meinung des Rezensenten nachteilig auf die abendländische Kultur und Gesellschaft ausgewirkt habe, nahm dieser in der "Judenfrage" eine assimilatorische Position ein. Denn: "… die Juden brauchen Europa und Europa braucht die Juden."(24) Steiner plädierte für das gesellschaftliche Zusammenleben von Juden und Nichtjuden, jedoch keinesfalls für eine europäisch-jüdische "Symbiose", die den wechselseitigen kulturellen Transfer unter Ebenbürtigen zur Voraussetzung hätte haben müssen.(25)

Das "Judentum als solches" und die "abendländischen Kulturideen" bilden vielmehr aus seiner Perspektive einen unvereinbaren Gegensatz, obwohl das Diasporajudentum ein genuiner Bestandteil des europäischen Kulturraums war und gerade im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts Angehörige des Reformjudentums in der liberal-bürgerlichen Gesellschaft Österreichs zunehmend an Bedeutung gewannen. Das Fortbestehen des Judentums erschien dem 27-Jährigen als Anachronismus, als ein "Fehler der Weltgeschichte", dessen "Folgen" – gemeint war wohl die Entstehung des modernen Antisemitismus – "nicht ausbleiben konnten" – ein subtiler, aber gleichwohl seine Wirkung nicht verfehlender Vorwurf, der zum Standardrepertoire der antijudaistischen Propaganda jener Zeit gehörte und bisweilen auch von assimilierten Juden erhoben wurde. (26)

Eine Würdigung des Diasporajudentums und seines Beitrags für die "abendländischen Kulturideen" etwa in der Herausbildung und Schaffung einer eigenständigen Theologie oder Mystik sucht man in dem Artikel von 1888 vergebens. Signifikanterweise fehlt in Steiners früher Charakterisierung des zeitgenössischen Judentums jeder Versuch einer Konkretisierung oder Differenzierung. Stattdessen erschöpft sich dessen Beurteilung des zeitgenössischen jüdischen Lebens in einer Aneinanderreihung von Negativ-Stereotypen, die in der Unterstellung kulminiert, dass das "Judentum als geschlossenes Ganzes", dessen Fortbestehen ein historischer Irrtum sei, in die "Entwicklung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen" habe. Was aber von der "jüdischen Denkweise" infolge dieses "Eingreifens" in die Zivilisation der Gegenwart hinein wirke, sei – so der zum sprachlichen Mittel der gesteigerten Negation greifende "Homunkulus"-Rezensent – "nichts weniger als günstig" für die "abendländischen Kulturideen".

Steiners Jonglieren mit mehrdeutigen Anspielungen und Bildern im Kontext der "Judenfrage" erwies sich realpolitisch als ein nicht unriskantes Unterfangen: Die "Deutsche Wochenschrift" war Sprachrohr des "Deutschen Clubs", einer radikaleren Abspaltung der österreichischen "Verfassungspartei", deren deutschnationalistische und zum Teil offen antisemitische Mitgliederschaft in zahlreiche Richtungsfehden verstrickt war, wovon eine um das 1885 judenfeindlich zugespitzte Linzer Programm Georg von Schönerers kreiste. Steiners Inferiorisierung des jüdischen Geistes und dessen Ausstrahlung auf die europäische Kulturlandschaft dürfte auf die Schönerer-Sympathisanten unter den "Wochenschrift"-Lesern wie eine ideologische Nachreichung zur politischen Forderung gewirkt haben, wonach eine "Beseitigung des jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens unerlässlich" sei (12. Punkt des Linzer Programms, 1885).

Prekär auch: Der Gründer der "Wochenschrift", der bereits erwähnte Journalist Heinrich Friedjung, ein assimilierter Jude und Antizionist, war 1886 von der Herausgabe der Zeitschrift zurückgetreten. Zuvor war es zwischen Friedjung, der an der ersten Fassung des Linzer Programms maßgeblich beteiligt war, und von Schönerer über die "Judenfrage" zum Eklat gekommen – und es ist nicht auszuschließen, dass auch interne Auseinandersetzungen mit Anhängern der Schönerer-Fraktion Friedjung zu dem Schritt bewogen hatten, die Edition der "Wochenschrift" niederzulegen.(27)

Der Affront Steiners zielte zu einem Teil auf die politischen Forderungen zionistischer Akteure, welche die vornehmlich in den westeuropäischen Staaten in Auflösung begriffenen jüdischen Identitäten unter nationalistisch-religiösen Vorzeichen zu revitalisieren trachteten. In seinem Buch parodierte Robert Hamerling das Ansinnen des Homunkulus, in Palästina den Judenstaat auszurufen. Sämtliche jüdische "Sonderbestrebungen" sollten, so die Auffassung des "Wochenschrift"-Redakteurs, "durch den Geist der modernen Zeit" absorbiert werden – eine Erwartungshaltung, die neben den meist separatistischen Zielsetzungen der sich eben erst formierenden zionistischen Bewegung wohl in erster Linie religiös-orthodoxen Denkweisen des Judentums galt. Doch Steiners Ablehnung des "Jüdischen" erschöpfte sich nicht in der Zurückweisung bestimmter religiöser oder politischer Ausdrucksformen. Seine Deklassierung des "Judentums als solchem" lief vielmehr auf eine Negation desselben hinaus. Insbesondere seine Formulierung "Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise …" (Hervorhebung R.S.) widerspricht der Interpretation, wonach der Verfasser des "Homunkulus"-Artikels lediglich zionistische und/oder traditionelle Erscheinungsformen des Diasporajudentums habe kritisieren wollen, während er "in Wirklichkeit" sogar ein "Bewunderer" jüdischer Kultur gewesen sei – eine apologetische Entlastungsbehauptung, für deren Berechtigung es in dem fraglichen Text nicht den geringsten Anhaltspunkt gibt. (28)

In Steiners antijüdischer Kulturkritik, vor allem im damals unter Nichtjuden und auch vielen Assimilanten obligatorischen Vorwurf der jüdischen Abgeschlossenheit, spiegelte sich der vorurteilsgeleitete Blick der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft auf eine Minderheit wider, wie ihn Historiker der vergangenen Jahre anhand zahlreicher Fallbeispiele nachgewiesen haben.(29) Die Exponenten der jüdischen Orthodoxie verloren im Wiener Gemeindeleben seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss. Den weltanschaulich konkurrierenden Reformjuden aber ließ sich schwerlich ein fundamentalistisches bzw. antiaufklärerisches Religionsverständnis unterstellen, da ihre herausragendsten Repräsentanten gerade zu den Gegnern eines solchen zählten. Aufgrund der erfolgreich voranschreitenden Assimilation sowie der wachsenden Fragmentierung jüdischen Lebens konnte zum Zeitpunkt der Niederschrift des "Homunkulus"-Beitrags somit keine Rede mehr davon sein, dass das Judentum "noch immer als geschlossenes Ganzes" den Fortschrittstendenzen der Moderne Widerstand entgegensetze. Der von Steiner erhobene Vorwurf der Homogenität täuschte zudem über die Tatsache hinweg, dass es in der zweitausendjährigen Geschichte der Diaspora weder eine kulturelle noch ethnische Einheit der Juden gegeben hatte. Ihre Geschichte zeichnete sich vielmehr seit der Antike durch religiöse Gegensätze und Spannungen aus, zu denen sich seit dem 18. Jahrhundert noch der Konflikt zwischen den Anhängern der "Haskala" und denen der Orthodoxie hinzugesellte. (30)

Die Anklänge zu der vor allem seit der Aufklärung gebräuchlichen, oft fragwürdigen Polarisierung von jüdischer Gesetzesethik und christlichem Freiheitsgedanken sind in Steiners früher antijudaistischer Haltung unübersehbar.(31) Seinem idealistisch geschulten Verständnis zufolge beschrieben Termini wie "Geist des Judentums" oder "Geist der Neuzeit" offenbar eine dem gewöhnlichen Bewusstsein unzugängliche höhere Realität.(32) Es handelt sich bei den begrifflichen Konnotationen "Geist des Judentums" und "jüdische Denkweise" folglich nicht nur um bloße Metaphern für den Juden zugeschriebene kollektivmentale Eigenschaften, sondern um idealistische Hypostasen vermeintlich "jüdischer" Merkmale.

Es ist anzunehmen, dass sich der "Homunkulus"-Rezensent, dessen Lektüren idealistischer Denker aus dieser Zeit überliefert sind, bereits frühzeitig die Position aufgeklärt-christlicher Denker von Kant bis Hegel zu Eigen machte, die dem Diasporajudentum seine Existenzberechtigung absprachen.(33) An die Stelle der Ablösung des Judentums durch die christliche Offenbarung trat in Steiners idealistischem Denken die Beerbung von "Religion" und "Offenbarung" durch eine radikalindividualistische Orientierung , die er in seinem 1894 erschienenen Hauptwerk "Die Philosophie der Freiheit" als "ethischen Individualismus" bezeichnen sollte.(34)

Steiners Inkriminierung der "jüdischen Denkweise" kann somit nur vor dem Hintergrund seiner idealistisch-"monistischen", tendenziell aber antinomistischen Kritik an den zeitgenössischen Offenbarungsreligionen verstanden werden. Dem die jüdische Religion und den jüdischen Geist in toto verdammenden Verdikt von 1888 stehen gleich mehrere Äußerungen Steiners aus den Jahren vor der Jahrhundertwende gegenüber, deren argumentative Stoßrichtung gegen die normative Ethik und den Jenseitsglauben der christlichen Religion verläuft.(35) Vor allem aus der überwiegend enthusiastischen Haeckel-, Stirner- und Nietzsche-Rezeption in der Periode vor 1900 lässt sich ersehen, dass der damals einen "individualistischen Anarchismus" (36) favorisierende Steiner ein vehementer Gegner des konfessionellen Dogmas war. Die dualistische Ausrichtung des kirchenchristlichen Bekenntnisses, nicht selten gepaart mit einem militanten Ressentiment gegenüber den Erkenntnissen der naturwissenschaftlichen Deszendenztheorie sowie den Autonomie- und Liberalitätsidealen der Moderne, veranlasste bereits den 26-Jährigen in den "Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften" zu einer harschen Zurückweisung des theologischen Offenbarungsglaubens.(37)

Steiners ablehnende Haltung gegenüber dem "Geist des Judentums" basierte zu einem erheblichen Teil also darauf, dass der Bekenner einer "monistischen" Weltsicht in der dualistischen, agnostischen und antiindividualistischen Haltung – wie sie neben den christlichen Konfessionen auch das orthodoxe Judentum über weite Strecken hin auszeichnete – den Stein des Anstoßes erblickte. Die im "Homunkulus"-Beitrag von 1888 polemisch zugespitzte Wendung "aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hereinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal" verweist in ihrer Quintessenz auf ein Denken im Sinne des "ethischen Individualismus", das nicht bereit ist, sich dem Einfluss religiöser Dogmen bzw. moralischer Imperative zu unterwerfen.

Die Dreyfus-Affäre

Kritik des Zionismus und des Antisemitismus – Herausgeber des "Magazins" und Autor der "Mitteilungen" des Berliner Abwehr-Vereins 

Das Judentum als Katalysator und kulturelles "Zersetzungsferment"

"Die Bedeutung des semitischen Impulses in der Welt"

War Rudolf Steiner ein "völkischer Antisemit"? Kritische Kurzbibliografie und Resümee

Anmerkungen:
(9)
Siehe Rudolf Steiner: Verschämter Antisemitismus, in: "Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus" 46 (1901), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1887-1901 (GA 31), Dornach 1966, S. 398-414, sowie ders.: Mein Lebensgang (GA 28),  Dornach 1986, S. 144 f.
(10)
Siehe Rudolf Steiner: Ahasver, in: "Magazin für Literatur"  35 (1900), in: ders.: Gesammelte Aufsätze, S. 378-381, hier 379.
(11)
Vgl. Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1998, S. 337-435.
(12)
Steiner: Verschämter Antisemitismus, hier S. 405.
(13)
Brief Steiners vom 27. Juli 1881 an Rudolf Ronsperger, in: Rudolf Steiner: Briefe 1 (GA 38), Dornach 1985,  S. 21.
(14) Ebenda.
(15)
Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen-, Sitten und Culturfrage, Berlin 1881.
(16)
Rudolf Steiner: Robert Hamerling: "Homunkulus". Modernes Epos in 10 Gesängen, in: "Deutsche Wochenschrift" 16 /17 (1888), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Literatur 1884 - 1902 (GA 32), Dornach 1971, S. 145- 155. Zu Steiners philosophisch-literarisch orientierter Hamerling-Rezeption siehe Thomas Kracht: Robert Hamerling. Sein Leben – sein Denken zum Geist, Dornach 1989, S. 139-148.
(17)
Robert Hamerling: Ahasver in Rom,  1866.
(18)
Vgl. Lindenberg: Rudolf Steiner, Bd. 1, S. 152- 260.
(19) Siehe Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, S. 143-145.
(20)
Steiner: Robert Hamerling, S. 147.
(21)
Ebenda, S. 149.
(22)
Ebenda, S. 152.
(23)
Die gesellschaftliche Akzeptanz antijüdischer Stereotypen zeigte sich im Deutschen Reich einige Jahre zuvor während des Berliner Antisemitismusstreits 1879/81: "Die Wahrnehmung des Judentums … war in beiden Lagern, bei den deutschnational patriotisch gesinnten Anhängern Treitschkes ebenso wie bei seinem liberalen Kontrahenten Mommsen und denen, die diesem als dem Vorkämpfer gegen reaktionären Antisemitismus Beifall spendeten, weithin von den gleichen Bildern und Denkfiguren bestimmt."  Aus: Wolfgang Benz: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001, S. 59.  Siehe ferner Christhard Hoffmann: Geschichte und Ideologie: Der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: Wolfgang Benz/ Werner Bergmann (Hg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg i.Br. 1997, S.  219-251.
(24)
Ebenda., S. 148.
(25)
Dazu Benz: Bilder vom Juden, S. 44-56.
(26) Zur Verbreitung judenfeindlicher Topoi gerade unter assimilierten Juden siehe mittlerweile klassisch Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt a.M. 1993.
(27) Zu diesem Komplex vgl. Steven M. Lowenstein (Hg. u.a.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bde., hier: Umstrittene Integration 1871-1918 (Band 3), München 1997, S. 184 f. sowie Brigitte Hamann: Hitlers Wien, S. 344 ff.
(28)
"Den Einfluss des avantgardistischen Judentums auf die abendländischen Kulturideen des 19. Jahrhunderts" habe der "Homunkulus"-Rezensent  "für überaus günstig" befunden, mutmaßt beispielsweise Lorenzo Ravagli fernab jeder quellenkritischen Analyse der in Rede stehenden Passage. Siehe Lorenzo Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004, S. 28 f.
(29)
Hierzu grundlegend Andreas Gotzmann: Eigenheit und Einheit: Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit, Leiden 2002.
(30) Vgl. Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002.
(31)
Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und "Wilden" in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach/Ts. 1999, S. 90 ff.
(32)
Zu Steiners Hegel-Rezeption, von der vermutlich auch sein späterer esoterischer Entwurf einer kosmopolitisch angelegten "Völkerpsychologie" inspiriert war, siehe Günther Dellbrügger: "Das Erkennen schlägt die Wunde und heilt sie". Hegels Kampf um die menschliche Intelligenz,  Stuttgart 2000, S. 55-95.
(33)
Zur kontroversen Diskussion um antisemitische Positionen in den Werken herausragender Vertreter der Aufklärung, der Romantik und des philosophischen Idealismus siehe etwa folgende Literaturauswahl: Hans-Joachim Becker: Fichtes Idee der Nation und das Judentum,  Amsterdam 2000; Micha Brumlik:  Deutscher Geist und Judenhass. Das Verhältnis des philosophischen Idealismus zum Judentum,  München 2000; Horst Gronke/ Thomas Meyer/ Barbara Neißer (Hg.): Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung,  Würzburg 2001; Gudrun Hentges:  Schattenseiten der Aufklärung.
(34)
In der Philosophie der Freiheit bekannte sich Steiner zu einer Ethik, deren Ziel es sei, gedankliche Intuitionen hervorzubringen und diese auf die jeweiligen Lebenssituationen anzuwenden. Siehe Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode, Berlin 1894. Dem Inhalt nach wird dieser "ethische Individualismus" von ihm bereits in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886) thematisiert.
(35)
Zu Steiners ablehnenden Haltung gegenüber den christlichen Konfessionen, die erst nach 1900 einem deren Teil-Verdienste betonenden, in der Schaffung einer "christlich-rosenkreuzerischen Esoterik" kulminierenden Burgfrieden weichen sollte, vgl. Christoph Lindenberg: Individualismus und offenbare Religion. Rudolf Steiners Zugang zum Christentum, Stuttgart 1995 sowie Lorenzo Ravagli/ Günter Röschert: Kontinuietät und Wandel. Zur Geschichte der Anthroposophie im Werk Rudolf Steiners, Stuttgart 2003, S. 36-73.
(36)
Den Begriff des "individualistischen Anarchismus" prägte der Dichter und Stirner-Forscher John Henry Mackay (1864-1933), zu dem Steiner vorübergehend freundschaftliche Kontakte unterhielt. Der von Mackay intendierte gewaltfreie "theoretische Anarchismus" fand Steiners Zustimmung, wie aus einem öffentlichen Schreiben an diesen hervorgeht. Siehe Rudolf Steiner: Antwort an John Henry Mackay, in: "Magazin für Literatur" 39 (1898), in: ders.: Gesammelte Aufsätze (GA 31), S. 283-287, hier 264.
(37) Rudolf Steiner.: Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie), Dornach 1987, S. 176 f. Auch in einer 1886 erschienenen propädeutischen Schrift wandte sich Steiner  ausdrücklich gegen den kategorischen Imperativ Kants bzw. gegen von außen oktroyierte religiöse  Sittlichkeitsmaximen: "Der Mensch lässt sich nicht von einer äußeren Macht Gesetze geben, er ist sein eigener Gesetzgeber. Wer sollte sie ihm, nach unserer Weltsicht, auch geben? Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit." Aus: Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, Dornach 1984, S. 125.

hagalil.com 08-11-2009


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