Eindrücke einer Palästinareise Unpolitische Pilgerfahrt eines
kontemplativen Zeitgenossen Medinah baDerekh:
Unterwegs in den "kommenden Staat"
Da war ich also in Tel Aviv, der ersten rein jüdischen Stadt, Zelle
und Zeichen eines jüdischen Staates. Man kommt mit eigentümlichen,
nicht immer wohlwollenden Vorstellungen nach Tel Aviv. Und man
bemerkt, je länger, je mehr, dass es in einer hundertprozentigen
Judenstadt auf die natürlichste Weise der Welt zugeht.
Nichts in den
Strassen unterscheidet sich von einer europäischen Stadt, nur dass
alle Stadtviertel geichmässig neu, modern, blitzblank sind.
Vielleicht zu modern und nicht nach Jedermanns Geschmack, mit lauter
hochmodernen Wohnhäusern. Vielfach merkt man noch das
Experimentieren des Architekten, das Suchen, einander an originellen
Konstruktionen zu übertreffen. Sehr viele Bauten tragen aber auch
das Gepräge strenger Sachlichkeit und diskreter Schönheit, so zum
Beispiel das von zwei jungen Architekten, Pariser und Bass,
erstellte Redaktionsgebäude der grossen Tageszeitung "Haarez".
Anderseits kann man nicht künstlich lauschige Winkel und gotische
Rathäuser hinstellen. Und es ist dies auch nicht notwendig. Empfand
nicht sogar der Klassiker und Romantiker Goethe unvoreingenommen den
Hauch einer neuen Zeit, als er ausrief:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, der alte.
Hast keine
verfallenen Schlösser
Und keine Basalte.
Ja, Tel Aviv ist amerikanisch, in seiner sachlichen und nüchternen
Anlage, in seinem atemraubenden Rhytmus, in seinem Unternehmergeist,
im zweckmässigen Aufbau aller Wirtschaftszweige. Tel Aviv ist der
Pulsschlag des ganzen Landes, sein natürliches Wirtschaftszentrum,
das sich in dem Masse rapid entwickelt, als das ganze Land wächst
und aufblüht. Neue Industrien wurden von emigrierenden Juden
eingeführt und haben einen ungeahnt günstigen Boden gefunden. Die
Pelzindustrie zum Beispiel, die für die warmen Länder nicht in Frage
zu kommen schien, hat einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Meine
Jugendfreunde Scharf, die vor zehn Jahren ein bescheidenes Atelier
eröffneten, ohne selbst an einen Erfolg zu glauben, haben jetzt
Könige und Prinzen aus dem Morgenlande als Kunden.
Tel Aviv ist aber auch eine Stadt der Kultur. Prachtvolle Schulen,
Bibliotheken, Fortbildungsklubs. Bildungskurse aller Art, für alle
Bevölkerungskreise, für alle weltanschaulichen Richtungen werden das
ganze Jahr über abgehalten, der Bildungshunger ist ungeheuer, und
selbst im Sommer sind die Lehr- und Vortragssäle voll besetzt.
Alle
Verlagshäuser und Druckereien des Landes sind in Tel Aviv
konzentriert; sie bilden eine Hauptindustrie, denn es werden
erstaunlich viele Bücher, drei im Tage, religiösen und historischen
Inhalts, auf dem Gebiete der Fach- und der schönen Literatur, im
Original oder aus Fremdsprachen übersetzt, herausgegeben. Es besteht
eine Reihe von Theatern, voran die weltberühmte Habima in ihrem
neuen prächtigen Sitz im Zentrum der Stadt, gefolgt von der
Kammerbühne "Oheb", den Cabaretts vom Schlage des "Cornichon",
Konzertsäle. Das Repertoir ist überaus reich, Opern und Schauspiele,
werden aus allen Sprachen übertragen und aufgeführt. Auch die
leichte Muse wird gepflegt, und man hört Chansons auch in
hebräischer Sprache singen.
In regelmässigem Turnus besuchen die
Ensembles die kleineren Städte und Dörfer, um die Kunst dem ganzen
Volke zugänglich zu machen. Es wird das ganze Jahr über gespielt,
von Shakespeare bis Capek, immer vor vollen Häusern. Man kommt in
Hemdsärmeln, aber man kommt. Und mehr und mehr gewinnt die Stadt an
Umfang, und Bedeutung.
Es ist kein künstliches Wachstum, sondern ein Ergebnis der
wachsenden wirtschaftlichen Entwicklung des ganzen Landes. Die
Wohnungsnot ist gross, während des Krieges wurde nicht gebaut und
der Strom der Zuwanderer schafft immer neue Probleme. Diese werden
aber mit unermüdlicher Initiative gemeistert, und sind so das beste
Zeugnis dafür, dass die Juden Palästinas für die Selbstverwaltung
reif sind.
Vor wenigen Jahrzehnten eine Sandwüste, vor zwanzig
Jahren ein Städtchen von dreissigtausend Einwohnern, zählt Tel Aviv
jetzt ihrer zweihunderttausend, und nichts deutet auf ein Anhalten
dieses Wachstums hin. Die arabische Nachbarstadt Jaffa träumt auf
einem malerischen Hügel weiter dahin wie seit Jahrhunderten, während
vor ihrer Nase, gleich einer Fata Morgana, eine moderne Stadt aus
der Wüste ersteht. Wer möchte glauben, dass diese zementierten
Prachtstrassen mühsam dem Sand aufgezwungen wurden? Nur wenn
irgendwo in der Stadt ein Fleckchen Erde noch nicht bebaut ist, ahnt
man, was da geleistet wurde.
Die Allenbystrasse, welche die Stadt vom Bahnhof bis zum Meer
durchquert, erinnert (ausser dem Bahnhof) mit ihren eleganten an
Waren reich versehenen Geschäften, an die Bahnhofstrasse in Zürich.
Ueberhaupt erinnert manches, was Fleiss und Regsamkeit betrifft, an
die Schweiz; mindestens aber erinnerten sich die Leute gern an sie.
Die meisten haben sie einmal, sei es in guten Zeiten als Touristen
oder Studenten, sei es in bösen Zeiten als Emigranten, kennen
gelernt. Auch diese denken mehr an das Positive, das sie hier
erfahren haben, als an die Fehler und Irrtümer, die ihnen gegenüber
begangen worden sind.
Von Schweizer jüdischen Persönlichkeiten war zur Zeit meines Aufenthalts besonders Saly Mayer
populär. Die hebräische Presse brachte nämlich, im Zusammenhang mit
Darstellungen über die letzten Zuckungen des Naziregimes,
ausführliche Berichte über die Verhandlungen Saly Mayers mit der
Gestapo, durch die es ihm gelang, die beabsichtigte Deportation von
einigen Hunderttausend ungarischen Juden zu verzögern und dadurch
vor dem sicheren Untergang zu retten. Solche und ähnliche Tatsachen
erwirken, dass in Palästina der Begriff "Schweiz" Alles in Allem mit
der Vorstellung einer Rettungsinsel verbunden wird.
In dieser jüdischen Grosstadt Tel Aviv hat der heimkehrende Jude gar
keine Zeit, sich ob dieser Tatsachen Rechenschaft abzulegen und sich
sentimentalen Gefühlen hinzugeben. Man ist reserviert, sachlich, ja
kurz angebunden. Alles arbeitet, kämpft um das tägliche Brot; aber
wenigstens mit den gleichen Chancen wie jeder Mitbürger, ohne Furcht
vor Benachteiligung aus nationalen oder religiösen Gründen. Das
religiöse Leben, beherrscht keineswegs das Stadtbild und ist eine
private Angelegenheit; als ich mich am Sabbat Nachmittag in einem
Lehnstuhl am Strande niederlassen will, kommt prompt der Wächter und
will seine paar Grusch einkassieren, ohne sich durch meine
vorwurfsvollen Blicke gekränkt zu fühlen. Das nächste Mal werde ich
mich mit ihm am Freitag über den Faltstuhl einigen.
Wenn nun das religiöse Moment auch nicht vorherrschend ist, so ist
es doch vorhanden und selbst in jenen stark verwurzelt, welche de
rituellen Formen abgestreift haben. Während des sabbatlichen
Gottesdienstes stürzt ein Mann in Hemdsärmeln und barhäuptig in die
Synagoge und fleht um eine Kopfbedeckung, um den Raum nicht zu
entweihen und darin verweilen zu können. Er hatte draussen einen
tätlichen Zwischenfall mit einigen Nachbarn hervorgerufen und
schliesslich vor der empörten Menge im Gotteshaus Zuflucht gesucht.
Seine Verfolger werden an der Türe zurückgewiesen: "Jesch lo
sechut", "Freistatt!" ruft man ihnen
entgegen. Und sie respektieren den Ort, auch wenn er für sie selbst
kein Heiligtum ist.
— Aber die Quelle des religiösen Lebens, die
Seele des jüdischen Volkes kennen lernen kann man nur in Jerusalem.
Dorthin zog es mich unwiderstehlich, und nach wenigen Tagen
Aufenthaltes in Tel Aviv, als ich vom Pulsschlag dieser Stadt noch
halb betäubt war, machte ich mich auf den Weg nach dem Berge Zion.
Jerusalem
Der Autobus, den wir am grossartigen Autobahnhof in Tel Aviv
besteigen, passiert die grosse Landwirtschaftsschule der Alliance
Israelite vor den Toren der Stadt "Mikwe Israel", durchquert die
blühende Ebene, flitzt am grossen Flughafen Lydda vorbei, fährt;
durch das arabische Ramleh, biegt in das Gebirge Juda ein und windet
sich auf der kunstvoll angelegten Autobahn achthundert Meter empor.
Das Gebirge gliche dem Schweizer Jura, wäre es nicht so kahl und
steinig, nur gelegentlich von spärlichem Grün durchsetzt. Der
Vegetation und dem Charakter der Strasse nach glaubt man über den
grossen St. Bernhard zu fahren. In der Ferne grüsst das monumentale
Grabmahl des Richters Samuel. Etwas über eine Stunde dauert die
Reise, als plötzlich, nach einer Wegbiegung, die ersten Häuser
auftauchen; rasch sind die Vororte durchquert, und nach wenigen
Minuten hält der Wagen an der Jaffastrasse; man ist mitten in
Jerusalem, mitten in einer anderen Welt, deren Wogen über den
Besucher zusammenschlagen. Ein buntes Gemisch von Orient und
Okzident, von Arabern, Engländern, Juden; deutschen Juden,
polnischen Juden, russischen Juden, spaniolischen Juden aus den
Mittelmeerländern, jemenitischen Juden aus Aden, glattrasierte
Gesichter und solche mit Bart und langen Schläfenlocken, modern
gekleidete Männer und solche in chassidischer Tracht mit schwarzem
rundem Samthut, langem Mantel und kurzer Hose; europäisch
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aufgemachte Frauen neben dichtverschleierten Araberinnen, all das
bietet sich mit einem Schlage dem verwirrten Auge dar.
Den ersten Kontakt mit der Einwohnerschaft hat man durch die
Bettler; sie umringen die Aussteigenden in Scharen, man hat die
Befürchtung, dass dies nunmehr auf Schritt und Tritt, so sein werde.
Diese Befürchtung ist übertrieben, denn es sind in erster Linie die
Neuankommenden, die mit sicheren Instinkt aufs Korn genommen werden.
Man lernt bald, dass die Bedürfnisse bescheiden sind, und dass man
mit einigen Mils (dem Tausendsteil von einem Pfund), ganz gut die
Ansprüche von dieser Seite her, und mit einigen Grusch (Groschen)
den entsprechenden Tagesbedarf bestreiten kann. Ohne das allerdings
kommt man mit seinem Gewissen nicht in Ordnung, denn man kann nur
schwer dem mahnenden Blick eines Greises mit prachtvollem
Rembrandtkopf ausweichen, oder dem lese und diskret, aber
gebieterisch ausgestossenen "Nedawa" (Spende) eines würdig und ruhig
dastehenden Mannes mit Apostelgesicht. Man begegnet bei diesen Typen
nie der groben Zudringlichkeit wie bei arabischen Bettlern, de sich
manchmal laut jammernd am Boden wälzen und die Hilfe Allahs und der
Vorbeigehenden beschwören. Jerusalem war die Stadt der "Chaluka",
d.h. es lebten dort Juden durch Jahrhunderte vom Gelde, das ihnen
von frommen Glaubensgenossen aus aller Welt geschickt wurde, um auf
diese Weise in. Zeiten wirtschaftlichen Verfalls unter Arabern oder
Türkenherrschaft eine jüdische Besiedlung der heiligen Stadt
aufrechtzuerhalten und somit die ununterbrochene Verbundenheit des
Judentums mit der Davidstadt, den Rechtsanspruch auf sie trotz der
Missgunst des ausseien Schicksals, zu bekunden. Das waren fromme
Juden* die in Jerusalem Talmud studierten und das Bewusst-sein
hatten, dass die Judenheit zu ihrem Unterhalt verpflichtet ist.
Dieses Bewusstsein ist ihnen noch geblieben, als inzwischen eine
ganz neue jüdische Ge-
neration den Rechtsanspruch auf Palästina auf andere Weise, durch
Arbeit und Aufbau, bekundete. Die alten "Chaluka-Juden" gehören zu
den ehrwürdigen Reliquien gleich den winkeligen Gassen der Altstadt,
die von der wechselvollen Geschichte der jüdischen Besiedlung Jerualems unter den Arabern und Türken Zeugnis ablegen. Underdrückt,
geduldet, vertrieben, harrte immer eine Handvoll Leute zäh aus und
betete in unter-ird sehen Gewölben die alten Gebete über die
Wiederaufrichtung Zions.
Man steigt durch ein Gewirr von Treppen und Gängen in solche
Jahrhunderte alte Be.räume, wie den des Rabbi Jehuda Hachassid, die
noch heute benutzt werden, und die noch heute, in ihrer Armut,
Grosse und Erhabenheit atmen. Das gilt auch von den Einwohnern
dieser Elendsviertel, wo selbst de arabischen Quartiere von dem
Schmutz und der Verwahrlosung der Eingeborenens'iedlungen, zum Be
spiel in Alger, weit entfernt sind, und wo in den jüdischen
Häuschen, die im Laufe der Jahrhunderte immer höher aufgestockt
wurden oder wie Verliesse und Bunker in die Erde eingegraben sind,
jeder Winkel geputzt und gepflegt aussieht. Familien von zehn,
zwölf, fünfzehn Kindern wohnten und wohnen in diesen Verliessen, und
machten immer neue pittoreske Konstruktionen zur Ausnutzung jeden
Quadratmeters nötig. "Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine
Wohnungen Israel", diese Worte kommen einem in den Sinn angesichts
solch armseliger Behausungen, wo von der Verkommenheit in den
Elendsvierteln orientalischer oder europäischer Grosstädte nichts zu
bemerken ist, weil die Bewohner an den hygienischen und moralischen
Vorschriften der jüdischen Lehre getreu festhielten.
Durch ein grosses Gittertor betritt man das arabische Viertel, wo
die gesamte Bevölkerung, vom Greis bis zum Säugling, in den Gassen
kauert; im endlosen Gewirr der Gässchen, die alle das selbe B Id
bieten und zusammen einen grossen Bazar bilden, haben wir bald
alle Orientierung verloren. Etwas beklemmt gehen wir, mein Bruder
und ich, Hand in Hand weiter, wie vor mehr als dreissig Jahren, als
wir durch die dunkle Winternacht vor Morgengrauen in die
Relig'onsschule gingen. Wir getrauen uns' nicht, einen Araber
anzusprechen; die Lage ist bereits gespannt und man weiss noch
nicht, wer ist gegen wen. Da taucht plötzlich ein alter Mann mit
wallendem weissen Bart vor uns auf; obwohl nach Sitte orientalischer
Juden, fast wie ein Araber gekleidet, erkennen wir doch an seinem
Auge und an seiner Stirn einen Widerschein Israels, und wenden uns
an ihn mit der Frage nach der Klagemauer. Ohne ein Wort zu sprechen
macht er kehrt, nimmt uns bei der Hand und geleitet uns, mühsam
keuchend, an unser Ziel. Man unterscheidet plötzlich, im arabischen
Strassenlärm, seltsame Töne ganz anderer Art. Noch eine
Strassenbiegung, und man steht unversehens vor der Klagemauer.
Ein moderner Europäer, wenn auch er mit Sinn für Historie begabt,
ist so leicht sentimentalen Anwandlungen nicht ausgesetzt. Aber der
Anbl ck dieses etwa fünfundzwanzig Meter breiten, mächtigen, mit
Moos durchsetzten Mauerstücks hat etwas seltsam Ergreifendes. Dabei
bildeten nur die unteren vier Rehen der riesigen Quadersteine die
Grundmauer des Herodianischen Tempels, der seinerseits auf dem
Fundament des Salomonischen Tempels aufgerichtet wurde; die oberen
Steine stammen nicht mehr aus vorchristlicher Zeit. Wie oft wurden
diese Stätte schon verwüstet, entweiht, überbaut. Jetzt prange dort
die grossartige Omar-Moschee als Wahrzeichen dafür, dass Mohamed
nicht nur den "alten", sondern auch den "neuen" Bund besiegt hat.
Aber noch immer wenden die jüdischen Beter in der ganzen Welt ihr
Gesicht der Tempelruine zu, noch immer drängen sich Menschen an die
verwitterte Mauer, die keinen Augenblick des Tages verlassen steht.
Eine Frau hält schluchzend Zwiesprache mit ihrem Gott. Das Gebetbuch
hat sie aus der Hand ge-
43legt, sie hat Dringlicheres, Persönlicheres mit ihm zu besprechen.
Ihr Kind ist schwer erkrankt, und'sie klagt der Mauer ihr Leid und
will nicht weichen ohne eine Hoffnung für ihr Kind. Dort singt ein
alter Jude fromme Psalmen und küsst immer wieder inbrüstig die
Steine der Mauer. Einige jemenitische Juden sitzen auf der Erde und
psalmodieren ihre Gebete mit einer Innigkeit, wie ich sie in dieser
unpathetischen Frömmigkeit nirgends gesehen habe. Englische Soldaten
schauen von ihren Wachthäusern verwundert zu, wie europäisch
gekleidete und augenscheinlich ganz moderne Menschen in gleicher
Weise wie chassidische und orientalische Juden sich vor der Mauer
verneigen, ein Licht anzünden zum Andenken an Vater u. Mütter, die
in der teutonischen Sturmflut untergegangen sind, ein weiteres Licht
für Frau und Kind in weiter Ferne, das ihnen leuchten soll im
dunklen Gewirr dieses Lebens. In jener Stunde setzten wir den Tag
der Tempelzerstörung als Jahrzeitstag für unsere verschollenen
Eltern fest. Unser alter Mentor weist uns getreulich an, das
ungeschriebene Zeremoniell d eser Stätte einzuhalten, nimmt uns dann
wieder wie Kinder an der Hand, geleitet: uns bis an den Begnn der
Neustadt, und endässt uns mit dem Priestersegen: Der Herr segne euch
und behüte euch; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch
und sei euch gnädig; der Herr wende euch sein Antlitz zu und gebe
euch Frieden.
Gläubige Juden, die in den äusseren Zufällen einen höheren Sinn
suchen, pflegen zu sagen: Der Prophet Elias ist uns erschienen und
hat uns den göttlichen Trost gebracht.
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Wer vermocht" in einer schlichten Reiseschilderung Jerusalem zu
beschreiben? Es ist n cht nur eine Welt für sich. Es ist der
Sammelpunkt verschiedener Welten, verschiedener Zeiten. Schreitet
man durch das alte Paris, so spürt man das Leben des 12., 13., 14.
Jahrhunderts. In Florenz und in Venedig spiegelt sich das glanzvolle
15. 16. Jahrhundert. Auf griechischem Boden begegnet man den
eindrucksvollen Spuren der vorchristlichen Epoche. Einzig Rom ist
schon ein Schnittpunk verschiedener Epochen und Kulturen. Aber was
sind Paris und Athen, Florenz und Rom zusammen gegenüber Jerusalem?
Zum ersten Mal wird es zu e'nem strahlenden Mittelpunkt: der
Geschichte durch die Juden. Der salomon:sche Tempel, die Propheten,
Ne-bukadnezar, Ezra und die religiös-nationale Wiedergeburt des
Herodianischen Tempels, Titus und Jose-phus und das
Judenchristentum, Hadrian und die Verbannung der Juden, der Islam,
die Kreuzzüge, die ottomanische Herrschaft, ihr Zusammenbruch,
Ueber-nahme der Stadtschlüssel durch Lord Allenby an der Spitze der
jüdichen Division — wer zählt die Völker, nennt die Namen die —
gastlich oder ungastlich — hier zusammenkamen? Mauern wurden
errichtet und erstürmt, immer wieder, an der selben Stätte; und von
allen diesen Mauern, und den Kulturen die sie einschlössen, sind
sichbare Zeugen vorhanden. Und nun steht Jerusalem wieder unter dem
Zeichen jüdischer Wiedergeburt. Vor kaum einem Menschenalter begann
die Entwicklung der modernen Stadt, mit einigen Bauten Montefiores
ausserhalb der historischen Stadtmauern. Innert weniger Jahrzehnte
entstanden die Geschäftsviertel, die Jaffastirasse und die King
George Avenue, entstanden in weitem Kranz um den Stadtkern grüne
Vororte wie Talpioth, Kirjat Sche-muel, Beth Hakerem, Romema, Bajh
Wegan; entstanden Lehranstalten aller Art, modernste Volksschulen,
Lehrerseminare, Gymnasien. Und vor zwanzig Jahren, als Krönung
dieser. Wiedergeburt — die im Judentum
45immer mit der Errichtung von Bildungsstätten Hand in Hand ging —
wurde die erste hebräische Universität hoch über der Stadt, auf dem
den Oelberg überragenden Skopus, eingeweiht.
Durch die Prophet enstrasse, am abyssinischen Palast vorbei, gelangt
man im stets vollbeladenen Autobus in windungsreicher Fahrt auf das
Plateau des Skopus, wo von der geplanten Universitätsstadt einige
imposante Gebäude bereits stehen. Zunächst die "Hadassa", das
Mutterinstitut aller über das ganze Land verstreuten Krankenhäuser
gleichen Namens. Die san tären Leistungen des Hadassanetzes für
Juden und Araber sind musterhaft und wohl einzigartig im ganzen
Orient. Das neue Hadassakrankenhaus auf dem Skopus, wo
hervorragende, früher in Deutschland wirkende Aerzte tätig sind, ist
gleichzeitig die Zelle der medizinischen Fakultät, welche die
Unvers'tät bis heutigen Tags noch nicht besizt. Hundert Meter von
der Ha-dassa befindet sich das Naturwissenschaftliche Institut, wo
gleichfalls beste Kräfte aus Europa Zuflucht gefunden haben und nun,
in Zusammenarbeit mit dem Weizmannschen Institut in Rechowoth bei
Tel Aviv, für die wissenschaftliche Erschliessung der Naturkräfte
Palästinas wirken. Im Mittelpunkt der geplanten Universitätsstadt
steht ein schöner botanischer Garten, an den sich das
Freilicht-Amphitheater anschliesst, mit se nem herrlichen Panorama
bis zum Toten Meer und der Wüste Juda. Gegenüber befindet sich die
Nationalbibliothek, welche schon heute, dank grosser Privatspenden
aus aller Welt, eine der bedeutendsten Stätten für Judalca ist.
Daneben ist das Rosenbloomgebäude mit den eigentlichen Hörsälen und
Seminaren, von deren Fenstern aus man einen überwälrgenden Blick auf
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Alt- Neu-Jerusalem hat. Wie aus der Vogelperspektive zeichnen sich
die mächtigen Mauern mit dem Davidsturm, die Kontouren der den drei
Religionen heiligen Monumente ab. In strahlendem Sonnenschein liegt
die heilige Stadt vor dem entzückten Auge. Und man spürt, dass
dieser Anblick jedesmal heilige Mahnung bedeutet für Lehrer und
Schüler, alle Kräfte in den Dienst ernster Forschung zu stellen.
Nicht mehr wie zu der Makkabäer Zeiten stehen sich Lehre der
Propheten und Lehre der Heiden feindlich gegenüber. Fast alle
Wissenschaften werden betrieben, auch jene, die ihre Heimat in dem
e'nst als feindlich empfundenen Jonien haben. Nach dem Worte
Erzvater Noes, mit dem er das Genie von Sem und Japhet
kennzeichnete: "Japht Elohim l'jephet, wejischkon b'ohole Sehern"
betreiben die Studenten an der hebräischen Universität in
friedlichster Weise klassische und moderne neben biblischer
Philologie, wenngleich diese letztere naturgemäss den weitesten Raum
e'n-nimmt. In Scharen strömen die Schüler zum Verfasser des in ein
Dutzend Sprachen übersetzten Werkes "Jesus von Nazareth", dem
Altmeister der hebräischen Literatur Joseph Klausner, der die
Probleme in eleganter Form und in meisterhaftem neuhebrKischem Stil
aufrollt. Ernst sitzen die Studienbeflissenen der prophetischen
Literatur über den Worten Jesai'as und lauschen dem bedächtigen,
wohlabgewogenen Kommentar Professor Segais, der vor vielen Jahren
seine Lehrtätigkeit in England aufgab, um im Lande seiner Väter zu
leben und zu wirken. Schtlich wohl fühlt sich die Jugend im Kolleg
über die fünf Bücher Mosis von Professor Cassuto, des Orientalisten
aus Rom, dessen alt jüdische Patriachenart von italienischem Charme
durchdrungen ist, Antike, mittelalterliche und neue Geschichte des
jüdischen Volkes, Talmud und Mischna, Religiohsphi-losophie und
Religionssoziologie (dieses Fach wird vom deutsch-jüdischen
Kuhurphilosophen Martin Buber vertreten), alles liegt in bewährten
Händen von Spe-
47z:alisten aus aller Welt, die alten Wein in neue Schläuche
giessen. Daneben natürlich die profanen Fächer, und es ist besonders
pikant, einem Kolleg in hebräischer Sprache über Kant oder Moliere
beizuwohnen, oder e nem Seminar über Aristophanes beim freisinnigen
Professor Schwabe, der als Dekan der philosophischen Fakultät mich
mit den Schwierigkeiten bekannt macht, mit welchen die junge Alma
Mater, deren Bücherbestand noch recht klein ist und jedenfalls nicht
im rechten Verhältnis zum geistigen Niveau der Vorlesung steht, zu
kämpfen hat. Manche Privatbibliothek im alten Europa ist grösser als
die Seminarbibliotheken in Jerusalem und enthält viele unbenutzte
Werke, die hier für den Lehrbetrieb eine hochwillkommene
Bereicherung wären.
Der hebräische Student nimmt sein Studium sehr ernst und gleicht in
vielem dem Schwezer Studenten, dem alle feuchtfröhliche
Burschenherrlichkeit fremd ist, der oft sein Studium selbst
verdienen muss. Dieses Problem ist viel ernster noch in Palästina,
wo die Studiengebühren, von der Mittelschule bis zur Hochschule,
durchwegs sehr erheblich sind — eine Folge des Umstands, dass der
Staat, in diesem Falle die Mandatarmacht, nichts zum Kultur-Budget
beiträgt, so dass der Unterhalt aller dieser Bildungsanstalten von
der jüdischen Bevölkerung allein geleistet wird. Ke:ne
Regierungs-Subventionen trotz der Tatsache, dass; der Grossteil der
Steuern, die einen erheblichen Ueber-schuss über die
Verwaltungskosten abwerfen, von der jüdischen Bevölkerung
aufgebracht werden. Kein staatlicher Schulzwang, keine staatliche
Kontrolle der Schulen, die entweder reine Privatschulen, oder aber
in einem Netz zusammengefasst sind das, dem "Waad Leumi", dem
jüdischen Nationalrat, untersteht. An der Spitze des
Erziehungsdepartements im Rahmen dieser Körperschaft steht Dr. Soloweitschik, vormals Minister in Litauen, der seine hohen
Fähigkeiten jetzt ganz dem jüdischen Volke widmet.
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. Aus eigener Kraft wurde dieses Schulwerk geschaffen, das in Vielem
auch für europäische Länder vorbildlich sein dürfte, von der
Mandatarmacht nirgends gefördert und, wie geklagt wird, oft gehemmt.
Der Leiter eines grossen Gymnasiums in Tel Aviv ersuchte mich
einmal, bei einer Schweizer Universität vorstellig zu werden wegen
der Nicht-Anerkennung des Maturitätszeugnisses in Gegensatz zum
bisher geübten Brauch, mit der Begründung, dass das Gymnasium ja
nicht staatlich sei. Er weist mir jedoch ein Schreiben der
englischen Regierung aus dem Jahre 1923 vor, das ausdrücklich den
hohen Standard der Leistungen bestätigt. Als ich ihn frage, ob er
mir ein Schreiben jüngeren Datums mitgeben könne, antwortet er
bitter: "Am liebsten würde die Regierung auch diesen Brief wieder
zurückziehen. Sie bedauern alles, was sie etwa einmal für uns getan
haben, und möchten am liebsten unser ganzes Werk hier zers.tö-ren."
Eine Bemerkung, die ich auf den verschiedensten Gebieten immer
wieder höre, auch von Mähnern des Handels und der Industrie, welche
Zweige in letzten Jahren einen grossen und darum für England
vielleicht beunruhigenden Aufschwung genommen haben. So sind die
Schulen auf sich selbst, angewiesen und existieren lediglich vom
Schulgeld der Schüler, das demgemäss sehr hoch ist, sodass der
kleine Bürger oder Arbeiter sein Kind nur unter grössten Opfern in
die Mittelschule schicken kann. Dafür sind aber die Volksschulen,
die allen Bevölkerungskreisen ohne Schulgeld zugänglich sind, auf
einem Niveau, wie es selbst im Lande Pestalozzis nicht überall der
Fall ist. Schon die Baulichkeiten etwa der Biluschule in Tel Aviv,
oder der Alliance Israelite in Haifa (welche neuerdings ebenfalls
hebräisch als Unterrichtssprache eingeführt hat, anstatt
französisch), zeigen, dass man das Beste und Teuerste zum Besten der
Volksbildung aufbietet. Auch in den Volksschulen werden eine oder
zwei Fremdsprachen gelernt. Der Gesundheitsdienst,
49durch die Hadassa organisiert, ist hervorragend durchgeführt. Jede
Schule hat ihr Sanitätspersonal, welches jedes Kind sorgfältig
beobachtet und die Kontrolle bis aufs Elternnaus erstreckt, so dass
innerhalb von wenigen Jahren die im Orient üblichen Krankheiten so
gut wie verschwunden sind. Die bedürftigen Kin^-der erhalten in der
Schule ihr Mittagessen, wobei die Schüler selbst in regelmässigem
Turnus, unter fachmännischer Anleitung, nach modernen
Ernährungsmethoden kochen und für kleine und grosse Geme.n-schaften
bei einem bestimmten Budget disponieren lernen.
Die weltanschauliche Richtung der jeweiligen Schulen variiert von
der religiösen Richtung, die durch das Misrachi-Schulwerk vertreten
wird, bis zur areligiösen Haltung der von Linkskreisen unterhaltenen
Anstalten. Diese Verbindung von theoretischer und praktischer
Ausbildung findet ihre Steigerung in den Kibbuzim, den
landwirtschaftlichen sozialistischen Siedlungen, und ihren Höhepunkt
in den speziellen Kinderdörfern, wo lediglich Kinder in
schulpflichtigem Alter eine Art Selbstverwaltung führen, die e ne
vorzügliche Vorbereitung für das staatspolitische Leben bildet.
Durch die Ueberführung tarnender Waisenkinder aus den deutschen
Konzentrationslagern haben diese Kinderdörfer einen grossen
Aufschwung genommen und bilden heute eines der Hauptinteressen der
jüdischen Bevölkerung. Der pädagogische Nachwuchs erfolgt an den
zwei grossen Lehrerseminaren in Jerusalem unter Leitung von
Professor Dünaburg und L.'f-schütz. Daneben wird dem grossen Bedarf
an Hilfskräften Rechnung getragen durch die Organisierung von
einjährigen pädagogischen Kursen, an welchen hervorragende Pädagogen
wie Enoch vom Misrachi-seminar und Simon von der Universität die
Anwärter in die Hauptprobleme der Jugendbildung einführen. Mit der
zunehmenden Anzahl verwahrloster, in Nazi-deutchland verwaister, aus
den Vernichtungslagern
geretteter Kinder, s'nd überaus schwierige, ja eigentlich noch nie
dagewesene Probleme aufgetaucht, die man vorher nicht, kannte.
Männer aus der Praxis ergänzen hier das Schulwissen, wie Idelsohn
aus Tel-Aviv, unter dessen Leitung der Kampf gegen und um die
verwahrloste Jugend geführt wird, wobei man sich die Erfahrungen
Sowjetrusslands nach dem ersten Weltkrieg, sowie die der
kriegsbesetzten Länder Europas, zunutze macht.
Die hebräische Renaissance, die sich innerhalb einer Generation
vollzog, war nur möglich dank zwei Faktoren: einmal den Chaluzim,
den opferwilligen jungen Juden hauptsächlich aus Mittel- und
Osteuropa, die den verdorrten Boden mit dem Schweiss ihrer Stirn
düngten und befruchteten und jeden Grashalm einem ste'nigen und
sandigen Boden abrangen; sodann eben dank den Schulen, welche das
Aufbauwerk erst eigent-1 ch konsolidieren und vertiefen, indem ein
neues Geschlecht ganz im hebräischen Geiste oder wenigstens in
hebräischer Sprache und Tradition, in Sprache und Literatur der
Propheten Israels, den Sittenlehrern der ganzen Welt, erzogen wird.
Hat nicht Rousseau, der grosse Prophet des Abendlandes, es
ausgesprochen, dass das Judentum erst dann rehabilitiert werden
könne, wenn es eigene Schulen_und Hochschulen besässe? " Alors,
seulement, nous saurons ce qu'ils ont a dire. " Schulen hat das
Judentum immer besessen, Talmud-schulen, die wie die Stiftshütte in
allen Ruhepunkten der Wüstenwanderung als erstes errichtet wurden.
Palästina besitzt bedeutende Talmudstä'tten, wie die von
Oberrabbiner Kook begründete Zentraljeschiwa, wo altjüdische
Weisheit von ehrwürdigen Gelehrten in Bart und Schläfenlocken
vorgetragen wird. Aber Bildungsstätten in modernem S'nne, allen
Anforderungen des Lebens zugewandt, gibt es, von einigen Versuchen
in Osteuropa abgesehen, erst seit der zionistischen Aera Palästinas.
Profane Bildungsstätten in der Sprache der Bibel, das ist mehr als
nur ein Symbol.Wohl verbergen sich hinter dem hebräischen Schulwerk
viele Probleme; wohl kann man geteilter Meinung sein zum Beispiel
über die Frage, ob bei der Durchführung eines humanistischen
Bildungsprogramms in den Gymnasien auf Griechisch und Lateinisch
verzichtet werden darf. Vielleicht ist eine solche Abkehr von der
abendländischen Geisteswelt, selbst nach dem Zusammenbruch der
abendländischen Kultur, zu ostentativ. Aber der Versuch, statt der
Kriegsliteratur eines Caesar und Tacitus, statt des Epikuraismus
eines Horaz und Ovid einen Arnos und Jesaja, Micha und Ezechiel mit
ihren sozialen und pazifistischen Lehren auf den jungen Geist
einwirken zu lassen, hat doch etwas Grossartiges; an sich. Und aus
dieser Tendenz, die Bibel nicht nur als Fachbuch für Theologen,
sondern als humanistisches Bildungsideal zu betrachten, könnten die
Gymnasien in Europa getrost etwas lernen. Vielleicht gibt es dann
weniger Kriege in der "Welt.
Manches andere in der Erziehung der Palästina-Jugend mag noch
problematisch, im Werden, manche Kritik gegenüber der stachligen "Sabra"-Jugend am Platze sein. Aber wenn man unter dem unmittelbaren
Eindruck dieser gesunden Burschen und Mädchen steht, die unter der
starken Sonne zu mutigen, lebensfrohen Menschen heranwachsen, so
spürt man, dass hier ein ganz neuer Typ des Juden entsteht, der das
Leben auf andere Art meistern wird als der Golusjude. Die Juden
verschiedener Abstammung verschmelzen hier zu einem neuen,
einheitlichen Schlag, und die vielen Golussprachen zu einer
einheitlichen Sprache, der Sprache der Bibel. Es ist einfach
überwältigend, wie diese neue Generation mühelos die hebräische
Sprache meistert. Ein halbwüchsiger Bursche bietet sich mir bei
meiner Ankunft in Jerusalem ab Träger an. Als ich skeptisch bald auf
meine grossen Koffer, bald auf den kleinen Jungen mit dürren Armen
blicke, besänftigt er mich mit dem improvisiertem Reim: Lo bakoach,
rak ba-moach (Nicht auf die Arme kommt es an, sondern auf
den Verstand). Dank dieser Schuljugend wird die Sprache der Bibel
zur Landessprache, zur Volkssprache, trotz des ständigen Zustroms
neuer Einwanderer aus aller Herren Länder. Es beweist sich hier ein
alter Grundsatz der jüdischen Geschichte, dass eine ziel-bewusste
Minderheit, welche die Jugend besitzt, der amorphen Masse das Gesetz
ihres Handelns und Denkens ohne äusseren Zwang aufdrückt und sie
formt. Die Renaissance der Sprache der Propheten ver-heisst die
Wiedergeburt des Geistes der Liebe und der sozialen Gerechtigkeit,
den die Bibel lehrt. Ein solches Ideal ist vielleicht nicht etwas
ganz Neues unter der Sonne, aber es lohnt sich, im Zeitalter des
wahnwitzigen Wettlaufs nach Zerstörungsmitteln, diese alte Idee
unter modernen Lebensbedingungen zu verwirklichen und unter diesem
Zeichen als Volk zu erstehen. Die alte Prophetenbotschaft wieder zu
verkünden und der Welt vorzuleben, die eigentliche Wissenschaft vom
Menschen, den Humanismus, als Gegenwicht zum technisch- materialisch
orientierten Abendland zu pfle^-gen, ist als. Aufgabe wichtig genug
und rechtfertigt vollauf den Kredit als schöpferisches Kulturvolk,
welchen Rousseau einem autonomen Judenstaat entgegenbrachte.
Diese Betrachtungen über das hebräische Bildungs-wesen sind ein
Konzentrat der vielen unvergesslichen Eindrücke, die ich beim Besuch
aller Schultypen im Lande gewonnen habe. Sowohl im Schulnetz, das
dem jüdischen Nationalrat untersteht, wie auch in den durch andere
Initiative entstandenen Anstalten wurde ich mit. grösster
Zuvorkommenheit in die allgemeinen und lokalen Probleme eingeweiht,
nicht nur durch de Direktion und das Lehrpersonal, sondern durch
53Teilnahme am Unterricht in allen Fächern. Da ich selbst aus dem
Volksschullehrerstand hervorgegangen bin und in meiner Lern- und
Lehrtätigkeit die verschiedenen Phasen bis zur Hochschule
durchschritten habe, war es mir leichter, das Wesen des Lehrbetriebs
in seiner Differenziertheit zu erfassen. Ich erkannte, dass nicht
nur verschiedene Schultypen bestehen, sondern dass selbst innerhalb
der weltanschaulichen Gruppierungen jede Anstalt noch ihren eigenen
Charakter, ihre eigene Seele besitzt.
In Jerusalem wurde ich von der geisteswissenschaftlichen Fakultät
zur Teilnahme an Seminaren im engeren Kreise, sowie zu einem
öffentlichen Vortrag für Dozentenschaft und Studentenschaft und ein
interessiertes Publikum aus der Stadt eingeladen. Die
Dozen-tenschaft erschien fast vollzählig, mit Professor Klausner an
der Spitze, der die Einführungsrede übernommen hatte; das
Stadtpublikum erschien in grosser Zahl. Für alle unerwartet war die
Feststellung, wie gross die französische Kolonie oder mindestens der
Kreis der an der französischen Sprache Interessierten war — mein
Vortrag war nämlich dort seit Jahren der erste in französischer
Sprache, welche ihre Vormachtstellung im Orient eingebüsst hat und
durch die englische verdrängt wird. — Durch totales Nichterscheinen
glänzten jedoch die Studenten, und zwar weil gerade an d esem Tage,
der Studentenstireik ausgebrochen war, der sich durch mehrere Wochen
fortsetzen sollte. Grund war die Erhöhung der an sich schon
beträchtlichen Studiengebühren, wodurch viele dieser Werkstudenten
sich vor die Unmöglichkeit gestellt: sahen, ihr Studium zu beenden.
Nachdem de Unterhandlungen mit: den Uni-versi.ätsbehörden, welche
ihre eigenen Schwierigkeiten zur Deckung ihres Budgets geltend
machten, gescheitert waren, schritten die Studierenden einfach zum
Streik, stellten Streikposten auf, und boykottierten die
Vorlesungen. Für die Studenten war es eben auch eine Lebens- und
Existenzfrage, und im übrigen sind Streiks
54
im Lehrbetrieb nicht ohne jeden Präzedenzfall. Die Lehrerschaft
streikte schon wiederholt, um die Regelung ihrer rückständigen
Gehälter zu erwirken, ohne dass man deshalb diesem Berufsstand
Mangel an Idealismus nachsagen ikönnte. Die wirtschaftlichen
Schwierigkeiten sind eben überall noch gross und halten n cht
Schritt, mit der überall zu Tage tretenden Initiative zur Enwicklung
des kulturellen Lebens, ohne irgendwelche Beihilfe seitens der
Regierung. Wenn die Spannung einmal zu gross wird, so streikt man
eben eine Zeitlang in aller Freundschaft, und nach einiger Zeit
vergleicht man sich irgendwie. Auch der Studentenstreik endete mit
einem solchen Kompromiss; aber er ist als Symptom wichtig genug, um
die moral sehe Mitverantwortung des Exiljudentums an der Erhaltung
der hebräischen Hochschule wachzurufen.
In meinem Vortrag stellte ich die Gestalt das Juden in der
europäischen Literatur im Wandel der Jahrhunderte dar, was mir
Gelegenheit gab, im Gewände literarischer Analyse die Entwicklung
der Judenfrage auch nach politischen und soziologischen
Geschtspunkten zu betrachten. Der Jude, der in der europäischen
Literatur gewöhnlich auf der Anklagebank sitzt, wurde zum Ankläger
und riss, wie Shylock in gewissen einzigartigen Szenen, den über ihn
zu Gericht Sitzenden die Maske vom Gesicht. Die ganze
Kulturgeschichte Europas, vom Gesichtswinkel der Judenfrage aus
betrachtet, zog an unserem Auge vorüber und wurde einer
unerbittlichen Kritik in Bezug auf ihre wahre und falsche Grosse
unterzogen. Meine Betrachtungen endeten in einem Bekenntn s zur
Freiheit aller Völker und aller Weltanschauungen nicht im Sinne
einer seichten, im Grunde verständnislosen "Toleranz", sondern im S'nne einer
"permissive society" nach dem Ausdruck von Charles
Morgan, einer Förderung der Differenziertheit und
Verschiedenartigkeit als Zeichen geistigen Reichtums, und in diesem
Rahmen auch für das jüd'sche Volk das Recht auf eine freie
kulturelle Ent-wicklung vornehmlich im eigenen Lande als Nährboden
der jüdischen Gemeinschaften in der Welt.
Ich habe selten ein so dankbares, aufmerksam mitgehendes Publikum
wie in Jerusalem angetroffen. In den anderthalb Stunden meiner
Aurführungen herrschte, trotz der Juniwärme im überfüllten Saale,
eine atemlose Stille, die sich am Schluss in einer Zustimmung
entlud, wie es sonst nur politischen, nicht aber akademischen Reden
beschieden ist. Vermutlich empfanden me'ne Zuhörer diese
Ausführungen ab eine Allen persönliche Abrechnung mit dem Europa, in
welchem jeder von ihnen sein Bestes zurückgelassen hatte; überhaupt
mögen verschiedene meiner Bemerkungen mit aktuellen Aspekten der
jüdischen Situation in Palästina in Zusammenhang gebracht worden
sein, welche eine tiefe; Erbitterung in allen, selbst gemässigren
jüdischen Kreisen hervorruft.
Die gleiche Reaktion konnte ich in Jerusalem wie in Haifa
feststellen. Die französischen Konsule aber berichteten mit
Befriedigung ihren vorgesetzten Stellen von einem zunehmenden
Interesse an Veranstaltungen in französischer Sprache. — Als in
Jerusalem, eine Stunde nach Beendigung des Vortrags, das Publikum
sich verlaufen hatte und ich mich hinausbegeben wollte, sah ich
hinter der Türe, verlegen und verschüchtert ob so viel Glanzes,
meine kleine Muhme Jente warten, um mir zu sag:en, "dass es so schön
war". "Es wäre schön, wenn auch meine Mutter es erlebt hätte", sagt"
ich und küsste sie. Weinend wankte sie hinaus.
Dann betrat ich die Terrasse des Universitätsgebäudes und Hess noch
enmal den Blick liebkosend über Jerusalem schweifen. In der
leuchtenden Abendsonne lag die Stadt Davids und Salonions, da,
herrlich und königl'ch wie je. Hier die trutz:gen Mauern über1 dem
Kidrontal, welche die römischen Heere jahrelang in Respekt, gehalten
hatten. Die Wahrzeichen der verschiedenen Religionen überragten das
um dre drei Hügel sich schmiegende Häusermeer. Wahrzeichen
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einst erbitterter Kämpfe, werden sie eines Tages doch zum Symbol
gegenseitiger Duldung, und Anerkennung werden. Ja, an der einstigen
Davidstadt haben nunmehr alle Völker der Erde geistigen Anteil. Die
Kulturgeschichte der Menschheit nahm dort ihren Ursprung, und alle
bibelgläubigen Völker dürfen und sollen ihre heiligen Stätten in
Jerusalem verehren und zu ihnen wallfahren.. "Und alle Völker werden
vor meinem Angesicht: erscheinen, und jeder wird im Namen seines
Gottes einherschreiten, du aber im Namen des Ewigen, deines Gottes."
Das jüdische Volk, dessen Schoss die biblischen Religionen
entsprangen, ist der legitime Hüter der in immer erneuerten Wellen
entstandenen Heiligtümer. Für alle, die sich zum besseren Teil der
abendländischen Zivilisat'on bekennen, ist Jerusalem ein erhabenes
Symbol; für Israel aber ist es nicht nur Symbol, sondern geistige
und physische Wurzel seiner Lebenskraft. Und auch ich, das fühlte
ich, werde wieder und wieder hierher zurückkehren, und jeder Besuch
wird mir zum. Wallfahrtsfest werden; als Opfergabe werde ich, im
Geiste der biblischen Mahnung, nach Massgabe meiner Kraft die Frucht
meines Geistes, meines; Forschern und Nachdenkens in fernen Landen
darbringen, und werde meinerseits am Quell jüdischer Hoffnung und
jüdischer Forschung trinken und aus ihm Kraft; schöpfen zu neuer
Wirksamkeit unter meinen, vom Winde verwehten Brüdern,Von Dan bis
Berseba
Zu meinem Programm gehörte eine ausgedehnte Fahrt durch die
landwirtschaftlichen Siedlungen, mit besonderer Berücksichtigung und
Besichtigung der Landschulen, in denen eine neue Jugend nach dem
Grundsatz von "Lernen und Arbeiten" erzogen wird. Die immer
gespannter werdende politische Lage, die vom Militärkommando häufig
angeordnete Unterbrechung des Reiseverkehrs warfen jedoch meine
Reisepläne völlig durcheinander, und ich musste mich mit einem
abgekürzten Verfahren sowie mit kurzen Spritztouren, in Momenten
relativer Ruhe unternommen, begnügen. Immerhin habe ich das für
Palästina Charakteristische wenigstens andeutungsweise kennen
gelernt und habe, schlecht und recht, im rasenden Tempo das Land von
Norden nach Süden, "von Dan bis Berseba", durchstreift. Ich konnte
in die speziell im Norden des Landes sich entfaltenden Siedlungen
Ein^ blick gewinnen, wenngleich ich gerade die Ebene Jez-reels, den
ältesten und meist entwickelten Teil der zionistischen Besiedlung,
nur im Sturmschritt durcheilte. Aber dieser Teil des Landes, der "Emek", die Kornkammer Palästinas, bedarf meiner Schilderung nicht
mehr.
Von c Haifa aus fuhr ich nordwärts, durch die am Meere gelegene, in
stattem Grün prangende Ortschaft Schawe-Zion, wo einem von allen
Seiten ein unverfälschtes Schwäbisch entgegenklingt. Kein
*
5"
Wunder, denn die gesamte Dorfbevölkerung war vor zehn Jahren noch im
württembergischen Schwarzwalddorf Rexingen, einem reinen Judendorf
im Herzen des Schwabenlandes, wohnhaft. Als die ersten Rassengesetze
heraus kamen, da waren die biederen Rexinger darob derart erbosit,
dass sie beschlossen, samt und sonders nach dem Lande Kanaan zu
ziehen, von dem sie bislang nur aus dem Bibelunterricht ihres
Oberlehrers Spatz etwas gehört: hatten. Die deutschen Juden, welche
sich in jenen Konjukturzeiten der ersten Nazijahre einzurichten
begonnen hatten, spöttelten über diesen jüdischen Schwabenstreich.
Doch die wackeren Rexinger "forchten sich nit, gingen ihres Weges
Schritt vor Schritt, Hessen sich den Schild mit Pfeilen spicken, und
täten nur spöttisch um sich blicken".
Und m:t Sack und Pack und Kind und Kegel zogen sie aus und bauten in
Zion, wo es vordem viel Steine gab und wenig Brot, ihr altes,
schmuckes Rexingen wieder auf, nur dass sie jetzt statt mit "Salü"
mit einem herzhaften "Schalom" grüssen. Da ist allerdings
vorderhand, zusammen mit "Toda" für danke und "Sli-cha" für Eksgüsi,
die einzige Entlehnung aus dem Hebrä'schen, mit dem sie ihre
schwäbische Mundart bereichert haben. Allerdings haben sie damit
gleich die schönsten, leider nicht allzu häufig gebrauchten Wörter
der hebräischen Sprache aufgegriffen.
Eine halbe Stund weiter nordwärts liegt das Seebad Naharia, ein ganz
moderner und geradezu mondäner Kurort, der hinter Heringsdorf oder
Abbazzia nur an Ausdehnung zurücksteht. Vor dem Lido liegt noch auf
einer Sandbank das primitive Motorboot, mit dem im letzten Winter
zweihundert "illegale" Einwanderer das Mittelländische Meer
überquert hatten. In der Nacht gelangte das Boot ans Ufer und
scheiterte auf der Sandbank. Ein vorzüglich organisierter
Hilfsdienst der benachbarten Kibbuz:m brachte die Leute ans Land und
verteilte sie noch in derselben Nacht in die verschiedenen
Ortschaften. Am anderen Tage machten
59
de Engländer hier wie an anderen Orten ihrem Aerger in der Weise
Luft, dass sie mit einem grossen Truppenaufgebot in schwerster
Kriegsausrüstung die Kibbuz'm nach "Terroristen" durchsuchten; ein
Titel der gross-zügig auf alle die Einwanderungsgesetze
missachtenden Einwanderer ausgedehnt wird.
Der Kurort Naharia ist aus einer landwirtschaftlichen S'.edlung
deutscher Emigranten hervorgegangen und ist eine Hochburg der
deutschen Sprache geblieben. Als bei dem Peel-Plan, der eine Teilung
Palästinas empfahl, Naharia für den arabischen Sektor vorgesehen
war, erhoben die Einwohner bei Dr. Weizmann telegrafisch Protest;
worauf dieser ihnen zurücktelegrafierte: "Keine Sorge, Naharia
bleibt deutsch." Se non e vero...
Um von Naharia nach Safed (Z'fath) zu gelangen, fährt man an der
alten Hafenstadt Akko vorbei, vor der diesem einst seine Namen
gegeben. Dort in Z'fat, zahllosen Windungen steigt die kunstvolle
Autostrasse nahezu tausend Meter hoch nach der alten malerischen
Stadt am Berge Kanaan, einem der höchsten des Landes, der diesem
einst seinen Namen gegeben. Dort in Z'fat, abseits von der grossen.
Heerstrasse, behauptete sich durch die Jahrhunderte eine jüdische
Ansiedlung. Die mächtige Berglandschaft erfüllte die Bewohner mit
einem naturhaften Gortesglauben, der den Ort: zur Heimat der
jüdischen Mystik werden Hess. In einer Höhle bei Z'fath lag der
heilige Rabbi Simon ben Jochai dreizehn Jahre vor den Römern
verborgen und es offenbarten sich ihm dort die Geheimnisse der
Kabbala. Bis zum heutigen Tage pilgert an seinem Todestage halb
Palästina an die heilige Grabstätte in Meron, das. man in der Ferne
wahrnehmen kann. Im 16. und 17. Jahrhundert erlebte die Mystik eine
Wiedergeburt durch Rabbi Jizhak Luria, der mit seiner aus Spanien
vertriebenen Gemeinde am Freitagabend in die Berge hinauszog, um im
Sinne des Hohenliedes die Prinzessin Sabbat feierlich zu empfangen.
Der Ort 60
blieb ein Zentrum jüdischer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit und hat
ein bedeutendes Verdienst an der Entstehung des für das
Diaspora-Judentum massgeblichen Religionsgesetzbuches, des "Schulchan Aruch". Heute ist Safed mit dem Berg Kanaan vornehmlich
ein Luftkurort im Sommer.
Im Winter ist diese Rolle der mehrheitlich von Juden bewohnten,
Stadt Tiberias am See Kinereth vorbehalten, wohin man in
einstündiger Fahrt, nach Ueberwindung eines Höhenunterschiedes von
über tausend Meter, gelangt. Denn Tiberias liegt zweihundert Meter
unter dem Meeresspiegel. Im Winter ist es dort frühlingshaft warm,
und dies, zusammen mit den heilkräftigen heissen Quellen, machen die
Ortschaft zu einem mehr und mehr beliebten Kurort, wie es wohl schon
zur Zeit des Kaisers Tiberias der Fall war, nach welchem die S:~adc
benannt ist. Damals war Kapernaüm (K'far Nahum.) das Zentrum der
jüdischen Siedlung am "Genezareth" .
Der liebliche See, von einer sanften Berglandschaft umgeben, ist
schon von vielen Dichtern und Malern, darunter Bialik und Abel Pann,
besungen und gezeichnet worden. In seiner Nähe liegen die grossen
Lehrer Rabbi Akiba und Maimonides begraben. Auch dem Christentum ist
der See Genezareth heilig. Aber die Badeanstalt. "Lido", von der im
Zusammenhang mit der antizionistischen Pressekampagne in England als
einem Sündenbabel, als einer Entweihung des heiligen Sees die Rede
war, ist nichts weiter als ein Strandbad, wie es deren Hunderte an
den Schweizer Seen gibt, die bei den Engländern so beliebt sind. Es
ist zudem Eigentum eines geflüchteten Nazideutschen, wird von einem
Araber verwaltet, und, wie ich mich überzeugen konnte, von Juden
überhaupt nicht, von englischen Offizieren vornehmlich besucht,
denen das erfrischende Bad nicht einmal zu missgönnen ist. Denn der
Sommer am Kinereth ist für den Europäer unerträglich heiss und
drückend.Nichtsdestoweniger finden sich auch dort vereinzelte
jüdische Kolonien, de der Landschaft neues Leben einzuhauchen
beginnen. Denn der jüdische Opfermut in der Erschliessung neuen
Bodens kennt keine Grenzen; nun ist es schon die vierte Generation
junger Pioniere, die Sand und Sümpfe und steinigen Grund in
lebendige Gotteserde umwandelt. Ein solches Werk ist wahrlich gegen,
alle Gesetze der Oekonomie und der Rentabilität. Nur Liebe zur
Heimat, geläutert: und vertieft durch jahrtausendlange Knechtschaft,
kann solch Werk vollbringen. Nur Juden können das Land Kanaan zu
neuem Leben erwecken, indem sie ihm ihr eigenes Leben einhauchen.
Nur weil Juden vor dreitausend Jahren von der Wüste herkamen,
erschien ihnen das angelobte Kanaan als gelobtes Land, das sie dann,
durch ihrer Hände Werk dazu machten. Und weil es einmal schön und
lieblich war zur Zeit ihrer Väter, erscheint es ihnen so auch heute
noch ihrem inneren Auge, und s'e gestalten das Land so, wie sie es
innerlich sehen. Neue, fruchtbare Erde erschliessen, heisst Gottes
Schöpfungswerk vollenden. Alle, die an Gottes Welt zu ihrer
Vollendung mitarbeiten, und seien sie ungläubig im kirchlichen
Sinne, sind Gottes Kinder. Alle, die solches Tun stören, und sei es
im Namen hoher Weltpolitik, sind Gottes Feinde.
Das fast tropische Klima, warme Winter und grosse Sommerhitze, isr
für das ganze Jordantal, vom Kine-reth bis zum Toten Meer,
kennzeichnend. Hier, vierhundert Meter unter dem Meeresspiegel, auf
dem kah^ len, glühenden Gestein, zwischen denen der ries ge,
langgestreckte, die Sündenstädte Sodom und Gomorrha gnädig
einhüllende See ruht, ist: an eine landwirtschaftliche Besiedlung
nicht zu denken, vorderhand wenige
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stens; denn der Glaube an die Heimat versetzt Berge und teilt Meere
und belebt Wüsten. Inzwischen erblüht selbst aus den Ruinen Sodoms
und Gomorrhas neues Leben. Die aus dem Meer gewonnenen Minerale
dienen auf dem Umwege über die Chemie gleichfalls dem Aufbau des
Landes. Und so ist das Tote Meer nicht nur ein Kuriosum für
Besucher, welche sich davon überzeugen wollen, ob man dort wirklich
nicht versinken und auf der Wasseroberfläche treibend eine Zeitung
lesen kann, sondern es beherbergt an seinen Ufern die grossen
Kaliwerke, in welchen Hunderte von Juden trotz schwerster
klimatischer Bed ngungen arbeiten. Kleine Arbeiterhäusschen mit
spärlichen Bäumen bieten den Arbeitenden ein wenig Schatten.
Die Touristen finden Kühlung im fashionablen Hotel neben der
Badeanstalt. In dem durch grosse Ventilatoren tiefgekühlten
Speisesaal schalten und walten, in weissen langen Hemden angetan,
schokoladenfarbene Sudanesen, unter ihrem roten Fez eben so würdig
wie knusperig anzuschaun. Sie kauderwelschen in allen Sprachen
ebenso bereitwillig wie sie die Valuten aller Herren Länder in
Zahlung nehmen. Der türkische Kaffee belebt die mehrere hundert
Meter unter den Meeresspiegel gesunkenen Lebensgeister vor der
Rückkehr im überfüllten Autobus durch eine wilde Felsenlandschaft,
in kühnen Strasscnwindungen die einen Niveau-Unterschied von 1200
Metern überwinden, nach, Jerusalem von wo aus uns der Wagen eine
andere Linie mit. der Verkehrsader verknüpft, die von Tel Aviv nach
Süd-Judäa führt.
Mein Ziel isn der südlichste jüdische Punkt in Palästina, die am
Nordrande des; Negebh gelegenen Orte Dorot* und B'er Jizhak, unweit
der neuerdings von England zu einem wichtigen stategischen
Stützpunkt ausersehenen Stadt Gaza, weiland Kampffeld der kühnen
Taten Simsons gegen die gottlosen Philister. Je mehr man vom
Landeszentrum gen Süden, fährt, desto mehr nimmt die Landschaft
wüstenartigen Charakter
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COLLECTION MIGDAL
Jüdisches Wissen für Jedermann
Hintergrund:
EIN
TRAURIGER SIEG
Am 8. Mai 1945
geht in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Millionen Menschen
jubeln und feiern. In die Freude der Juden mischt sich dagegen große
Trauer. Zu diesem Zeitpunkt ist schon bekannt, dass Millionen Juden
von den Nazis ermordet wurden...
DIE
ILLEGALE EINWANDERUNG
Im Sommer 1945,
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wird die illegale jüdische
Einwanderung in großem Umfang wieder aufgenommen. Inzwischen ist
dafür nur noch ein einziges Organ zuständig, »das Zweite
Alija-Büro«, eine Abteilung der Haganah...
DIE
AMERIKANER GREIFEN EIN
Nach Ende des
Zweiten Weltkriegs strömen Zehntausende von Holocaust-Überlebenden
in die Lager für »Displaced Persons« in Deutschland. Um sich ein
Bild von ihrer Situation zu machen, schickt US-Präsident Truman
seinen Vertreter, Earl Harrison, nach Deutschland...
DER
HEBRÄISCHE AUFSTAND
Die »Bewegung des
hebräischen Aufstands« wird Ende 1945 gegründet und ist bis Juli
1946 aktiv. Dabei handelt es sich um einen von den
Jischuw-Einrichtungen gebildeten militärischen Dachverband unter
Leitung der Haganah, dem sich auch Etzel und Lechi anschließen... |