3. Teil zum Prozess Jesu aus jüdischer Sicht:
Im Hause des Hohenpriesters
Obwohl Jesus von römischen Soldaten verhaftet worden war,
wurde es den jüdischen Tempelpolizisten gestattet, Jesus zum Haus des
Hohenpriesters zu bringen.
Dort soll dann folgendes geschehen sein: der Hohepriester hat den Großen
Sanhedrin in jener Nacht in seinem privaten Haus zusammengerufen. Dort sei
Jesus aufgrund jüdischen Rechts wegen des Vorwurfs der Gotteslästerung vor
Gericht gestellt, aufgrund seines eigenen Bekenntnisses dieses Verbrechens
für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden (Mk 14, 53 ff.; Mt 26,
57 ff.).
Diese Darstellung der Geschehnisse erweist sich als unvereinbar mit vielen
alten Bestimmungen des jüdischen Rechts. Auf diese Bestimmungen soll im
Folgenden eingegangen werden.
3.1. Der Ort des Verfahrens
Der Große Sanhedrin durfte nicht außerhalb des Tempelbezirks, also nicht in
einem Privathaus als Strafgericht tagen und Kriminalfälle behandeln. Diese
Regel folgt direkt aus dem Deuteronomium (Dtn 17, 8) "Wenn eine Sache vor
Gericht dir zu schwer sein wird, […] so sollst du dich aufmachen und
hinaufgehen zu der Stätte, die der Herr, dein Gott, erwählen wird." Der von
Gott erwählte Ort indes ist der Tempel und nur dort soll der Sanhedrin sich
versammeln und Recht sprechen. Aus Dtn 17, 10 lässt sich folgern, dass
Entscheidungen, Erlasse, Urteile nur dann bindend waren, wenn der Sanhedrin
im Tempel getagt und seine Sitzungen abgehalten hat. In diesem Vers steht,
dass "…du dich an den Spruch halten [sollst], den sie dir an dieser Stätte,
die der Herr auswählt, verkünden, und du sollst auf alles, was sie dich
lehren, genau achten und es halten." Es wird noch einmal explizit auf diesen
besonderen, nämlich vom Herrn erwählten Ort hingewiesen. Also nur dann, wenn
Erlasse, Urteile und ähnliches auf Sitzungen im Tempel vom Hohen Rat
erlassen wurden, entfalteten diese eine Bindungswirkung und waren
durchsetzbar (vgl. B Sanhedrin 41b).
3.2. Die Zeit des Verfahrens
Ein Strafprozess, wie er gegen Jesus stattgefunden haben soll, durfte nicht
während der Nacht stattfinden, sondern mussten während des Tages begonnen
und abgeschlossen werden. Diese Regel ergibt sich aus der Mischna (Sammlung
der mündlichen Gesetzesüberlieferungen aus den Jahren 0-200 n. Chr.):
"Verhandlungen über Geldsachen werden am Tage geführt und können nachts
geschlossen werden, Verhandlungen über Todesstrafsachen werden am Tage
geführt und müssen auch am Tage geschlossen werden. Bei Geldsachen wird das
Urteil am Tage der Verhandlung gefällt, ob zugunsten oder zuungunsten, bei
Todesstrafsachen aber kann das Urteil am selben Tag nur zugunsten gefällt
werden, zuungunsten aber erst am folgenden Tage. Daher wird weder am
Vorabend des Sabbats noch am Vorabend des Festes Gericht abgehalten" (M
Sanhedrin IV, 1).
3.3. Kein Strafprozess an Feiertagen oder am Vorabend eines Feiertages
Aus dem unter 3.2. zitierten Auszug aus der Mischna ergibt sich eine weitere
Regel: Gegen keinen Menschen durfte an Feiertagen oder am Vorabend eines
Festes ein Strafprozess durchgeführt werden. Nach Markus (Mk 14, 1) wollten
die Hohenpriester und die Schriftgelehrten Jesus töten. Die Verhaftung Jesu
fand am Vorabend des Passahfestes statt. Da nach der oben genannten Regel
bei Todesstrafsachen das Urteil zuungunsten erst am nächsten Tag gefällt
werden durfte, hätte dieses am ersten Tag des Passahfestes geschehen müssen.
3.4. Verurteilung aufgrund von Zeugenaussagen, nicht wegen eigenen
Geständnisses
Kein Mensch durfte aufgrund seines eigenen Zeugnisses oder kraft seines
eigenen Geständnisses verurteilt werden. Ein Mensch durfte nur aufgrund des
Zeugnisses (mindestens) zweier rechtsfähiger Augenzeugen wegen eines
Kapitalverbrechens verurteilt werden. Diese Vorschriften folgen, wie schon
die Regel über den Tempel als Gerichtsort, aus dem Buch Deuteronomium. Im
Vers Dtn 17, 6 steht geschrieben: "Wenn es um Leben oder Tod eines
Angeklagten geht, darf er nur auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen hin
zum Tode verurteilt werden. Auf die Aussage eines einzigen Zeugen hin darf
er nicht zum Tod verurteilt werden." Diese Vorschrift wird wiederholt in Dtn
19, 15: "Wenn es um ein Verbrechen oder ein Vergehen geht, darf ein
einzelner Belastungszeuge nicht Recht bekommen, welches Vergehen auch immer
der Angeklagte begangen hat. Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen
darf eine Sache Recht bekommen." Zu den Unterschieden zwischen Zivilfällen
und Strafprozessfällen gehört, dass ein Mensch zwar in Zivilfällen durch
sein eigenes Geständnis gebunden ist, nicht aber in Strafprozessen; jedes
Bekenntnis, ob innerhalb oder außerhalb des Gerichts, ist als Beweismaterial
gegen ihn unzulässig (vgl. T Schebuot III, 8).
Nach den Überlieferungen von Matthäus und Markus trug sich indes folgendes
zu: obwohl eine Vielzahl von Zeugen aufgeboten wurde, widersprachen sich
deren Aussagen, so dass diese nicht geeignet waren, um eine Verurteilung
aussprechen zu können (Mt 26, 59, 60; Mk 14, 55, 56). Daraufhin wurde Jesus
selbst befragt und legte ein "Geständnis" ab. Dieses "Geständnis" soll zu
dem Ausspruch des Hohenpriesters geführt haben "Das ist eine
Gotteslästerung! Wir brauchen keine Zeugen mehr! Ihr habt es ja selbst
gehört" (Mt 26, 65; Mk 14, 63, 64). Ob tatsächlich eine Gotteslästerung
durch Jesus vorgelegen hat (dazu später unter 3.6. Das Kapitalverbrechen der
Gotteslästerung), kann an dieser Stelle dahinstehen, denn das Erfordernis,
dass ein Mensch nur aufgrund der Aussagen von mindestens zwei Augenzeugen
verurteilt werden darf, nicht aber aufgrund eigenen Geständnisses, galt auch
für das Verbrechen der Gotteslästerung.
3.5. Warnung des Täters vor dem Kapitalverbrechen und dessen Folgen
Kein Mensch durfte wegen eines Kapitalverbrechens verurteilt werden, solange
nicht zwei rechtsfähige Zeugen Zeugnis dafür ablegten, dass sie ihn zunächst
vor dem verbrecherischen Charakter der Handlung und der dafür
vorgeschriebenen Strafe gewarnt hätten. Das Gericht muss beweisen, dass der
Verbrecher das Verbrechen begangen hat und dass er zuvor gewarnt worden ist,
dass er sich die Todesstrafe zuziehe, sofern er die Tat begehe (B Sanhedrin
8b, 80b; T Sanhedrin XI, 1). Diese wichtige Regel des jüdischen
Strafprozessrechts bleibt in den Schilderungen des Prozesses gegen Jesus in
den Evangelien von Matthäus und Markus völlig unerwähnt.
3.6. Das Kapitalverbrechen der Gotteslästerung
Das Kapitalverbrechen der Gotteslästerung bestand im Aussprechen des Namens
Gottes, Jahwe, der nur einmal im Jahr von dem Hohenpriester im
Allerheiligsten des Tempels ausgesprochen werden durfte. Es war irrelevant,
welche Gotteslästerungen geäußert wurden, solange dabei nicht der göttliche
Name ausgesprochen wurde. Dies folgt aus einem Vers des Buches Levitikus
(Lev). Nach Lev 24, 15, 16 "soll seine Schuld tragen, wer seinem Gott
flucht. Wer des Herrn Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze
Gemeinde soll ihn steinigen. Ob Fremdling oder Einheimischer, wer den Namen
lästert, soll sterben". Es wird klar unterschieden zwischen dem Vergehen der
Verfluchung Gottes, dass nicht mit dem Tode bedroht war, und der Lästerung
Gottes durch das Aussprechen seines unaussprechlichen Namens, wofür die
Todesstrafe vorgesehen war. Der Unterschied besteht darin, dass der
Gotteslästerer, der "nur" Gott flucht, seine Schuld tragen soll, während der
todeswürdige Gotteslästerer zusätzlich zu dem Fluch den Namen Gottes
lästert. Demnach wurde folgendes als Gesetz festgelegt: "Der Gotteslästerer
ist nur dann strafbar, wenn er den Gottesnamen ausgesprochen hat" (M
Sanhedrin VII, 5). Gott zu verfluchen oder zu lästern, ohne den Namen
auszusprechen, indem man einen der vielen beschreibenden bzw. umschreibenden
Beinamen verwendet, ist lediglich mit Auspeitschung zu bestrafen (B
Sanhedrin 56a).
Nach Mt 26, 64; Mk 14, 62 sagt Jesus: "[…] Ich bin es, und ihr werdet sehen,
wie der Menschensohn an der rechten Seite des Allmächtigen sitzt und mit den
Wolken des Himmels kommt!" Hier hat Jesus sicher Gott gelästert, indem er
sich selbst als Gottes Sohn bezeichnet und von sich behauptet, er werde zur
rechten Seite Gottes sitzen. Indes, das todeswürdige Verbrechen der
Gotteslästerung bestand, wie oben bereits erwähnt, im Aussprechen des Namens
Gottes, der nur einmal im Jahr von dem Hohenpriester im Allerheiligsten des
Tempels ausgesprochen werden durfte. Diesen Namen hat Jesus jedoch nicht
ausgesprochen. Doch nur das wäre mit dem Tode zu bestrafen gewesen (vgl. zum
gesamten Punkt 3 auch C. Cohn: Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht,
S. 140 ff.).>> 4.
Thesen zur Aufrechterhaltung der Theorie eines
jüdischen Prozesses |