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Zu Siras Kritik der rabbinischen Bibelauslegung:
War der Esel so schwach?
Im 4. Teil des
Alfa-Bejtha deBen Sira, dem Dialog zwischen Ben Sira und Nebukadnezar,
beantwortet der Weise die mehr oder weniger sinnvollen Fragen des Großkönigs von
Babylon...
Als
Bsp. die Frage 12:
Und weiter fragte er ihn: "Warum hat ein Ochse kein Haar in seiner Schnauze?"
[Ben Sira] sagte zu ihm: "Als Josua und die Israeliten Jericho umkreisten,
brachte man ihm einen Esel, um auf ihm zu reiten. Er brach aber unter ihm
zusammen.
[Daraufhin brachte man] ein Pferd, und auch das brach unter ihm zusammen. Und
so starben alle Tiere unter ihm weg ob der Fülle seines Gewichts, bis man ihm
einen Ochsen brachte. Und auf dem ritt er und umkreiste mit ihm Jericho.
Als Josua sah, dass er ihn ertrug, da hob er den Kopf jenes Ochsen und küsste
ihn unter seine Schnauze. Und [deswegen] kommt an dieser Stelle weder bei ihm,
noch bei einem seiner Nachfahren, je ein Haar hervor."
Hier sehen wir ein Beispiel für die Anwendung der rabbinischen Methoden, zur
Erschließung der Heiligen Texte, die so konsequent ist, dass er zu
Interpretationen gelangt, die schwer verdaulich sind. Deshalb versucht der Autor
des Alphabets, eine Alternative zu entwickeln: Er zeigt, dass Erzählungen die
Menschen "in Geschichten verstricken", aus denen sie etwas lernen.
Lebenserfahrung ergänzt und erneuert die traditionellen Werte, wenn mit ihrer
Hilfe die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig beispielhaft benannt werden
kann.
Die rabbinische Bibelauslegung folgt dem Grundsatz, dass die Bibel als
Wort Gottes alle Informationen enthält, um sie richtig verstehen zu können.
Daher geht es den Rabbinen darum, aus dem Text der Bibel mit Hilfe von
festgelegten Verfahren, Informationen zu erschließen.
Diese Verfahren sind als die sieben Regeln Hillels, die dreizehn Regeln
Jischmaels und die zweiunddreißig Regeln Eliesers überliefert. Die Wahl der
Regel liegt weitgehend im Ermessen des Anwenders, sofern dieser die Regel
regelgerecht anwendet. In der Wahl der jeweiligen Regel liegt nun eine gewisse
Willkür. Möchte ein rabbinischer Gelehrter einen Bibeltext in einem bestimmten
Sinn verstehen, sucht er die Regel, die es ihm ermöglicht, dieses
Textverständnis zu konstruieren oder zu belegen.
Das Alphabet des Ben Sira zeigt, wie dies funktioniert.
Die zwölfte Frage (s.o.), die Nebukadnezar an Ben Sira stellt, warum ein
Ochse kein Haar unter seiner Schnauze hat, knüpft an die Tatsache an, dass
biblisch wenig über Josua, den Nachfolger Moses, und dessen "Leben" bekannt ist.
Bekannt ist jedoch die Geschichte vom Fall Jerichos. Jericho wird an sechs Tagen
von den Kriegsleuten der Israeliten, sieben Priestern mit Schofarhörnern und von
Josua mit der Bundeslade umrundet. Am siebten Tage stimmen die Kriegsleute ein
Kriegsgeschrei an, die Priester blasen die Schofarhörner und die Stadtmauern
fallen ein.
Das
Alphabet des Ben Sira versucht nun, diese Szenerie zu beleben. Die große, fast
rituell anmutende Anstrengung, die unternommen wird, um die Stadt einzunehmen,
unterstreicht ihre Bedeutung; es muss eine große, reiche Stadt gewesen sein, für
die eine solche Anstrengung lohnte. Wenn die Stadt aber groß war, kann Josua,
der Anführer der Israeliten, diese Stadt unmöglich zu Fuß umrundet haben. Das
hätte zum anderen auch seinen Status vor den Feinden geschwächt, ihn erniedrigt.
Wie aber kann die Bedeutung Josuas den Feinden - und den Israeliten - vor Augen
geführt werden?
Josua ist das kriegerische Oberhaupt der Israeliten, aber kein König, den man an
seinen königlichen Insignien erkennen könnte. Woran erkennt man, dass Josua der
Anführer ist? Um diese Frage zu beantworten, erzählt Ben Sira die Geschichte,
dass kein Tier Josua beim Umrunden Jerichos "ertragen" habe "ob der Fülle seines
Gewichts". Dies ist mehrdeutig formuliert. Gewicht ist im Sinne von "Bedeutung"
zu verstehen, aber auch im Sinne von Körperfülle, die nach unten zieht. Nur der
- ansonsten sprichwörtlich dumme - Ochse habe Josua getragen oder ertragen. Alle
anderen Tiere brechen unter ihrer "Last" zusammen. Dass dies geschieht, verweist
aber darauf, dass Josua sich falsch verhält.
In Ex 23,5 heißt es: "Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last
liegen siehst, so lass ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem
Tiere auf". Nach diesem Vers müssen die Qualen eines unter seiner Last
leidenden Tieres auf jeden Fall gemindert werden. Dies aber geschieht gerade
nicht in Siras Erzählung von Josua, der alle Reittiere unter sich verenden
lässt, ohne dass es ihn weiter stören würde.
Die "Fülle seines Gewichts" lässt Josua (wie so viele Staatsmänner und
Politiker) vom rechten Weg abweichen.
Die Josua Geschichte im Alphabet des Ben Sira unterscheidet sich formal nicht
von anderen rabbinischen Auslegungen von erzählenden Texten der Bibel: Aus der
Geschichte über die Belagerung Jerichos werden Informationslücken über Josua
geschlossen, indem Details aus dem Bibeltext deduziert werden. Die Deduktion
dieser Details folgt nur lockeren Regeln und kann leicht den jeweils gesetzten
Auslegungszielen angepasst werden. Auf diese Weise ist es durchaus möglich,
sowohl Positives als auch Negatives über eine biblische Person zu "erfahren". Es
liegt im Ermessen des Bibelauslegers, wie er eine biblische Geschichte weiter
entwickelt.
Der Autor des Alphabets des Ben Sira sieht in der Freiheit des Exegeten ein
Problem. Der Bibelausleger kann jede nur denkbare Deutung eines Textes
konstruieren. Um diese Willkür einzuschränken, gibt es für ihn nur einen Weg:
Das wörtliche Verständnis der Bibel ist zu ermitteln. Die Erzählung zum siebten
Buchstaben (im letzten Teil des Alphabets des Ben Sira, der die aramäischen
Sinnsprüche Ben Siras kommentiert), verdeutlicht dies. Sie greift in variierter
Form Koheleth 11,1 auf, einen inhaltlich nicht direkt einsichtigen Bibelvers:
"Wirf dein Brot ins Meer, so wirst du es auf dem
Trockenen wiederfinden".
Das im Bibelvers benutzte Wort "Brot", im Hebräischen LeCheM, wird in
der Erzählung zu MeLaCh, "Salz". Beide Wörter unterscheiden sich im
Hebräischen nur durch die Stellung der Buchstaben. Die Vertauschung der
Buchstaben ergibt die sinnvolle Interpretation des Verses: "Wirf dein Salz
ins Meer, so wirst du es auf dem
Trockenen wiederfinden". Dieser Satz beschreibt einen Naturprozess. Wenn
Meerwasser verdunstet, bleiben Salzkristalle übrig.
Der Prophet Elia akzeptiert in der Erzählung diese einleuchtende Interpretation
allerdings nicht. Er korrigiert den Knaben, der diese Auslegung vorbringt, indem
er auf den ursprünglichen Wortlaut hinweist. Nicht um "Salz", sondern um "Brot"
geht es in dem Bibelvers. Der Vers wird durch das Vertauschen der Buchstaben
zwar einsichtig und verständlich, aber der Text des Bibelverses wird diesem
Verständnis geopfert: er wird verändert. Daher verteidigt Elia den wörtlichen
Schriftsinn des Verses.
Dass das wörtliche Verstehen des Verses dann aber zum falschen Handeln führt,
zeigt der Verlauf der Geschichte. Ein Fisch frisst täglich das ins Meer
geworfene Brot, wird dadurch stärker als alle anderen Fische und tyrannisiert
die Schwächeren. Mit diesem Ausgang der Geschichte signalisiert der Autor des
Alphabets des Ben Sira eine folgenschwere Botschaft: Das wörtliche
Schriftverständnis allein ist angemessen und adäquat, aber so verstanden gibt
die Schrift nicht auf jede Lebenssituation eine passende Antwort. Diese findet
der Autor des Alphabets des Ben Sira in einer Ethik, einer Tugendlehre, die den
Menschen mit Hilfe von beispielhaften Geschichten vermittelt, wie man sich in
bestimmten Situationen am besten verhält. Diese Tugendlehre entwickelt er in den
Gesprächen zwischen Nebukadnezar und Ben Sira in Form der Erzählung und mit
Hilfe der Fabel.
Der Autor des Alphabets des Ben Sira verdeutlicht, dass auch das wörtliche
Verständnis der Bibel problematisch sein kann; er zeigt aber in der Antwort auf
Frage 22 (warum der Adler am höchsten fliegen kann), dass das wörtliche
Schriftverständnis dennoch erhebend ist. Das Wort NeScheR, das nur sechs
Mal in der Bibel vorkommt (und daher erklärungsbedürftig ist), kann sowohl als
Nomen (Adler), als auch als Verb ("herausfallen", "abfallen") gelesen werden.
Beide Bedeutungen werden im Alphabet des Ben Sira zu einer Geschichte verbunden,
da das Wort beide Informationen für den Leser bereit hält:
Der Adler, so die Erzählung, war zunächst wie die übrigen Vögel kein
Fleischfresser. Erst als sich ihm ein Vogel in den Weg stellte, kam er auf die
Idee, ihn zu fressen. Zur Strafe "rupften" die anderen Tiere und Vögel seine
Schwingfedern aus ("NSR" (nescher) wird von "ausfallen", nämlich der Federn, als
"der Gerupfte" gedeutet), machten ihn fluguntauglich...