Schabath:
Das Städtchen Bels
Es ist Freitagnachmittag. Das Städtchen Bels, das jüdische
Rom, rüstet sich zum Empfang des Sabbaths.
Die kleinen Städte Ostgaliziens weisen alle seit
Jahrhunderten den gleichen Charakter auf. Not und Schmutz sind ihre
bezeichnendsten Eigenschaften. Ärmlich gekleidete ukrainische Bauern und
Bäuerinnen, Juden mit Schläfenlocken, in zerschlitzten Kaftans, Haufen von
Rindern und Pferden, Gänsen und großen Schweinen, die ungestört auf dem
Stadtplatz weiden. Bels unterscheidet sich von anderen Orten lediglich durch
seine berühmte Synagoge, sein nicht minder berühmtes Lehrhaus und das große
Haus des Belser Rabbi. Diese drei Gebäude schließen den Stadtplatz von drei
Seiten ab. Es sind das ganz einfache Gebäude. Aber in dieser ärmlichen,
verfallenen Gegend der Welt sind sie wirkliche Denkmäler.
Bels hat etwas über dreitausend Einwohner. Die Hälfte von ihnen sind Juden.
Ein langer Sommernachmittag. Noch sechs oder sieben Stunden vor der
Dämmerung, da der Sabbath beginnt und die strengen religiösen Vorschriften
verbieten, auch die leichteste Arbeit zu verrichten. Und doch sind jetzt
schon die Geschäfte geschlossen. Die Schneider legen ihre Nadeln weg und die
Taglöhner - auch sie, wie alle anderen, mit Schläfenlocken - ihre Hacken und
Spaten. In den Häuschen beendet die Hausfrau die Vorbereitungen für den
Feiertag. Die Männer eilen ins Bad. Nach dem Dampfbad tauchen wir - immer
mehrere gleichzeitig - in ein kleines schlammiges Bassin, das eigentliche
rituelle Bad, die »Mikwe«. Wie zum Spott jeglicher Hygiene »reinigen« sich
dort hunderte von Leibern vom Geist des Alltags. Das Wasser, wie überhaupt
alles Wasser in Bels, riecht nach Schwefel und Petroleum.
Wiewohl heute an allen Ecken und Enden so viel Eile ist, weiß
bereits die ganze Gemeinde, dass ein junger Mann nach Bels gekommen ist, von
weither, von Prag. Hunderte von Fragen bestürmen mich von allen Seiten. Ich
stehe verlegen da, weil ich kein Wort verstehe. Niemals habe ich bisher
»Jiddisch« sprechen hören, dieses seltsame Gemenge eines mittelalterlichen
Deutsch mit Hebräisch, Polnisch, Russisch. Erst später habe ich es
allmählich erlernt.
Im Haus des Rabbi leuchten schon die Sabbathkerzen. Ich komme mit anderen
Gästen - es sind deren eine große Reihe -, um den heiligen Mann zum ersten
Mal zu begrüßen. Es war ihm berichtet worden, ich sei jener Prager junge
Mann und man erzählte ihm sogar das große Wunder, dass ich eigenhändig die
Schaufäden an den vier Enden des skapulierartigen Leibchens nach der
komplizierten Vorschrift zu binden verstanden habe. Für dieses Können ruft
er mich noch einmal zu sich. Nochmals, diesmal lange, drückt er mir die Hand
und blickt liebevoll auf mich. Er sieht nur mit einem Auge. Das andere ist
blind. Es ist mir, als käme aus seinem sehenden Auge ein langer Lichtstrahl,
der mein Innerstes durchdringt.
Der Rabbi ist ein stattlicher, hochgewachsener, breitschultriger Greis von
ungewöhnlich patriarchalischem Aussehen. Er trägt einen tadellosen seidenen
Kaftan; auf dem Haupt, wie alle anderen Männer, ein »Schtraml«, das
sabbathliche Barett, von dem ringsum dreizehn kurze, dunkelbraune
Zobelschwänze herunterhängen. (Werktags trägt er die hohe schwere Pelzmütze
des Rabbiners, ähnlich einer Grenadiermütze.)
Auf solche Weise begrüßte den jungen Prager Mann der Rabbi Jisachar Bär
Rokach - Ehre seinem Andenken! Er war ein direkter Enkel des heiligen Rabbi
Schalom und vielleicht der Letzte, der sich an ihn persönlich erinnerte. Er
redet mich mit freundlicher Stimme an. Ich verstehe, dass er mich über
Prag ausfragt. Vor vielen Jahren war er mit seinem Vater dort
gewesen, um in der Alt-Neusynagoge zu beten und das Grab seines berühmten
Vorfahren, des hohen Rabbi Löw, zu besuchen.
Die Belser Synagoge hat sich mittlerweile gefüllt. Hunderte von Kerzen
brennen. Das Innere erinnert mich irgendwie an die Prager Alt-Neusynagoge.
Männer, zumeist hohe, gut gewachsene Gestalten, alte und junge, warten in
stillen Gesprächen auf die Ankunft des Rabbi. Zum Unterschied vom Werktag
sind alle sauber gekleidet. Ihre feiertäglichen, schwarzseidenen Kaftane
reichen bis zum Boden. Die älteren tragen das »Schtraml«. Ein scharfer
Geruch von Tabak geht von ihnen aus, den sie in Dosen bei sich tragen.
Einige dieser Männer sind aus Ungarn hergekommen, andere von noch viel
weiter - aus Russland. Wegen der schlechten Wege pilgerten sie ganze Wochen,
ehe sie Bels erreichten, um hier vielleicht nur einen Tag zu verbringen.
Übermorgen, am Sonntag, begeben sie sich auf ihren mühsamen Rückweg. Zum
nächsten Sabbath werden wieder andere hierher kommen. Die Dämmerung ist
längst hereingebrochen, als der Rabbi in das Bethaus eintritt. Rasch teilt
sich die Menge, um ihm den Weg freizugeben. So dürften sich vormals die
Wasser des Roten Meeres vor Moses geteilt haben.
Mit raschen, langen Schritten geht der Rabbi direkt auf den Altar zu und der
merkwürdige chassidische Gottesdienst beginnt. »Danket Gott, denn er ist
gütig, ewig währt seine Gnade!«
Es sind die Worte des 107. Psalms, mit dem die Chassidim an jedem Freitag
die Ankunft des Schabaths begrüßen. So hat es der heilige Baal Schem
bestimmt, als er auf einer missglückten Wallfahrt nach dem Heiligen Land aus
der Hand von Seeräubern befreit worden war.
Die Anwesenden sind plötzlich wie elektrisiert. Die bis dahin ganz ruhige,
geradezu beklommen harrende Menge bricht in einen wilden Aufschrei aus.
Niemand bleibt an seinem Platz. Die hohen dunklen Gestalten durchmessen den
Betraum und schwanken im Licht der Schabathkerzen hin und her. Mit lauter
Stimme rufen sie die Psalmworte aus, gestikulieren wild und bewegen sich mit
dem ganzen Körper. Sie achten nicht darauf, ob sie an den Nachbar stoßen,
kümmern sich überhaupt um nichts, alles hört für sie auf zu existieren. Eine
unbeschreibbare Verzückung hat sie ergriffen.
Träume ich? - Niemals habe ich Ähnliches erlebt. Oder doch
wohl? ... Bin ich vielleicht schon einmal hier gewesen? . . . Alles ist so
eigenartig, so unfassbar!
». . . der sie aus der Hand des Bedrängers befreit hat. Und aus den
Ländern sie gesammelt hat, von Osten und Westen, von Süden und vom Meer.«
Die Stimme des Alten vor dem Altar dringt über alle anderen hervor - in
großer freudiger Demut und zugleich in einer grenzenlosen traurigen
Sehnsucht, als verschmelze er mit dem Unendlichen; als würde ein Königssohn,
nachdem er sechs Tage eingesperrt gewesen war, nun wieder vor das Antlitz
seines königlichen Vaters treten. Er ist voller Buße und schluchzt ob
unserer Sünden.
»Sie irrten durch die Wüste, auf ungebahnten Wegen; eine bewohnte Stadt
fanden sie nicht; hungrig und durstig, die Seele in ihnen verhüllt.«
Das Gebet des heiligen Mannes hat die Macht, in diesem Augenblick die Seelen
zu erlösen, die wegen ihrer großen Sünden nach dem Tod keine Ruhe fanden und
verurteilt sind, durch die Welt zu irren. Und die »Funken« der heiligen
Weisheit Gottes, die in die Leere gefallen waren, als Gott jene
geheimnisvollen Welten zerstörte, die vor der Erschaffung unserer Welt
bestanden, diese Funken sind jetzt emporgehoben aus dem Abgrund der Materie
und ihrem geistigen Urquell zurückgegeben, dem sie einstens entsprungen
sind.
»Zu Gott riefen sie in ihrer Bedrängnis und aus ihren Ängsten rettete er
sie. Er leitete sie auf geradem Weg in eine bewohnbare Stadt...«
Der Greis vor dem Altar hebt seine Rechte empor, als würde er unsichtbare
Ankömmlinge segnen; als strömte von seinen bebenden Fingern ein heilender
Balsam.
»... auf Schiffen fuhren sie hinaus ins Meer, ihr
Werk zu vollbringen in großen Gewässern ... Er aber sprach und gebot einem
Sturmwind, der die Wogen emporhob. Da steigen sie auf bis zum Himmel,
stürzen wieder hinab in den Abgrund, und ihre Seele vergeht in Angst; sie
taumeln und schwanken wie Trunkene und alle ihre Weisheit ist dahin. Sie
rufen zu Gott in ihrer Not und er führt sie aus ihren Bedrängnissen ... Da
freuen sie sich, dass es stille geworden ist und er sie zum erwünschten
Hafen bringt. Sie preisen Gott für seine Gnade und für seine Wunder an den
Menschenkindern . . .«
Die Gestalt des Greises wirft sich hin und her wie
in Krämpfen. Jedes Beben seines mächtigen Körpers, jedes Zusammenziehen
seiner Muskeln ist durchdrungen vom Preis des Allerhöchsten. Die Handflächen
begegnen, einander zuweilen in mystischem Zusammenschlug.
Die Menge der Frommen wogt und strömt, braust und siedet wie ein glühender
Lavastrom. Plötzlich, wie auf Befehl, bleiben alle stehen und wenden sich
nach dem Westen, nach dem Eingang des Betraumes, das Haupt in Erwartung
gesenkt.
In diesem Augenblick tritt unsichtbar die Königin Schabath ein und bringt
einem jeden von uns die kostbare himmlische Gabe: noch eine, eine neue
feiertägliche Seele.
»Kehre ein in Frieden, Krone des Herrn, in Freude und Jubel, inmitten der
Gläubigen des auserkorenen Volkes! Kehre ein, o Braut, kehre ein, o Braut!«
- - - Der Gottesdienst geht zu Ende. Die Entrücktheit ist vorüber, das
mystische Traumbild ist vergangen. Wir sind wieder in dieser Welt. Aber
diese ganze Welt ist emporgehoben. In den Augen funkeln Witz und Heiterkeit.
Es herrscht eine feierliche, sorglose Stimmung - der Friede der Königin
Schabath.
Wir gehen in Reihen am heiligen Rabbi vorüber und wünschen ihm einen »guten
Schabath«.
Wie hungrig sind wir doch! Das macht die »zweite Sabbathseele« ...
Wir eilen in die Gaststätten, um schnell zu essen und uns noch rechtzeitig
beim Tisch des heiligen Rabbi einzufinden. Am tiefen Himmel der ukrainischen
Steppe leuchten schon längst die Sterne, groß wie Orangen.
Die
Frauen waren nicht im Bethaus. Ihre Pflicht ist es, daheim die heiligen
Sabbathkerzen zu entzünden und die Rückkehr der Männer und Söhne zu
erwarten. Die Frauen selbst kommen erst am Sabbathvormittag in die Synagoge
- auf dem Stadtplatz begegnen wir ganzen Gruppen von ihnen - in
althergebrachter Tracht mit vorherrschend grünen, gelben und weißen Farben.
Aber beachten wir sie nicht zu sehr! Sie könnten das übel auslegen ...
>>> weiter... (wird fortgesetzt)...
Jüdische Wanderung: Ein Prager Jüngling unter Chasidim
Jirí
Langers Einführung in die "Neun Tore"
Mehr über das Buch "Neun Tore":
Das Geheimnis der
Chassidim
Georg Langer war fasziniert von den Chassidim und
sammelte die Geschichten, die in den Gemeinden von den Rabbis erzählt
wurden. So entstand Neun Tore: ein mystisches, geheimnisvolles Dokument des
jüdischen Lebens in Osteuropa...
Friedrich Thieberger über
das Buch "Neun Tore"
Paraschath
Masej:
Wanderungen
Paraschat Masej beginnt mit den Worten „Elu masej
bnej Israel...“, das sind die Wanderungen Israels...
Georg Langer:
Neun Tore - Das Geheimnis der Chassidim
Melzer Verlag, Neu-Isenburg 2004, 335 Seiten, enth. versch. Abb. v.
Roman Vishniac
ISBN 3-937389-38-5, 24,95 €/41,95 sFr
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05-08-2005 |