Recha Freier und Testimonium
Von Shalheveth Freier (Teil 1)
Vor Testimonium
Es ist meine Mutter, über die ich schreibe. Sie und ihr Mann,
Rabbiner Dr. Moritz Freier, hatten vier Kinder, von denen ich das
älteste bin. Wenn ich an meine Brüder und Schwester und an ihre neun
Kinder und Kindeskinder denke, erfüllt es mich mit großer
Befriedigung, dass ich in diese Familie geboren wurde. Wie die Natur
es will, haben Recha Freier und ihr Mann das gemeinsam vollbracht,
und ich meine, es war nicht ihre geringste Leistung.
Als Testimonium 1966 konzipiert wurde, war Recha Freier schon 74
Jahre alt. Es sollte das letzte ihrer bedeutenderen Unternehmungen
sein. Sie wurde 1892 in der Stadt Norden an der Nordsee in eine
orthodoxe und lebensfrohe Familie geboren. Ihr Vater war ein dünner,
langer Mann, ein Lehrer, ebenso in talmudischen Wissenschaften wie
in deutscher Literatur beschlagen. Strahlende blaue Augen schauten
unter einem großen schwarzen Käppchen hervor, und das Gesicht lief
in einen weißen Bart aus. So erinnere ich ihn. Er dachte sich gerne
Geschichten aus, zum eigenen und der Familie Vergnügen, und er
spielte Geige. Ja, die ganze Familie machte Musik, und Recha vor
allem spielte Klavier. Ihre Mutter war Französisch- und
Englischlehrerin und mit der ungewöhnlichen Fähigkeit begabt, lange
Passagen von Gedichten und Prosa in diesen Sprachen auswendig zu
beherrschen.
Recha wurde wie ihre Eltern zur Lehrerin ausgebildet, und sie lehrte
Deutsch, Französisch und Englisch. Einige Zeit, nachdem sie 1919
meinen Vater geheiratet hatte, begann sie sich für die Mythen und
Sagen der Völker rund um den Erdball zu interessieren und nach ihren
gemeinsamen Motiven zu suchen. Ein paar der Charakterzüge, die sie
auszeichneten, wurden damals deutlich. Sie ließ sich von dem
beeindrucken, was sie las und hörte - sie war eine besonders
aufmerksame Zuhörerin und sprach wenig -, doch nahm ihr unabhängiger
Geist von allem Besitz, was sie beschäftigte, und hatte sie sich
einmal eine Meinung gebildet, so war sie auch von ausgewiesenen
Autoritäten nicht einzuschüchtern. Mein Vater erzählte mir, dass sie
besonders scharfsinnige Erläuterungen zu einigen Dramen Shakespeares
geschrieben hatte. Er nahm sie nach London mit, als er Deutschland
1938 verließ, und bewahrte sie im Keller der Finchley-Synagoge auf.
Als eine geplatzte Wasserleitung den Keller überschwemmte, ging das
Manuskript verloren.
Aber zurück zu den frühen zwanziger Jahren. 1921 suchte die
jüdische Gemeinschaft von Sofia einen Oberrabbiner, der orthodox,
Zionist und mit einem säkularen Doktortitel ausgestattet war, damals
eine seltene Kombination. Mein Vater entsprach den Anforderungen,
und er wurde, obwohl aschkenasischer Rabbiner aus Deutschland,
angestellt. Die Eltern lernten Ladino und machten sich nach Sofia
auf den Weg. Vier Jahre später waren sowohl die jüdische Gemeinde
von Sofia als auch mein Vater froh darüber, sich wieder trennen zu
können. Vaters Orthodoxie war zu strikt für den Geschmack der
sephardischen Gemeinde. So verärgerte er sie einmal, als er die
Matzen, die man für Pessach gebacken hatte, nicht gelten ließ. Er
seinerseits fühlte sich nicht Partei in den gewalttätigen Unruhen,
von denen Bulgarien heimgesucht wurde und in deren Verlauf, wie ich
mich erinnere, die Kathedrale von mazedonischen Dissidenten in die
Luft gesprengt wurde. Die Eltern kehrten also 1925 oder 1926 in das
ihnen vertrautere Deutschland zurück, wo Vater später zum Rabbiner
der drei großen orthodoxen Synagogen der jüdischen Gemeinde von
Berlin gewählt wurde.
Bis 1931 war Recha Freier weitgehend in ihrer geistigen Welt
aufgegangen - bis sie mit einer zunehmenden Zahl junger jüdischer
Arbeitsloser konfrontiert wurde, die natürlich auch beim Rabbiner
Hilfe suchten. Es gab Arbeitslosigkeit in Deutschland, doch,
schlimmer, der Geist der schnell wachsenden NSDAP, Hitlers Partei,
begann das Land zu durchdringen und jede Aussicht auf Arbeit für
junge Juden zunichte zu machen. Mit fast unheimlichem Gespür für
kommende Entwicklungen kam Recha Freier - noch zwei Jahre vor
Hitlers Machtübernahme - zu dem Schluss, daß es für Juden keine
Zukunft in Deutschland gab. Gegen den Willen der Eltern und der
jüdischen Gemeinschaft, eine der am solidesten verankerten der
ganzen Welt, begann sie das zu organisieren, was die Jugend-Aliya
werden sollte.
Der Widerstand war gewaltig, selbst seitens eines Teils der
Zionisten. Sie bestand auf der Auswanderung junger Leute nach
Palästina, sogar vor ihrer beruflichen Ausbildung in Deutschland
oder sonst in Europa, der sie sich in Palästina unterziehen sollten.
Sie plädierte dafür, sie sogleich in Kibbuzim und
Genossenschaftsdörfer zu integrieren und sie nicht besonderen
Einrichtungen für Flüchtlingskinder zuzuführen. Sehr kritisch
gegenüber allen öffentlichen Institutionen eingestellt, fühlte sie
sich verpflichtet, alles selbst zu tun. Sie nahm mit
Persönlichkeiten Fühlung auf, die zu finanzieller Hilfe bereit
waren, sowie mit den wenigen Führern der Zionistischen Vereinigung
für Deutschland, der Kibbuz-Bewegung und dem Jischuw, der jüdischen
Gemeinschaft in Palästina, und alle ließen sich von ihrem Engagement
mitreißen. Die erste Gruppe von Kindern verließ Deutschland 1932, im
Jahr, in dem die Jugendaliya gegründet wurde. Das amtliche
Registrierungsdokument wurde am 30. Januar 1933 gezeichnet, am Tag,
an dem Hitler Reichskanzler wurde. Recha Freier vermochte, von ihrem
Mann und ein paar persönlichen Freunden abgesehen, keinen einzigen
prominenten Juden aufzutreiben, der unterschrieb.